Über Glauben und Wissen, Gott und Moderne – Robert Spaemann im Gespräch
Inwieweit spielt die neuplatonische Philosophie mit ihren Lehren von den drei Wesenheiten innerhalb Ihres christlichen Denkens eine prägende Rolle? Kann man mit diesem Denken heutzutage noch philosophieren?
Da stecken schon in der Frage ein paar Dinge, denen ich nicht so zustimmen würde. Zunächst was ist mein christliches Denken? Ich habe das nie auseinander dividiert. Ich würde sagen –mein Denken, denn ob ich die neuplatonische Philosophie einleuchtend finde oder nicht, ist für mein Christentum nicht entscheidend und umgekehrt auch. Das sind zwei verschiedene Dinge. Aber lassen wir das Christliche einmal weg und fragen: Inwieweit spielt die neuplatonische Philosophie für mein Denken eine prägende Rolle? Kann man mit diesem Denken noch philosophieren? Ja, man kann mit jedem Denken philosophieren, das einem einleuchtet. Die neuplatonische Einteilung der Wirklichkeit in drei Stufen, nämlich: Sein als blosses Vorhandensein, Sein als Leben und Sein als Bewusstsein, das scheint mir außerordentlich einleuchtend zu sein. Und meiner Ansicht nach ist es auch ein Fehler im neuzeitlichen Denken gewesen, ein Fehler bei Descartes zum Beispiel, dass der Wille des Lebens keine Rolle mehr spielt, und dass die Wirklichkeit in eine materielle Welt zerfällt, die durch Ausdehnung und durch ein reines Denken definiert ist, also durch ein Subjekt und ein Objekt. Aber Leben, Lebendiges, können wir in dieser Zweiteilung nicht unterbringen. Das Leben ist weder bloßes Vorhandensein – auch ein Leichnam ist vorhanden – noch ist es unbedingt Bewusstsein. Es sind tatsächlich drei Stufen der Wirklichkeit. Und wenn Sie fragen ob man heute noch so denken kann; ich denke ja schon so. Damit haben wir schon ein Beispiel dafür, dass man das kann.
Für welchen Gottesbegriff sehen Sie perspektivisch die größere Chance – für den „Gott der Philosophen“ oder für den „Gott des Glaubens“?
Da hat der große Pascal meiner Ansicht nach ein Unglück angerichtet, als er nicht der Gott der Philosophen, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs schrieb. Aber die klassischen christlichen Denker waren immer der Überzeugung, dass dies nicht zwei verschiedene Götter waren. Wenn Karl Jaspers zum Beispiel von Gott spricht, von dem philosophischen Glauben, dann bekennt er sich damit nicht als Christ, aber das, was er denkt, wenn er Gott sagt, ist ungefähr das, was die Christen auch denken. Es sind zwei verschiedene Zugänge! Ich gebe folgendes Beispiel: Ich habe eine Briefträgerin, die kenne ich nur als Briefträgerin. Ich weiß von ihr fast gar nichts, dann erfahre ich aber durch eines meiner Kinder, das sich in der Schule mit einem Jungen, dem Sohn der Briefträgerin, angefreundet hat, viel mehr von ihr. Denn dieser Junge weiß natürlich eine Menge über seine Mutter, die ich nicht weiß, weil ich sie nur als diese Briefträgerin kenne. So scheint es mir auch mit dem Gottesbegriff zu sein. Ein Gläubiger hat einen lebendigen Zugang zu Gott, er spricht mit Gott, er partizipiert an einer großen Gotteserfahrung, die durch Namen wie Abraham, Isaak und Jakob geprägt ist, aber das heißt nicht, dass dies ein anderer Gott ist. Wenn Kant von Gott oder wenn Jaspers von Gott sprechen, meinen sie nicht etwas anderes als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Wir haben auch denselben Gott wie die Moslems, wir die Christen, obgleich wir über Gott sehr anders denken. Aber wir betrachten ihn auch, also wir Christen, als Schöpfer des Himmels und der Erde und als endgültigen Richter über Gut und Böse. In diesem Punkt stimmt der Gott der Philosophen mit dem Gott des Glaubens überein.
Für Benedikt XVI. ist die Unterscheidung zwischen Person und Individuum wichtig, auch für Ihre wissenschaftliche Arbeit war der Begriff der Person immer zentral. Warum?
Ja, der Begriff des Individuums reicht nicht aus. Löwen und Ameisen sind auch Individuen. Aber der Mensch übersteigt sein Individuum-Sein, das heißt: er kann sich über sein individuelles Interesse erheben und kann den Gedanken eines anderen Wesens denken. Dies kann er berücksichtigen – unter Vernachlässigung vielleicht sogar seines Interesses als Individuum – und darin erweist er sich als Person. Mir fällt gerade die Geschichte vom Krieg zwischen Preußen und Sachsen ein. Da befahl der preußische König einem General, das Schloss in Dresden zu plündern und zu zerstören. Der Offizier weigerte sich, und der König sagte: „Das ist Gehorsamsverweigerung“. Dafür kann ich sie erschießen lassen. Und der General antwortete: „Dem König gehört mein Leben, aber nicht meine Ehre.“ Das ist der Unterschied. Er hat als Individuum natürlich das Interesse zu überleben, aber als Person – er spricht von Ehre –, als Person, weigert er sich das zu tun und nimmt den großen Nachteil für sich als Individuum in Kauf, um sein Person-Sein zu retten.
Was dürfen wir hoffen? Welche Perspektiven sehen Sie für den Glauben in der postmodernen Gesellschaft?
Das ist schwer zu beantworten, was ist denn eigentlich eine postmoderne Gesellschaft? Wenn wir Moderne – mit Hilfe des Vernunftbegriffs – als Aufklärung definieren, dann würde ich sagen, ist die postmoderne Gesellschaft, in der alles geht, in der man experimentell alles machen kann, keine große Perspektive für den Glauben. Der Glaube wird sich in Widerspruch zu einer Herrschaft der Beliebigkeit setzen. Andererseits: Wenn man aber Postmoderne als ein Brechen mit einem verengten, auf die bloße Naturwissenschaft verengten Vernunftbegriff versteht, wenn man also die Vernunft als die Fähigkeit begreift, auch das Andere ihrer selbst zu denken, also das Nichtrationale selbst noch einmal vernünftig zu denken, dann ist die postmoderne Gesellschaft eine Chance für den Glauben. Aber unter dem Begriff der Postmoderne verbirgt sich so vieles, dass die Frage nicht gut eindeutig beantwortet werden kann.
Stefan Groß: Wie läßt sich Ihrer Meinung nach der zunehmende Werterelativismus stoppen? Benedikt XVI. plädiert für eine Überordnung der Ethik über die Politik. Wie stehen Sie dazu?
Prof. Dr. mult. Robert Spaemann: Nun ja, den zunehmenden Wertrelativismus stoppen, stoppen sie einmal irgendeine Art von Denken, wie macht man das? Nur so, dass man selbst anders denkt. Wenn man einmal eingesehen hat, dass der Wertrelativismus etwas ist, was wir letztendlich alle nicht wünschen können, dann werden wir eben anders denken. Wenn die Leute sagen, die Nationalsozialisten hatten eben andere Werte als wir, als sie Auschwitz zuließen, na gut, das ist gegen unsere Werte, aber das waren damals die Werte und das eine ist so gut wie das andere, dann empört sich aber doch etwas in uns dagegen. Den konsequenten Wertrelativismus denken nur wenige Menschen. Es geht nicht um eine Über- und Unterordnung. Das Ethische existiert überhaupt nicht mehr, wenn man es nicht als den letzten gültigen Maßstab betrachtet. Wenn man also sagt, na ja, das ist zwar ganz schlecht und eine Gemeinheit und eine Verräterei, aber politisch gesehen, ist das richtig, müssen wir das jetzt machen? Dann würde ich sagen, nein, das kann nur zu einer katastrophalen Politik führen, wenn die Politik nicht immanente Grenzen hat. Der Offizier, der nicht plündern wollte, ist ein Beispiel dafür. Es sind nicht die Moralisten, die den Politikern sagen, was sie tun sollen. Vielmehr müssen die Politiker selbst ihre moralischen Maßstäbe mit ihrer Politik verbinden; und was heißt ihre moralischen Maßstäbe, das heißt: die moralischen Maßstäbe, denn es gibt nicht beliebige verschiedene Moralen, oder wenn es sie gibt, dann sind sie nicht gleichwertig. Eine Ethik, die darauf verzichtet, der letzte Maßstab zu sein, an dem alles gemessen werden muss, die hat ganz abgedankt. Eine Ethik, die diesen Anspruch nicht erhebt, existiert als Ethik überhaupt nicht mehr.
Können Sie nochmals den Begriff vom Futurum exactum erklären, der eine zentrale Rolle bei Ihrem „letzten Gottesbeweis“ spielt?
Was ich dort ausführlicher behandelt habe, kann ich nicht in wenigen Worten wiederholen, aber ist versuche es. Mein Gedankengang ist einfach der: die Tatsache, dass wir beide jetzt, heute am Montagmorgen, ein Gespräch über solche Fragen führen, dies ist eine Tatsache, die ewig ist, das heißt: wir werden immer dieses Gespräch geführt haben. Es wird nicht irgendwann einmal der Zeitpunkt eintreten, wo die Welt untergegangen, dem Wärmetot zum Opfer gefallen ist, wo man dann sagt, ja, dann ist es auch nicht mehr wahr, dass wir heute hier gesprochen haben. Das ist Unsinn. Den Gedanken könnten wir gar nicht denken. Das etwas, was jetzt wirklich ist, irgendwann einmal –, ja wir können denken, dass es irgendwann einmal vergessen ist, natürlich, dass seine Spuren getilgt sind –, dass, das was irgendwann einmal nicht mehr gewesen ist, das können wir nicht denken. Wir müssen also zum Präsens immer das Futurum exactum dazu denken, es ist und es wird gewesen sein. Und nun stelle ich die Frage, welchen ontologischen Status hat dieses Gewesen-Sein und meine Antwort ist: es hat keinen, wenn es nicht ein absolutes Bewusstsein gibt, in dem alles, was geschieht aufgehoben ist. Wenn es das nicht gibt, also wenn es Gott nicht gibt, dann müssen wir diesen unsinnigen Gedanken denken, dass das, was da ist, irgendwann einmal nicht mehr gewesen sein wird. Wie gesagt, das ist die Abdankung der Vernunft, und Nietzsche hat ganz richtig gesehen, dass die Abschaffung der Gottesidee gleichbedeutend ist mit der Abschaffung des Wahrheitsanspruchs der Vernunft, also mit der Abdankung der Vernunft.
Hat der „Letzte Mensch“, von dem Nietzsche im „Also sprach Zarathustra“ spricht, noch eine Chance? Was können Sie jungen Menschen in einer Welt des anything goes raten?
Der letzte Mensch von dem Nietzsche spricht, ist in seinen Augen etwas ganz Negatives. Der letzte Mensch ist der Mensch, der wie der Erdfloh am längsten lebt. Dies ist der Mensch, der ein wenig arbeiten, sich ein bißchen amüsieren will, ein wenig Drogen konsumieren möchte, aber nicht so viel, damit dies der Gesundheit nicht schadet. Nietzsche gibt also ein Bild vom letzten Menschen, für den es nichts mehr gibt, was einen unbedingten Wert hat. Die letzten Menschen sagen „Was ist Liebe“, Was ist Stern“, aber diese Begriffe sind für sie nur Worte hinter denen gar nichts steht. Man muss sich amüsieren – das ist alles. Und auf die Frage: Hat der „Letzte Mensch […] noch eine Chance“, so muss man sagen, dass er eine sehr große Chance hat. Dies ist bereits bei Nietzsche so. Zarathustra schildert der Menge diesen letzten Menschen und er will ihnen ein abschreckendes Bild geben. Doch die Menge schreit: Zarathustra – gib uns diesen letzten Menschen, wir schenken dir den Übermenschen. Die Mehrzahl der Menschen will ja gar nichts anderes als diesen letzten Menschen. Und insofern hat er große Chancen. Und auf die Frage „Was können Sie jungen Menschen in einer Welt des anything goes raten?“ Ich würde sagen, ich kann ihnen nur raten: hört zuerst auf eure eigene innere Stimme, wenn ihr einmal eine wirkliche Liebe erlebt, denn könnt ihr gar nicht so denken, denn diese hat ihre strenge Gesetzmäßigkeit und sie ist etwas Unbedingtes. Und lasst euch von diesem primären Impuls, dieser primären Einsicht, leiten, vertraut auf euch selbst, lasst euch nicht alles einreden. Heute hat der Mensch, die Menschlichkeit des Menschen, nur noch eine Chance, wenn Menschen bereit sind, selbst zu denken. Aber selbst denken heißt wirklich selbst denken und nicht das glauben, was uns unter dem Wort Selbstdenken verkauft wird. Denn dies ist ja ein großer Betrug, dass man den Menschen einredet, ihr müßt selbst denken, ihr müßt die und die Autoritäten stürzen. Denn es könnte ja auch sein, dass das Selbst-denken dazu führt, dass man bestimmte Dinge nicht stürzt.
Auch in Zukunft wird wieder über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) diskutiert werden, durch einen knappen Entscheid auf dem CDU-Parteitag wurde am Verbot der PID in Deutschland vorläufig festgehalten. Ist mit einem möglicher Zulassung der PID die Büchse der Pandora endgültig geöffnet?
Na ja, was heißt hier endgültig? Es gibt immer noch so einige Fächer in dieser Büchse, die noch immer geöffnet werden können. Gewöhnlich sagt man, wenn man A gesagt hat, muss man auch B sagen. Aber ich halte das für ganz falsch. Es gibt Leute, die sagen A und vor dem B erschrecken sie dann doch. Und dann würde ich hervorheben: vielleicht gibt es ja doch noch eine andere Möglichkeit – statt zu sagen, du musst jetzt B sagen, weil du A gesagt hast. Es gibt noch die Möglichkeit A zu revidieren, weil aus A B folgt und deshalb kann A auch nicht richtig sein. So ist des mit der Präimplantationsdiagnostik (PID). Es ist in der Tat so, dass die Zulassung der Tötung von Embryonen unter dem Gesichtspunkt gesundheitlicher Selektion, dass das tatsächlich einen katastrophalen Weg eröffnet, auch später noch die Selektion vorzunehmen. Es gibt hier viele Inkonsequenzen. Wenn jemand eine richtige Entscheidung getroffen hat, dann soll man dem wünschen, dass er konsequent bleibt, wenn er eine falsche getroffen hat, dann kann man nur wünschen, dass er inkonsequent ist.
Worin sehen Sie die Wurzeln einer Gesellschaft, die immer nach dem Machbaren strebt?
Im Wesen des Menschen. Der Mensch ist eigentlich durch zwei Grundimpulse bestimmt. Das eine ist der Impuls, die Natur zu beherrschen, das Machbare zu machen, um sich auf diese Weise in der Welt selbst zu behaupten. Denn der Mensch ist ein Mängelwesen, der sehen muss, wie er überlebt. Und dieser Wunsch zu Überleben führt zum Streben nach dem Machbaren. Es gibt aber noch einen anderen Impuls, parallel zu diesem, und das ist der Impuls, sich in der Welt beheimatet zu wissen, die Welt nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Objektes unserer Herrschaft zu sehen, sondern unter dem Gesichtspunkt, dass andere Wesen auf irgendeine Weise uns ähnlich sind. Auch ein Tier hat Schmerzen, wenn auch die Cartesianer dies nicht wahrhaben wollen, weil das nicht in ihr Schema Subjekt/Objekt passte. Hierfür muss man nämlich einen Begriff des Lebens haben. Beide Impulse gehören zum Menschen; aber wir erleben heute eine Hypertrophie des Strebens nach dem Machbaren. Alles wird zum Objekt und damit wird der Mensch sich selbst auch zum Objekt. Und er wird schließlich, wenn er sich den Anthropomorphismus in der Betrachtung der Natur verbietet, selber zum Anthropomorphismus, weil er selbst auch zur Natur gehört. Also diese Wurzeln dieses Strebens nach dem Machbaren liegen sehr tief im Wesen des Menschen verankert. Aber man muss sehen, dass dieser Trieb, wenn er sich einfach emanzipiert von dem anderen, dass er dann zu einer unmenschlichen Welt führt.
Was könnte aus Ihrer Sicht Jonas` Gottesbegriff nach Auschwitz entgegengestellt werden?
Ja, warum muss man dem etwas entgegenstellen? Was würden Sie denn als den entscheidenden Punkt von Jonas’ Gottesbegriff ansehen?
Ich denke an einen deistischen Gottesbegriff, der letztendlich, nach Auschwitz, in einer negativen Theologie kulminiert. Nach Auschwitz müsse man Gott, so Jonas, seine Attribute absprechen, er hat sich in die Verborgenheit zurückgezogen, statt Gottesnähe nunmehr Gottesferne.
Ich denke nach Auschwitz gibt es keinen anderen Gottesbegriff als vor Auschwitz. Auschwitz ist nur die gigantische Vergrößerung eines Problems, das man schon hat, wenn ein Kind von einem Bösewicht zu Tode gequält wird. Da haben sie dasselbe Problem wie Auschwitz, wo das millionenfach geschehen ist. Aber wenn es einmal geschieht, ist das Problem genau das gleiche. Und insofern erlaubt uns Auschwitz die Frage noch klarer zu stellen, noch dringlicher zu stellen, aber etwas Neues ist es natürlich nicht gegenüber dem, was ich eben nannte. Die Frage, die dann in Bezug auf Gott auftaucht, die endet so wie das „Buch Hiob“. Die Frage an Gott bleibt zunächst einmal unbeantwortet. Die Gläubigen haben immer gesagt, die Wege Gottes sind uns verborgen. Es gibt Gründe am Gedanken Gottes festzuhalten. Der christliche Glaube sagt, dass alle Tränen getröstet werden. Am Ende Sorge machen muss man sich um die Seele der Täter, wenn die nicht eine radikale Wende machen, dann sind wir verloren. Die Opfer von Auschwitz sind nicht endgültig verloren. Aber das ist es, was der Glaube sagt; und nur er sagt es vor Auschwitz und er sagt es nach Auschwitz. Mich hat es tief bewegt, als der Papst in Auschwitz war und dann ganz spontan ein Gebet sprach. Ich weiß, dass er es spontan sprach und nicht vorher fixiert hat und da einfach die große Warum-Frage an Gott richtete, ohne eine Antwort zu geben. Für den Gläubigen, auch für den gläubigen Juden, ist es letztendlich keine Erschütterung seines Gottesbegriffs. Es gibt einen Fund einer Aufzeichnung von einem Juden, der auch später umgebracht wurde, der dort zu Gott sagt: Gott, du kannst machen was du willst, du wirst es nicht schaffen, dass wir aufhören an dich zu glauben und dich zu lieben.
Im Gespräch mit Bernhard Vogel
Herr Prof. Dr. Vogel, wie sehen Sie derzeit als Politiker den Stand Ihrer Partei?
Im Augenblick mit einer gewissen Gelassenheit, weil sie im Gegensatz zur Konkurrenz relativ eindeutig ihren Standort gefunden hat und von diesem her Politik betreibt. Dies kann sich jedoch morgen auch wieder ändern.
Warum sind Ihrer Meinung nach 2010 so viele Ministerpräsidenten aus dem Amt zurückgetreten und auf lukrative Wirtschaftsposten gewechselt? Ist etwas dran an der Null-Bock-CDU?
Nein, das ist ein Zusammentreffen völlig unterschiedlicher Gründe und Anlässe gewesen. Und hier muß man sich von einem zu raschen Urteil hüten. In einem Fall hat ein Ministerpräsident die Wahl verloren und daraus verständlicherweise die Konsequenz gezogen. In einem anderen Fall hat ein Ministerpräsident erkannt, daß er nicht mehr der geeignete Spitzenkandidat für die nächste Landtagswahl sein würde und daraus die Konsequenz gezogen. In einem dritten Fall ist ein Ministerpräsident zum Bundespräsidenten gewählt worden; dies kann man ja wahrhaftig nicht als Rückzug oder als Flucht empfinden. Im Übrigen begrüße ich es, wenn in Deutschland der Wechsel von Politik zu Wirtschaft, von Wirtschaft zu Politik, auch übrigens von Wissenschaft zu Politik, selbstverständlicher würde als das bisher der Fall gewesen ist, in Amerika ist das die Regel.
Hat sich das Wählermilieu der CDU verändert? Wie christlich ist die Union?
Das Wählermilieu hat sich selbstverständlich verändert, die Wähler haben sich verändert, und auch der Bezug der Union zum Christentum hat sich insofern verändert, als die Wähler der CDU vor fünfzig Jahren überwiegend aus regelmäßigen Kirchenbesuchern bestanden. Heute ist die Mehrheit der Mitglieder der beiden christlichen Kirchen nicht mehr sonntäglicher Kirchenbesucher. Folglich hat sich auch das Wählermilieu verändert, aber geblieben ist die Programmatik der CDU, das eindeutige Bekenntnis zum christlichen Menschenbild und zum Kernsatz des Grundgesetztes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Nach Ihrem Rücktritt als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz haben Sie ihre spätere Rückkehr in das Amt hier in Thüringen dann als Genugtuung empfunden?
Für die Übernahme der Verantwortung hat das nicht die geringste Rolle gespielt, sondern hier galt es aus der einmaligen historischen Situation heraus sich zu entscheiden und zu handeln. Daß dann später, nach Jahren, auch ein Stück Genugtuung – nachdem doch ziemlich schändlichen Abschied in Rheinland-Pfalz – vorhanden gewesen ist, will ich nicht leugnen.
Was hat Sie primär daran gereizt, 1992 nach Thüringen zu kommen?
Die Überzeugung, daß ich das Glück hatte sechzig Jahre auf der Sonnenseite Deutschlands, in Westdeutschland, zu leben. So war es selbstverständlich, jetzt den Menschen in der DDR zu helfen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg viel schwerer als wir Westdeutschen hatten. Wenn diese Menschen Hilfe benötigten und erbaten, dann mußte man bereit sein, diese im Rahmen der eigenen Möglichkeiten auch zu leisten.
Wie beurteilen Sie über 20 Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze die Lage im Land? Sehen Sie im Osten wie Arnulf Baring eine demoralisierte Gesellschaft?
Davon kann keine Rede sein, schon gar nicht in der jungen Generation. Zwanzig Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze treten wir in eine Phase der Normalisierung ein, mit allen Mühen der Ebene, mit allen Sorgen und Problemen die dazugehören, aber auch mit der geglückten Ankunft Deutschlands in normalen Verhältnissen. Nach dem Abschied von der schrecklichen Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auf der einen Seite und der Zeit der deutschen Teilung nach 1945 auf der anderen.
Viele ostdeutsche Bundesbürger kritisieren die Politik, sind politikverdrossen, gehen nicht wählen, fühlen sich bevormundet; eine Vielzahl wünscht sich gar die Mauer zurück. Empfinden Sie sich bei solcher Rede ungerecht behandelt?
Zunächst beunruhigt mich in der Tat vorhandene Politik- und auch Politikerverdrossenheit in West wie in Ost. Sie hat Gründe, im Übrigen nicht nur bei den Parteien und den Politikern, dort auch, aber auch darin, daß insgesamt die Menschen heute vor einer Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, in den Sportverbänden, in anderen Organisationen, ja auch in den christlichen Kirchen eher Zurückhaltung üben, ihre Dienste zwar in Anspruch nehmen, aber viel weniger wie früher bereit sind, selbst dort, und sei es auch nur ehrenamtlich, tätig zu werden. Davon, daß viele Menschen in Ostdeutschland sich die Mauer zurückwünschen, kann im Ernst keine Rede sein. Richtig ist, daß wie immer in der menschlichen Erinnerung gelegentlich eine nostalgische Betrachtung der Vergangenheit um sich greift, die vergißt, was schlecht gewesen ist.
Wie interpretieren Sie den Linksruck in den neuen Bundesländern?
Den kann ich eigentlich nicht sehen. Ich sehe nur, daß es bedauerlicherweise der SPD in den neuen Ländern nach 1989 nicht gelungen ist, an ihre alte Position etwa in Sachsen und Thüringen anzuknüpfen, daß sie sich sehr schwer getan hat, ein flächendeckendes organisatorisches Mitgliedernetz aufzubauen, und daß ein Teil der Wählerschaft der SPD nicht von ihr, sondern von ihrer linken Konkurrentin angesprochen wird.
Gibt es das Ost-Gen, eine spezifische Eigenschaft, die Sie an den Bürgern hier schätzen?
Ich schätze viele Eigenschaften an den Bürgern hier. Das ist aber kein Ost-Gen, sondern das ist eine Frucht der erlebten letzten fünfzig oder sechzig Jahre, zu denen beispielsweise gehört, daß in den Regionen der DDR, weil man eingesperrt war, weil man sich auch im Land weniger bewegen konnte, mehr gelesen, mehr Musik gehört, mehr Musik gemacht worden ist, man sich mehr mit Geschichte befaßt hat als im Westen. Ein spezielles Gen ist das nicht.
Zwanzig Jahre nach der Wende scheint es, daß sich die Kluft zwischen Ost und West wieder verbreitert. Sehen Sie darin lediglich ein Generationsproblem?
Ich kann nicht sehen, daß die Kluft sich vergrößert, sondern ich habe den Eindruck, daß in den jüngeren Generation davon keine Rede mehr sein kann und ich beobachte dies an den deutschen Universitäten, etwa in Jena, wo der Anteil der Studenten aus Westdeutschland von Jahr zu Jahr steigt. Bei der älteren Generation ist das in der Tat ein Problem, das sich vollständig, wegen der unterschiedlichen Lebenserfahrungen, nicht aufarbeiten läßt. Und ich meine, es wäre mehr Respekt gegenüber den unterschiedlichen Lebensläufen in West- und Ostdeutschland angebracht.
Wie kann man dem Dilemma von HARTZ IV in unserer Gesellschaft begegnen?
Indem man zunächst die Frage beantwortet, ob Hartz IV ein Dilemma ist. Die Reform, die damals von fast allen politischen Kräften im Kern mitgetragen worden ist, war wohl unumgänglich notwendig. Daß die Umsetzung Mängel und Fehler aufweist, und daß hier Korrekturen notwendig sind, ändert nicht die Tatsache, daß Hartz IV im Kern richtig und notwendig geworden ist.
Immer wieder wird den Politikern in jüngster Zeit vorgeworfen in einer Parallelgesellschaft zu leben. Haben die Kritiker hier recht? Was bedeutet politische Verantwortung für Sie?
Es mag sein, daß einige Politiker sich nicht hinreichend Mühe geben, die politische Realität des Alltags vollständig zu erkennen. Politische Verantwortung bedeutet für mich, daß man auf die Bürger zugeht, daß man zur Kenntnis nimmt, was sie sagen und was sie wollen. Politische Verantwortung bedeutet aber für mich ebenso, daß man den Bürgern Ziele vorgibt und für die Durchsetzung und Akzeptanz dieser Ziele wirbt.
Haben Sie einen Lieblingsphilosophen oder -philosophie? Welches war Ihr schönstes Leseerlebnis?
Wenn es denn sein muß, würde ich als Eckphilosophen des Abendlandes überhaupt Aristoteles nennen, und was Leseerlebnisse betrifft, die Bücher von Thomas Mann, „Buddenbrooks“, „Felix Krull“, aber auch seine „Tagebücher“.
Was wünscht sich Herr Prof. Dr. Bernhard Vogel für die nächsten zwanzig Jahre nach der Deutschen Einheit?
Daß in zwanzig Jahren nicht mehr von Wessis und Ossis, und vielleicht auch nicht so intensiv von „Südis“ und „Nordis“ gesprochen wird, sondern daß die Zeit der deutschen Trennung als eine überwundene Nachkriegsepoche gesehen wird, und daß man gemeinsam an die Lösung der dann sicher auch reichlich auf der Tagesordnung stehenden Probleme geht.
Im Interview mit Petra Roth: Metropolen entscheiden über unser Überleben
…. eine Reform des Föderalismus, was haben Sie dabei vor Augen?
Petra Roth: Wir sollten uns genau ansehen, ob die Verfasstheit der Bundesrepublik und die Verfasstheit Europas wirklich gut zusammen passen. Da habe ich meine Zweifel. Europa orientiert sich an den Metropolregionen, die Bundesrepublik an den Ländern. Nehmen Sie die Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main und das Land Hessen. Die Metropolregion reicht bis Mainz und Aschaffenburg und ist damit ganz anders geschnitten als das Bundesland. Die Wirtschaft orientiert sich an Europa, so sind Handwerker und andere Dienstleister beispielsweise von Frankfurt aus auch in Richtung Baden-Württemberg unterwegs.
Welche Rolle spielt die Metropole?
Petra Roth: Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, spielen die Metropolen eine entscheidende Rolle. Nehmen Sie die Energiewende, der nach der Katastrophe von Fukushima politische Priorität zukommt. Sie zu meistern, kann nach meiner Überzeugung nur von den Metropolen aus gelingen. Unter der Maßgabe der Nachhaltigkeit muss Kommunalpolitik, die bürgerliche Stadtpolitik sein will, einen Maßstab für das eigene Handeln finden.Wenn wir beispielsweise über Frankfurt am Main als Green City reden, geht es darum, in der Gewissheit großer Verantwortlichkeit Maßstäbe für unser an der Zukunft orientiertes kommunalpolitisches Handeln zu entfalten.
Bildung ist immer wieder?
Petra Roth: Bildung heißt zuallererst: Erziehung zur Nachhaltigkeit. Dauerhaftigkeit lässt sich nur schaffen, wenn wir kein Talent verloren geben. Alles andere wäre gerade im Hinblick auf den demografischen Wandel eine große Dummheit. Nach persönlichem Leistungsvermögen, nach individuellen Interessen und nach bestehenden Potenzialen müssen wir Bildungswege skizzieren. Also gilt es, die Familien zu stärken. Dafür gibt es gerade in Städten wie Frankfurt am Main gute Ansätze, um Kindertagesstätten zu Familienzentren zu machen und Kurse wie „Mama spricht Deutsch“ anzubieten. In diesem Zusammenhang halte ich es für ein überaus lohnendes Unterfangen, über Weiterentwicklungen unseres Bildungsangebots nachzudenken. Denn außer Frage steht: Städte, die wachsen wollen, müssen über ein ansprechendes Angebot für Ausbildung und Weiterbildung verfügen.
Haben wir aus den Städten heraus eine Kulturrevolution zu erwarten?
Petra Roth: Nein, keine Kulturrevolution, wohl aber einen rasanten Wandel, um Antworten auf die klimatische nicht anders als auf die demografische Frage zu finden. So lassen sich für Frankfurt am Main beispielsweise fünf strategische Pfade der „Nachhaltigen Stadt“ skizzieren, die sich in einem Leitbild „Frankfurt 2030“ bündeln ließen: Die internationale Bürgerstadt Frankfurt am Main bietet ihren Bürgern eine gute Lebensqualität, sorgt für den Zusammenhalt ihrer Bürger, macht ein ausgezeichnetes Bildungsangebot, bietet Arbeitsplätze für sämtliche Branchen und gehört in den Bereichen Kultur und Sport zu den führenden Plätzen in Europa. Zu unseren Leitprojekten zu zählen ist der Kulturcampus Frankfurt, den wir als Modellquartier des 21. Jahrhunderts entwickeln wollen. Arbeiten, Wohnen und Kulturelles sollen dort auf eine Weise zusammengehen, die den Bewohnern und Nutzern ein Vergnügen ist. Die Frankfurter, die künftig in diesem energieeffizienten Quartier leben, sollen das Gefühl haben, gerne dort zu leben. Kultur und Natur, um die sich Forscher im benachbarten Senckenbergmuseum kümmern, könnten in dem Viertel eine eigenwillige Auseinandersetzung miteinander finden. Mit diesem Projekt stehen wir vor einer neuen Epoche der Stadtgeschichte. Wenn die Goethe-Universität erst ihren alten Campus verlassen hat, könnten Musiker, Tänzer, Schauspieler und andere Kulturschaffende eine gewaltige Sogwirkung entfalten, wenn sie sich in dem neuen Quartier ansiedeln. Wir wollen dort ein Modell entwickeln: Als vorbildlicher Stadtteil, als entwicklungsfähiger Standort für Künstler, als ökologisch wertvolles Quartier. Wir bauen den neuen Campus als entwicklungsfähigen Standort für Künstler. Mit der Musikhochschule, dem Ensemble Modern, den Tänzern der Forsythe Company und des Mousonturms, den Theaterleuten von Heiner Goebbels, den Kreativen des Frankfurt LAB und den Denkern des Instituts für Sozialforschung schaffen wir ein unvergleichliches Panorama der Kreativität. Mit diesen Künstlern versammeln wir die tonbestimmenden Kulturschaffenden unserer Tage, um sie im Sinne einer Bildung zur Nachhaltigkeit zu beanspruchen. Damit unterstreichen wir in Frankfurt unseren Anspruch, Marktführer der zeitgenössischen Kultur zu sein.
Ökologische Modernisierung?
Petra Roth: Frankfurt strebt an, Green City zu werden. Wir sind auf gutem Wege, dieses Projekt wird uns gelingen, als Hauptstadt des Passivhauses setzen wir europaweit Maßstäbe. Gerade bei Projekten dieser Größenordnung kann man aufDauerhaftigkeit nicht verzichten. Doch Kontinuität allein reicht nicht. Nachhaltigkeit braucht auch Impulse, leidenschaftliche Impulse jenseits allen Verwaltungshandelns. Diese Dinge brauchen Anschub unter dem Vorzeichen, auf Dauerhaftigkeit zu zielen.Anschub, der über die Grenzen einzelner Ressorts hinweg geht. Anschub aus der Perspektive eines über den Dingen stehenden Vogels, der wahrnimmt, an welchen Ecken sich noch Lücken im Netz der Energieversorgung auftun. Zu den Leitprojekten für die Idee „Green City“ gehört die energieeffiziente Sanierung in die Jahre gekommener Siedlungen. Mein Beispiel ist die Heinrich-Lübke-Siedlung im Stadtteil Praunheim, Frankfurt am Main. Das Quartier stammt aus den 70er Jahren. Diese Siedlung wird künftig ein Modellquartier, in dem wir alteingesessenen Bewohner modernen Wohnraum bieten und den Zuzug in einer um Wohnraum ringenden Stadt attraktiv machen.
Interview mit Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin – Die Zukunft der Philosophie
Die Tabula Rasa hat auf dem XXII. Kongress für Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie mit ihrem Präsidenten, Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D., gesprochen.
Herr Prof. Nida-Rümelin: Was kann die Philosophie in Zukunft leisten?
Die Geisteswissenschaften sind gegenwärtig durch die Reformen an den Universitäten unter Druck geraten. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich fürchte, zumindest sehe ich darin eine Gefahr, dass sich hier eine Entwicklung wiederholt, wie sie aus den USA ziemlich vertraut ist, d. h. dass die harten Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, aber auch die social sciences im Sinne einer harten Wissenschaft sehr stark dominieren, und dass die Geisteswissenschaften eher eine schmückende Nebenrolle bekommen. In den USA sind die humanities, gut finanziert, weil sie für das Grundstudium nötig sind, aber sie sind hoch ideologisiert, stärker als in Europa und in Deutschland, sie sind sehr stark von einer spezifisch postmodernen Sichtweise geprägt. Und sie werden nicht so ernst genommen wie man sich das wünscht. In Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland gibt es eine große geisteswissenschaftliche Tradition, dies ist etwas anderes als die humanities in den USA, was man daran erkennt, dass die Philosophie nicht zu den humanities zählt.
Die Geisteswissenschaften spielen hier in Deutschland, die Geschichtswissenschaft, die Altertumswissenschaft, aber eben auch die Tradition der philosophisch-historischen Forschung eine ganz zentrale Rolle. Hierbei haben Sprachen wie Griechisch, Latein und andere eine ganz wichtige Funktion, was so in den USA nicht angenommen werden kann, weil nur ein geringer Teil der Lehrenden und Lernenden eine Fremdsprache behrrscht.
Ich finde diese Tradition einer starken Geisteswissenschaft in Europa, die auch für die kulturellen Einrichtungen, für Museen, Theater, Dramaturgen zum Beispiel, Feuilletondebatten eine Relevanz hat, dürfen wir nicht aufgeben. Die jetzigen Reformen haben gewissermaßen den Fehler wiederholt, den Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts, aus damals nachvollziehen Gründen gemacht hat, nämlich ein Paradigma von Wissenschaft aufzustellen, für Humboldt war das die Philosophie – bei allem Respekt den er gegenüber den Naturwissenschaften hatte. Für die jetzigen Reformer sind, meist ist ihnen das kaum bewusst, das die „life sciences“ als Paradigma von Wissenschaft. Entsprechend werden die Forschungsevolutionen umgestellt und auch die Kriterien: So werden nur noch englischsprachige Publikationen anerkannt, nur noch Paperpublikationen und keine Buchpublikationen, zumal keine deutsprachigen, von Tagungen und Proceedings ganz zu schweigen. Dass alles legt die Axt an eine gewachsene Wissenschaftskultur, die für die Philosophie von großer Bedeutung ist.
Ich muss jedoch ein „Aber“ hinzufügen. Auf der anderen Seite steht die Philosophie derzeit besser da als manch andere Geisteswissenschaft. Beispielsweise ist die deutsche Indologie weltweit führend – anerkanntermaßen, trotzdem ist sie massiv unter Druck geraten, muss um ihr Überleben kämpfen. Diese Herausforderung stellt sich für die Philosophie interessanterweise nicht. Im Gegenteil: es scheint so zu sein, dass das öffentliche Interesse an normativen Fragen zunimmt, also an Medizinethik, an Gerechtigkeitsfragen, an normativen Fragen der ökologischen Praxis, an Fragen der internationalen Politik, am Kosmopolitismus, aber auch das Interesse daran, überhaupt zu verstehen, was die Wissenschaft, die Einzelwissenschaft, zu einem in sich schlüssigen Weltbild beiträgt. Hier ist also auch die Philosophie gefragt, gerade bei der Interpretation neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse beispielsweise. Wenn man all dies ohne Philosophie versucht, kommt man rasch auf Abwege.
Von daher ist die Philosophie – im Hinblick auf das öffentliche Interesse – gut aufgestellt. Die Wissenschaftspolitik scheint darauf auch zu reagieren und die Philosophie nicht abzuwickeln. So konnten wir in diesen schwierigen Zeiten beispielsweise in München sogar zusätzliche Lehrstühle einrichten.
Wie kann die Philosophie praktisch werden, dass sie konkret im Alltag Eingang findet? Theoretische Reflexion im Rahmen der praktischen Philosophie beispielsweise sind ja noch nicht praxisrelevant, bzw. strukturieren und verändern den Alltag nicht.
Da muss ich erst einmal mit einer Warnung beginnen. Es gibt eine Erwartung, die die Philosophie nicht erfüllen kann und auch nicht den Eindruck erwecken darf, sie könnte sie jemals erfüllen. Wenn man zum Beispiel im 14. Jahrhundert Probleme mit anderen Menschen und mit der Gestaltung seines Lebens hatte, oder gar das Gefühl hatte, eine Sünde begangen zu haben, ging man zum Priester. Und der Priester gab einem – stellvertretend für Gott – eine klare Antwort, entweder indem er die Sünde vergab oder Strafen auferlegte. Diese jahrhundertealte kulturelle Praxis ist nicht vergessen, viele Menschen wünschen sich diese auf irgendeine Weise zurück.
Für viele, nicht für alle, ist heutzutage aber klar, dass die Kirchen diese Rolle nicht mehr wahrnehmen können, weil diese nicht besonders qualifiziert erscheinen, moralisch schwierige Fragen zu beantworten. Dies zeigte sich beim Mißbrauchsskandal und bei der Hilflosigkeit damit angemessen umzugehen, aber auch bei der Frage nach dem Kondomverbot in Zeiten von Aids.
In dieser Situation kommt nun die Erwartung auf, dass es eine Instanz geben müsse – und dies sei die Philosophie. Davor warne ich. Die Philosophie darf nicht die Rolle des Priesterstandes vergangener Zeiten übernehmen, sie ist selber pluralistisch aufgestellt. So gibt es Gentechnikbefürworter und -gegner, Befürworter von PID und -gegner – das hängt zum Teil eng mit weltanschaulichen Prägungen zusammen. Es gibt nicht die eine Theorie in der Philosophie, die alle diese Dinge und Fragen restlos klärt. Die spezifische Kompetenz der Philosophie ist logische, gedankliche, begriffliche Klarheit, d.h. sie kann zum Beispiel – um beim Thema PID zu bleiben – darauf hinweisen, das es nicht logisch ist, dass man die Menschenwürde an den Beginn stellt, also die befruchtete Eizelle vom ersten Tag schon mit Würde und mit allem was dazugehört ausstattet und zur gleichen Zeit der Meinung ist, dass eine Verhütung mit Hilfe der Spirale (die die befruchtete Eizelle an der Nidation hindert) moralisch unproblematisch ist. Wenn diese Praxis legitim, moralisch unbedenklich ist, kann es nicht sein, dass am ersten Tag nach der Befruchtung der Eizelle schon die volle Menschenwürde vorhanden ist. Hier muss man aus logischen Gründen insistieren, sich für das eine oder für das andere zu entscheiden, beides nebeneinander anzunehmen, geht nicht. Wie der Status der befruchteten menschlichen Eizelle nun am Ende ist, kann die Philosophie – auf sich gestellt – allein nicht klären.
Was haben wir unter einem Humanismus als Leitkultur zu verstehen? Was sind Elemente dieses neuen Humanismus, Werte und Normen?
Dies war ein provokativer Titel eines Buches von mir, der 2006 bei C.H. Beck erschienen ist. Einst war ich mit diesem Titel des Buches nicht glücklich, unterdessen stehe ich voll dahinter.
Es ist ein Irrtum zu meinen, dass allein Rechtstreue ausreicht, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Natürlich wird diese Gesellschaft durch ein gemeinsames Ethos, eine gemeinsame Praxis zusammengehalten. Da gab es, eine der wenigen Punkte eines inhaltlichen Dissenses mit Jürgen Habermas, der jedenfalls früher der Auffassung war, Verfassungspatriotismus reicht aus, mehr Verbindlichkeit ist nicht erforderlich.
Ich glaube, wenn der alltägliche Umgang nicht von der Anerkennung des Anderen, von einer diskriminierungsfreien Anerkennung, geprägt ist –, wenn junge Mädchen beispielsweise erzogen werden, ihren älteren Brüder und ihrem späteren Mann bedingungslos zu gehorchen, oder wenn Menschen aufstehen, wenn sich ein Farbiger in der Straßenbahn neben sie setzt, dann ist dies zwar kein Straftatbestand und keine Rechtsnorm – ist dies unvereinbar mit einer Demokratie. Und deswegen ist es nicht zutreffend, dass liberalistische Theoretiker, zu denen Rawls und Habermas zählen, meinen, dass die Moralität von der Ethik, von der Lebensform, von den Normen und Werten der Lebensform unabhängig ist. Es gibt einen Zusammenhang.
Allerdings – die Demokratie ist so aufgestellt, dass dieser Zusammenhang immerhin eine große Vielfalt, nicht Beliebigkeit, aber ein breites Spektrum von Lebensformen zulässt, wenngleich sie nicht jede Lebenshaltung toleriert. Sklavenhaltung im Privaten geht nicht, dies ist eine Verletzung der Rechtsnorm. Der Liberalismus kann sich nicht so aus der Affäre ziehen, dass er sagt, in der politischen Sphäre geht es um andere Dinge, da geht es nicht um moralische Fragen, sondern nur noch um einen besonderen Aspekt nämlich den der Gerechtigkeit, dies ist der späte Rawls. Es geht um viel mehr. Die Demokratie hat Wahrheitsansprüche, Demokratie und Wahrheit, ein anderer Buchtitel von mir nicht zufällig so gewählt. Wenn wir nicht fest davon überzeugt sind, dass Menschen Rechte haben, unabhängig davon, ob diese Rechte akzeptiert sind, unabhängig davon, ob man zu einer Gemeinschaft gehört, die diese Rechte kulturell entwickelt hat, haben wir große Probleme, denn dann kann man beispielsweise gar nicht mehr kritisieren, wenn zum Beispiel in bestimmten Regionen Afrikas Albinos so schrecklich behandelt werden – das ist dort ja eine kulturelle Praxis! Oder warum Mädchen beschnitten werden, um als erwachsene Frauen gelten zu können, die Mütter wollen das so! – was wollte man noch dagegen sagen können, wenn man nicht in der Hinsicht moralischer Realist ist und hervorhebt, solche Rechte seien unabhängig von jeweiligen Praktiken, der Anerkennung. Die Demokratie, so mein Vorschlag, ist nichts anderes als die Staatsform, die die Menschenrechte ernst nimmt, einschließlich des Rechts auf Zugehörigkeit, auf Gemeinschaft, auf Solidarität, auf kulturelle Entwicklung, nicht nur die individuell-liberalistischen Rechte des 19. Jahrhunderts.
Sie plädieren dafür, den Philosophieunterricht in den Schulen zu integrieren. Was erhoffen Sie sich davon konkret? Ethische Fragen und philosophisches Räsonieren zählen, zumindest unter Schülern, nicht gerade zu den Themen, die auf der Agenda ganz oben stehen?
Es gibt eine Anomalie, eine deutsche Anomalie. Deutschland ist, der deutsche Sprachraum in Europa, und dies kann man ohne chauvinistischen Unterton betonen, für die Philosophie der letzten dreihundert Jahre von zentraler Bedeutung. Es wäre nicht einmal übertrieben zu sagen, dass mehr als die Hälfte der philosophisch-relevanten Literatur von deutschen Autoren geschrieben wurde. Dies beginnt mit Wolff und Leibniz, mit Kant und seiner Schule, mit Fichte, Schelling, Hegel, mit den Neukantianern des 19. Jahrhunderts, mit der Phänomenologie, mit Husserl, Weber, Heidegger, Wittgenstein. Aber auch mit Gottlob Frege, einer der Gründerväter der analytischen Philosophie, ist ein deutsprachiger Autor, der Wiener Kreis ist deutsprachig. Viele von diesen Intellektuellen und Juden sind in der Nazizeit in die USA emigriert. Die USA war jahrzehnte lang durch diese deutschsprachigen Emigranten geprägt. Carnap wurde über einige Jahrzehnte zur Zentralfigur der amerikanischen Philosophie, ein Österreicher von Herkunft, aber auch sein Gegenspieler Karl Popper – vergleichbar wichtig in der Wissenschaftstheorie. Die Ostküstenintellektuellen haben, zum großen Teil europäischer, deutsprachiger Provenienz, viele Juden darunter, zu einem Heraustragen von Impulsen, die aus dem deutschsprachigen Raum in die Weltphilosophie gekommen sind, wesentlich beigetragen.
Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt nicht zu begreifen, es ist eine deutsche Anomalie, dass die Philosophie, die für die deutsche Kulturgeschichte so zentral ist, dass diese Philosophie in den Schulen eine so beklagenswerte Randrolle spielt. Das ist im gesamten lateinischen Sprachraum anders. Die Philosophie ist in Frankreich genauso wichtig wie Mathematik oder Französisch, in Italien ist sie ein zentrales Fach in den Schulen. Südamerika, Argentinien, Brasilien – überall dort spielt die Philosophie eine zentrale Rolle in den Bildungseinrichtungen. Dies erklärt vielleicht, warum wir hier in Deutschland in öffentlichen Debatten oft ein Zugangsproblem haben, man kennt das nicht so wie in Frankreich, Italien, Spanien aus dem Schulunterricht, auch in den slawischen Ländern spielt die Philosophie übrigens eine größere Rolle.
Das muss man dringend korrigieren, nicht um ein weiteres Fach dazuzufügen, die Fächervielfalt ist schon schwierig genug unter einen Hut zu bringen, sondern um eine Disziplin an den Schulen zu etablieren, die genau das leistet, was Bildungsforscher fordern, die Integration. Wir haben eine Desintegration durch den getakteten Dreiviertelstundenunterricht, die Schüler bekommen den falschen Eindruck, dass alles unabhängig voneinander ist. Dabei hängt alles zusammen – die Philosophie als Denkschule, als Argumentationslehre, als Logik. Sie ist mehr als nur eine Disziplin, die das Vergangene wachhält, dergestalt etwa, dass man gemeinsam die Klassiker auslegt, sondern eine Disziplin, wo es um ethische Fragen, um Fragen der Rationalität, um Fragen der Erkenntnis geht.
Mein Eindruck aus der Praxis heraus ist, dass die Jugendlichen – und insbesondere auch die Kinder – sehr stark an philosophischen Fragen interessiert sind. Ich habe das Experiment an einer Grundschule – vor mehr als 90 Schülern – gemacht. Dort führte ich zum Beispiel ein philosophisches Gespräch unter dem Thema „Warum wir nicht alles dürfen, was wir wollen“. Man muss die Kinder anschauen und sie ernst nehmen, Souveränität und Ruhe ausstrahlen; ganz im sokratischen Sinn gilt es das hervorzuholen, was schon da ist. Die Mäeutik ist die beste pädagogische Praxis, was auch für nicht philosophisch gebildete, aber interessierte Erwachsene gilt. Dabei kommen in der Regel alle philosophischen Fragen ganz von allein im Gespräch zum Vorschein.
Bankenkrise, Wirtschaftskrise – Sie sprachen bereits 2008 vom Ethos der Nachhaltigkeit. Welche Regeln muss es für das „reale Monopoly“ geben, die regulierend eingreifen?
Auch hier spielt die Philosophie eine zentrale Rolle. Aus der Beschäftigung mit diesem Thema ist ein Buch entstanden, das in diesen Tagen auf den Markt kommt, die „Optimierungsfalle“. Darin geht es um eine Philosophie einer humanen Ökonomie. Ich bin nicht so blauäugig anzunehmen, dass allein eine andere Einstellung, eine anders motivierte Praxis ausreicht. Natürlich braucht es Institutionen, Regeln, braucht auch Regulierung auf den Weltfinanzmärkten, dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass ein wesentlicher Teil dieser Weltfinanzkrise, auch was uns möglicherweise jetzt noch bevor steht, damit zusammenhängt, dass sich die Ökonomie als System aus allen kulturellen und moralischen Kontexten zunehmend, vor allem die Weltfinanzmärkte, herausgelöst – oder zumindest versucht hat sich herauszulösen.
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen, das derzeit vor vielen Gerichten verhandelt wird und daher nicht uninteressant ist: Sie gehen zu einem Bankschalter und bitten als ganz normaler Bürger um Beratung, wie ihr Geld mit einem gewissen Zinsertrag angelegt werden kann. Sie bekommen eine Auskunft: Und hier müssen sie davon ausgehen können, dass diese erstens wahrhaftig ist, dass die Person, die ihnen die Auskunft gibt, das glaubt, was sie sagt und nicht nur danach Auskunft gibt, was sie als Belohnung erhält, wenn es zum Vertragsabschluß kommt. Zweitens muss das, was gesagt wird übereinstimmen mit dem, was am Ende im Kleingedruckten steht. Niemand kommt in einer humanen Ökonomie auf die Idee, dass man jeden Nebensatz lesen und zum Anwalt laufen und sich beraten lassen muss, was dort drin steht – wenn man also damit einverstanden ist, geht man davon aus, dass das, was gesagt wurde mit dem Vertragsinhalt übereinstimmt. Das ist aber offenkundig nicht selbstverständlich. Deswegen wird gegenwärtig in Tausenden von Fällen vor Gericht gestritten.
Das heißt aber: Grundregeln der menschlichen Verständigungspraxis, Wahrhaftigkeit, Vertrauen, Verläßlichkeit sind systematisch verletzt worden und zwar mit zunehmender Tendenz. Von älteren Bankern hört man oft, dass es einen Generationswechsel gegeben hat – mit Hinblick auf das Ethos des anständigen Kaufmanns. Dieses Ethos war für diese Generation noch unverzichtbar gewesen – für eine neue Generation aber, die anderes sozialisiert wurde, ist dies nicht mehr selbstverständlich.
Es ist eine Illusion zu meinen, man könnte alles rechtlich regeln. Man kann viel rechtlich regeln, aber wie schwierig dies ist, zeigt sich zum Beispiel beim Strafrecht. Wir als Normalbürger kennen die Bestimmungen des Strafrechts nicht, nur ganz wenige vielleicht. Wir verhalten uns im Alltag anständig nicht deswegen, weil wir befürchten, eine bestimmte Norm im Strafrecht zu übertreten und deswegen bestraft zu werden. Dennoch brauchen wir das Strafrecht, weil es genügend Menschen geben würde, die Regeln verletzten, und andere, die dann davon betroffen und in ihren Rechten verletzt werden, die ihrerseits dann wieder die Rechte anderer verletzen. Man braucht das Strafrecht, aber die Vorstellung, dass das Strafrecht steuert, die primäre Steuerungsinstanz ist, ist völlig abwegig. Zuerst muss es ein Ethos anständigen Verhaltens im Alltag geben. Und wir hoffen alle, wenn wir uns anständig verhalten, dann auch keine strafrechtlichen Normen zu verletzen. Und so ähnlich ist es mit der ökonomischen Praxis. Gerade im Bankenwesen, in der Finanzkrise 2008 und möglicherweise 2011, gab es zu viele unsittliche Verträge, selbst wenn diese rechtsförmig waren. Es bedarf also institutioneller Regelungen, aber es ist eine Illusion zu meinen, eine humane, ökonomische Praxis funktioniert ohne Tugenden wie Anständigkeit, Verläßlichkeit, Vertrauenskultur und Kooperationsbereitschaft.
Freiheit ist ein zentraler Begriff ihres Denkens. Wohin zu viel Freiheit in der Wirtschaft führt, sehen wir gerade in der globalen Krise. Hatte Hegel eigentlich nicht recht, als er Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit forderte?
Nein, ich glaube Hegel hatte nicht recht. Hegel vertritt eine deterministische Weltsicht, in der das Agieren des Einzelnen eingebettet in große Gesetzmäßigkeiten ist, die die Akteure selbst nicht durchschauen – die Eigengesetzlichkeit der Geschichte. Bei Karl Marx wird das dann mit den ökonomischen Verhältnissen in Verbindung gebracht. Aber ich glaube, beide irren – beide, sowohl Hegel wie Marx, und die Schulen, die an diesen Personen dranhängen, ob nun Links- oder Rechtshegelianer. Sie alle haben ein gemeinsames Defizit, dass sie das moralische Potential des individuellen Akteurs unterschätzen und den einzelnen Individuen viel zu wenig zutrauen, vielleicht auch zumuten. Wenn man wirklich, wie Marx betont, Agent von Klasseninteressen ist, stellt sich keine normative Frage mehr. Es stellt sich im Übrigen auch die Frage wie Marx, der auch ein Agent von Klasseninteressen ist, überhaupt in der Lage sein sollte, eine Theorie zu entwickeln, die dann als Theorie der Arbeiterklasse die Handlungsanleitung geben konnte. Das ist selbstwidersprüchlich. Ich glaube in dem Punkt hat eher Kant und nicht Hegel recht. Kant zeichnet ein dualistisches Weltbild, wo a priori und a posteriori sauber getrennt sind – das sind alles problematische Elemente seiner Theorie. Aber im Kern: Die Vorstellung, dass die Autonomie darin besteht, dass ich als Vernunftwesen in der Lage bin, mir die Regeln zu geben nach denen ich lebe und nur solche Regeln zur Leitschnur nehme, die vereinbar damit sind, dass andere vernünftige Wesen Regeln dieser Art sich zur Leitschnur machen, d.h., eine Vereinbarkeit gegeben ist, überzeugt mich. Es muss verträglich sein damit, dass andere Wesen in der gleichen Weise Spielräume der Autonomie wahrnehmen und dass ist, glaube ich, nach wie vor der Grundgedanke einer im guten Sinne liberalen Gesellschaft, für eine liberale Gesellschaft, die die Autonomie achtet. Damit die Menschen in gleicher Weise zur Autonomie fähig sind, bedarf es bestimmter Voraussetzungen, zum Beispiel gleicher Bildungszugänge. Dass fällt nicht vom Himmel und stellt sich nicht auf dem Markt ein, weil es dort nur die Unterschiede an Kaufkraft gibt, sondern hier ist der Staat gefordert. Diese Aufgabe des Staates findet sich dann im 19. Jahrhundert bei den Enkeln von Kant, insbesondere bei liberalen Denkern. Auch Wilhelm von Humboldt war ein liberaler politischer Philosoph, der betonte, dass es die Aufgabe des Staates sei – bis hin zu den Universitäten – Bildung zu finanzieren, weil nur so der Allgemeinheit ein Zugang zur Bildung möglich ist. Dies ist hochaktuell. Was wir allerdings gegenwärtig erleben, in der aktuellen Bildungsentwicklung, ist genau das Gegenteil, nämlich die schrittweise Verabschiedung dieses Ideals eines staatlich garantierten gleichen Zugangs zur Bildung, ohne Gebühren, ohne dass dabei der Geldbeutel der Eltern ausschlaggebend ist. Dies ist aber das Fundament einer demokratischen Ordnung, einer lebendigen Demokratie – alle haben die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Bildungseinrichtungen – von der Krippe bis zur Hochschule, damit schon die Kinder nicht allein an das familiäre Milieu gebunden bleiben.
Norbert Blüm: Wer das Neue will, trägt die Beweislast!
Interview mit Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung a. D., mit der Tabula Rasa, Zeitung für Gesellschaft und Kultur
Herr Dr. Blüm, Sie sprechen in Ihrem Buch „Ehrliche Arbeit, Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier“ von der Liturgie der Globalisierung! Die Rede ist aber auch von der Infantilisierung der Gesellschaft, was ist damit gemeint?
Das Herzwort des Neoliberalismus ist das Wort „Mehr“ und immer „Mehr“. Ohne Wachstum ist die neoliberale Welt nicht denkbar. Das ist aber eine kindliche Illusion. Und das Wesen der Erziehung muss es sein, zu lernen, dass die Welt Grenzen sowie das Leben Grenzen hat. Der heutige Finanzkapitalismus ist von der Raffgier erfaßt und hat sich damit von der wirklichen Welt entfernt. Die Finanzmärkte übertreffen bei weitem die Wertschöpfung, sie laufen seit Jahren der Wertschöpfung davon, und dies ist ein kindliches Denken, das gerade zusammenbricht.
Sie rechnen in „Ehrliche Arbeit“ mit dem Finanzkapitalismus ab! Wie kann man in der modernen Welt sinnvoll gegen den homo oeconomicus kämpfen und warum ist die neoliberale Nutzenmaximierung vernunftwidrig?
Weil dieser homo oeconomicus eine Kunstgestalt ist, die es gar nicht gibt – der Mensch hält es nicht aus, immer zu kalkulieren, immer zu rechnen. Liebe, Vertrauen, Solidarität, die besten Sachen, die wir Menschen kennen, haben mit Nutzenmaximierung rein gar nichts zu tun. Wenn einer eine Beziehung angeht, mit der Frage, was er davon hat, soll er gleich damit aufhören. Und insofern befriedigt diese Art von Weltanschauung die tiefen Sehnsüchte der Menschen nicht, sie ist deshalb auch nur von einer beschränkten Lebensdauer. Der Mensch lässt sich diese Reduzierung auf Nutzenmaximierung nicht gefallen, ihm gefällt es nicht, dass er ständig rechnen muss. Für mich ist dieser Schnäppchenjäger, zu dem wir ja konditioniert werden, der Prototyp dieser neuen Welt, in der der Mensch ständig die Preise vergleicht. Ein Mensch, der dazu gezwungen ist, morgens drei Stunden früher aufzustehen, um die Preise von Lidl und Aldi zu beobachten – wir haben doch Besseres zu tun.
Früher forderten Sie einen Kampf gegen die Vergesellschaftung der Wirtschaft, wie stehen Sie heute dazu?
Man muß den Spieß umdrehen. Ich habe früher zu recht gegen die Sozialisierung der Wirtschaft gesprochen, also die Vergesellschaft der Wirtschaft, heute muß ich mich gegen die Verwirtschaftung der Gesellschaft aussprechen. Es gibt kaum noch einen Bereich, der inzwischen nicht von Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerb bestimmt wird. Selbst der Kernbereich des Staates ist schon erfasst, es gibt Justizvollzugsanstalten, wo der Strafvollzug privaten Firmen übergeben wird. In Amerika gibt es mehr private Macht als staatliche Polizei, im Irak mehr Söldner als staatliches Militär. Das sind aber nur Symptome. Alles gerät unter das Diktat der Wirtschaft – selbst die Ehe. Wir reduzieren diese als Lebensabschnittspartnerschaft, weil irgendwann jemand anderes kommen könnte, der noch besser ist, also können wir uns nicht festlegen.
Welche Aufgabe könnte nach dem Scheitern von Sozialismus und Kapitalismus der Katholischen Soziallehre zukommen?
Dort, wo ihr Platz immer war. Gleich weiten Abstand zu halten zwischen Individualismus und Kollektivismus; der Kapitalismus wie der Kommunismus, sie haben nur eine Seite des Menschen im Blick, und die haben sie für das Absolute erklärt, der Kapitalismus – das Individuum und der Kommunismus das Kollektiv. Die christliche Soziallehre hingegen sieht den Menschen in seiner Ganzheit, in seiner Doppelgesichtigkeit, er ist sowohl Individuum mit individuellen Rechten und Pflichten wie Sozialwesen mit sozialen Rechten und Pflichten. Und diese Balance muss ständig neu eingependelt werden. Im Moment hat die Welt eine Schlagseite zu einem losgelassenen Individualismus und dagegen muss sich die Katholische Soziallehre wenden. Dies beginnt damit, dass sie auch die großen Institutionen des sozialen Lebens stärkt, beispielsweise die Familie, die gerade ruiniert wird. Um ein Beispiel zu geben: Nach dem jüngsten Bundesgerichtshofsurteil soll eine Frau, die bisher halbtags gearbeitet hat, jetzt ganztags arbeiten, um Unterhalt zu erhalten, mit anderen Worten, die Mutter mit Kind soll genauso viel arbeiten wie der Vater ohne Kind. Hieraus lässt sich nur schlußfolgern, dass Erziehungsarbeit offenbar gar keine Arbeit ist. Hier zeigt sich schon sehr deutlich wie die Familie unter die Gesetze des Arbeitsmarktes gestellt wird.
Was verstehen Sie unter der neuen sozialen Verantwortung? Wie soll der künftige Sozialstaat konkret aussehen?
Das wichtigste Prinzip, dass wir aktivieren und vitalisieren müssen, ist die Subsidiarität, eine gegliederte Gesellschaft also, nicht eine uniformierte. Subsidiarität darf nicht isoliert werden, sonst führt dies zu einem Missverständnis. Subsidiarität funktioniert nur im Zusammenhang mit der Solidarität. Ohne Solidarität hängt die Subsidiarität in der Luft, die Subsidiarität ist das Kompetenzprinzip der Solidarität. Sie gliedert die Gemeinschaft nach der Vorfahrtsregel – zuerst die kleineren Gemeinschaften, deshalb fängt Gliederung der Gesellschaft bei der Familie an, deshalb müssen wir mehr Sozialversicherungen, nicht staatliche steuerfinanzierte Alterssicherheit und nicht kapitalgedeckte Privatversicherungen fördern – und auch nicht reine Privatversicherungen. Sozialversicherung also, und die kann selbst verwaltet werden, ohne Tarifautonomie; wir haben die Sozialpartner dezimiert, dies ist ja als Tarifkartell attackiert worden, trotzdem nimmt die Tarifpartnerschaft dem Staat Arbeit ab, sie ist also eine subsidiäre Einrichtung. Ich will drei Institutionen nennen: Familie, solidarische Sozialversicherung, die selbst verwaltet wird, und Tarifpartnerschaft. Und wenn man an das große Europa denkt, kann diese Idee nur mit Hilfe des Prinzips der Subsidiarität gelingen. Europa funktioniert weder mit nationalstaatlichem Egoismus noch mit größtem Zentralismus, sondern nur mit einer gestuften Verantwortung.
Was heißt, daß die Ordnung der Dinge der Ordnung der Personen untergeordnet werden soll? Was verstehen Sie unter einem Sozialstaat, der auf dem Selbstbewußtsein der Personen beruht?
Dies ist ein Kernsatz eines großen Konzilsdokumentes – „Gaudium et Spes“. Darin ist die ganze Katholische Soziallehre verdichtetet; nämlich dass der Mensch, die Person, wichtiger als irgendeine Sache ist. Am Menschenbild entscheidet sich das Schicksal einer Gesellschaft. Was ist der Mensch? Ist er ein autark-autonomes Wesen, was machen kann, was es will, oder hat es Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen? Also die Person muss wiederum einen gleich weiten Abstand zu Individualismus und Kollektivismus halten, die Person ist der Platzhalter einer Integration des sozialen und des individuellen Wesen des Menschen. Zwar muss die Katholische Lehre einen Beitrag zur Zeit leisten, darüber hinaus aber hat sie einen zeitlosen Kern – die Würde der menschlichen Person, und diese Würde hat ihren letzten Anker darin, dass sie Abbild Gottes ist, eine höhere Würdigung gibt es gar nicht. Das gilt für alle Menschen dieser Erde, ohne Ausnahme. Dieses Abbildsein, nicht vom Staat, sondern von Gott gegeben, das ist unser stärkstes Bollwerk zur Verteidigung des Menschen.
Beispiel Atomkraft! Wo sehen Sie hier die Dialektik der Aufklärung am Werk?
Bei diesem Thema habe ich dazugelernt. Ich war immer der Meinung, die Atomkraft sei die Spitzentechnologie der Zukunft, aber nicht erst seit Fukushima muss man darüber nachdenken, dass bis heute keine Antwort auf die Frage der Entsorgung gegeben wurde. Wir überlassen diese den nachfolgenden Generationen, ohne ihnen dafür eine Antwort geben zu können. Mit anderen Worten: Wir handhaben etwas, dass wir nicht beherrschen – und dies halte ich tatsächlich für Magie, das ist Beschwörung. Statt Beherrschung – Beschwörung. Wir haben aber nicht nur Verantwortung für die Lebenden, sondern auch für die künftigen Generationen, wir können diesen doch kein Müll hinterlassen, von dem wir nicht wissen, wie sie diesen entsorgen, hinterlassen.
In Ihrem neuen Buch nehmen Sie immer wieder Bezug zu den unterschiedlichsten Philosophen, Sie haben selbst Philosophie studiert und gelehrt. Haben Sie einen Favoriten, von dem Sie sagen könnten, dessen philosophisches Denken für Ihr Leben und Denken prägend war?
Nein. Die Philosophie ist so groß, dass sie die Wahrheit nie ganz hat, die Wahrheit ihr nicht ganz erscheint. Deshalb nähern sich die unterschiedlichsten Philosophien von allen Seiten dem vom uns nie ganz zu erfassenden Begriff der Wahrheit an. Ich würde mich daher weigern, eine Hierarchie aufzumachen. Allerdings gebe ich zu, dass meinem Lebensverständnis das Denken des Thomas von Aquin in der Nachfolge des Aristoteles entspricht. Thomas von Aquin unterscheidet sich vom platonischen Idealismus mit Aristoteles, dass er die Ideen in den Sachen sucht. Und vom Materialismus unterscheidet ihn, dass die Ideen, das Wesen, unser Telos ist, das, wohin wir uns entwickeln sollen, während der Materialismus jede Idee als gestaltgebend abstreitet. Thomas von Aquin bleibt für mich der Vertreter der aristotelischen Mitte.
Sie haben bei dem heutigen Papst Benedikt XVI. Theologie studiert! War er ein strenger Lehrer?
Nein. Ich habe ihn in Bonn als jungen Theologieprofessor kennengelernt. Dort war er für die Bonner Studenten eine Ausnahmegestalt, weil er mit großer Zartheit die kompliziertesten theologischen Fragen mit sanfter Stimme erklärt hat. Ratzinger kommt selbst ja aus der Tradition des heiligen Augustinus, und dies ist eine Tradition, in deren Mittelpunkt die Liebe steht: „Liebe und dann tue, was du willst“, dies ist der schönste Satz des Heiligen Augustinus’, dies ist kein Satz der Willkür, denn richtig voll zu lieben, heißt Anerkennung des Anderen; Benedikt XVI. ist ein Papst, der von seiner theologischen Herkunft auch starke Brücken zum Luthertum bauen kann, denn auch Luther war von Augustinus und dessen Gnadenlehre stark beeinflußt.
„Dumm ist der Konservatismus nicht“ – so darf ich Sie zitieren, warum brauchen wir diesen Konservatismus in den Tagen des anything goes, der großen Beliebigkeit?
Ich bin von Herkunft und Gemüt gar kein Konservativer, ich habe mich immer als progressiven Menschen verstanden. Ich entdecke nur plötzlich im Alter, dass möglicherweise die Welt zu bewahren die neue Maxime des Fortschrittes und der Zukunft ist. In einer Zeit der großen Veränderungen geht es eigentlich um Entschleunigung, weil wir sonst vor lauter Tempo, vor lauter Bäumen, den Wald nicht mehr sehen. Ich habe auch entdeckt, dass Sachen zu verteidigen, die gut sind, Tapferkeitsfragen sind. Das tapfer und modisch nicht nur der ist, der was Neues will, sondern auch der, der Altes, Gutes verteidigt. Deshalb glaube ich, müssen wir in diesen Turbozeiten die Beweislast umdrehen. Nicht mehr das Alte muss beweisen, dass es besser ist als das Neue, sondern das Neue muss beweisen, dass es besser ist. Ich bin ja nicht für Stillstand, natürlich gibt es Veränderung, aber wer etwas verändern will, hat die Beweislast, dass das, was verändert werden soll, dass das Ziel der Veränderung also besser ist als das Bestehende. Wir müssen die Beweislast umdrehen, weil wir sonst kopflos, verrückt werden. Das Bewahren geht vor Verändern, trotzdem bleibt die Welt nicht stehen. Wir sind nie am Ziel, aber mit der Entschleunigung würde es uns weitaus besser gehen.
Interview mit Dr. Ingo Friedrich, Vizepräsident des Europäischen Parlaments a. D. und Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments
von Ingo Friedrich
Normalerweise freut man sich über einen Preis, über den Friedensnobelpreis allemal. Aber hierzulande war von Euphorie wenig zu spüren. Haben wir den Nobelpreis verdient, Herr Dr. Friedrich?
Viele Menschen und auch ich haben sich sehr über die Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union gefreut. Ja, wir haben den Preis verdient, denn die Europäische Union wirkt als eines der größten und erfolgreichsten Friedensprojekte der Geschichte. In seinem Testament hat Alfred Nobel von einer „Bruderschaft zwischen den Nationen“ und einer Art „Friedenskongress“ als Kriterium für den Nobelpreis gesprochen. Genau das trifft auf Europa zu.
Ein Blick in die deutsche Bevölkerung befreit den Beobachter zumindest nicht vom Verdacht, das Brüssel weit weg ist. Sind wir hierzulande eher Euroskeptiker, oder einfach noch nicht reif für ein gemeinsames Europa, für eine europäische Bewegung, deren Präsident Sie für Bayern sind?
Die Deutschen sind m. E. derzeit geistig-politisch auf dem Weg vom bisher Europabegeisterten „Nationalskeptiker“ zum Europa-realistischen und nationalstaatlich orientierten Bürger. Sie nähern sich damit der üblichen Haltung der anderen großen EU-Staaten an. Solange diese neue Haltung der Deutschen notwendige und sinnvolle europäische Gemeinsamkeiten, etwa der Bankenkontrolle, der gemeinsamen Außenpolitik oder der Bewältigung der Schuldenkrise nicht blockiert, erleichtert sie zwar nicht die Arbeit für Europa, ist aber auch nicht wirklich schädlich.
Der Weg zu einem gemeinsamen Europa vollzieht sich eben manchmal in kleineren und manchmal in größeren Schritten. Deswegen bleibt die Arbeit europäischer Verbände und Bewegungen wichtig und hilfreich, gerade auch um die Komplexität europäischer Vorgänge zu erklären und für eine positive europäische Grundüberzeugung der Bürger zu arbeiten.
Wie sieht die Zukunft Europas aus? Finanzminister Schäuble meinte: „Wir profitieren man meisten von Europa.“ Was meint er damit?
Das Ziel bleibt ein Europa, das überall dort Kompetenzen und gemeinsame Kapazitäten bekommt, wo der Nationalstaat nicht mehr „liefern“ kann, weil er überfordert ist. Vor diesem Hintergrund wird Europa auch zukünftig kein klassischer Staat analog des völkerrechtlich definierten Modells der heutigen Nationalstaaten werden. EU-Europa wird sich aber immer staatsähnlicher entwickeln und wichtige Aufgaben als additive Entscheidungsebene subsidiär und zusätzlich zur regionalen und nationalen Entscheidungsebene übernehmen. Erschwert wird die Erfüllung dieser Aufgabe naturgemäß durch die immer noch bestehenden großen mentalen und kulturellen Unterschiede.
Für Deutschland haben sich folgende Vorteile ergeben: In der Finanzkrise hat das deutsche Wirtschaftsmodell europaweit Vorbildcharakter gewonnen, auch wenn die dadurch bewirkten Anstrengungen für die sog. peripheren Staaten immens und unpopulär sind. Insgesamt wird Europa dadurch wettbewerbsfähiger und stärker. Diese zu erwartenden Stärkung bedeutet mehr Stabilität und nutzt damit auch Deutschland, weil dadurch langfristig verlässlich kalkuliert werden kann. Hinzu kommt, dass Deutschland durch den relativ niedrigen Euro-Kurs (der DM-Kurs würde deutlich höher liegen) im globalen Wettbewerb einen erheblichen Exportvorteil für sich verbuchen kann.
Immer lauter werden die Stimmen gegen den Euro, zerstört die gemeinsame Währung die Identität Europas?
Der gemeinsame Euro zwingt gerade die Südstaaten zu zwar unpopulären aber auf Dauer richtigen, weil wettbewerbsfördernden Strukturanpassungen. Durch die vor der Euroeinführung bestehende Möglichkeit der Währungsabwertung war der Anpassungsdruck wesentlich geringer. Auf Dauer werden diese Staaten den Sinn der Maßnahmen erkennen und es ist zu erwarten, dass durch ein stärkeres Europa die gemeinsame Identität ebenfalls nicht ab, sondern zu nimmt.
Was hätte der Austritt Englands für Folgen für die gesamteuropäische Wirtschaft?
Ein Austritt Englands würde global als Beginn eines Auseinanderdriftens Europas verstanden werden. Wir Europäer müssen – auch wenn manchmal mit zusammengebissenen Zähnen – England als Mitglied ertragen und es immer wieder durch geeignete Maßnahmen auf den „Pfad der europäischen Tugend“ zurückführen. England selbst will wirtschaftlich beim Binnenmarkt bleiben, es darf aber andererseits die übrigen EU-Staaten nicht daran hindern, weiter voranzuschreiten.
Wäre die Türkei ein würdiger Partner in Europa, oder sollte man derartige Spekulationen derzeit noch zurückschieben?
Ein Beitritt der Türkei würde derzeit und auf absehbare Zeit sowohl die Aufnahmefähigkeit der europäischen Institutionen, als auch die Akzeptanzbereitschaft der EU-Bürger weit überfordern, ganz zu schweigen von der sicher auch bestehenden Überforderung der türkischen Bürger. Insofern müssen die vereinbarten Verhandlungen mit der Türkei weitergeführt werden, um für dieses große und stolze Land einen Sonderstatus mit allen Möglichkeiten und Öffnungen knapp unterhalb der Vollmitgliedschaft zu erreichen.
Was bedeutet heute Souveränität oder Gemeinwohl, muss es länderspezifisch gedacht werden, oder eben doch europäisch?
So wie wir heute, realistischerweise eine mehrdimensionale Identität praktizieren (also gleichzeitig bayerische Deutsche, deutsche Europäer und europäische Weltbürger sind) so müssen wir auch die Begriffe Souveränität und Gemeinwohl heute neu denken und ergänzen. Faktum ist, dass es heute gilt, ein europäisches Gemeinwohl neben dem regionalen und nationalen Gemeinwohl zu definieren und zu berücksichtigen. Dieser Lernprozess bleibt uns nicht erspart.
Während Europa einerseits zur Einheit strebt, gibt es in vielen Ländern, zumindest verbal, den Wunsch zur Länderautonomie, zur Renationalisierung, Bayern will sich von Berlin distanzieren, Thema Länderfinanzausgleich, die Katalonen hegen seit Jahren den Wunsch, sich vom Rest Spaniens zu separieren, Tirol träumt schon lange von seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom finanzschwächeren Süditalien. Sehen Sie hier eine ernsthafte Gefahr?
Das Recht auf Heimat und damit der Wunsch im vertrauten Lebensumfeld „zu Hause“ zu bleiben, wird durch die schnell voran schreitende Globalisierung und Internationalisierung verstärkt und muss von einer verantwortungsbewussten Politik ernst genommen werden. Es gilt abzuwägen, zwischen sinnvoller Stärkung der Regionen und einem überzogenem Partikularismus beziehungsweise einer rückwärtsgewandten Renationalisierung und Kleinstaaterei. Statt gewachsene Staaten zu spalten und Europa noch unübersichtlicher zu machen, sollte man sich an Erfolgsmodellen, wie z. B. Bayern orientieren und den Regionen so viel Gestaltungsmöglichkeiten, wie verkraftbar einräumen. Dies auszudiskutieren wird im Einzelfall stets eine schwierige Herausforderung bleiben. Dies gilt übrigens aber auch für die Problematik einer sinnvollen Abgrenzung zwischen nationalen und europäischen Kompetenzen.
Brauchen wir Europa aus wirtschaftlichen Gründen? Schon jetzt ist absehbar, dass aufgrund der demografischen Entwicklung und der niederen Geburtsraten in der Bundesrepublik Arbeitskräftemangel in Zukunft droht.
Ja, wir brauchen Europa auch, aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Eine Öffnung Europas für sinnvolle Zuwanderungen, etwa im Bereich der Fachkräfte ist dabei ein Zeichen für Stärke und Zukunftsfähigkeit. In der globalen Welt des 21. Jahrhunderts ist das gemeinsame Auftreten und die Formulierung gemeinsamer Interessen auf Weltebene auch für die großen EU-Staaten und für die EU-Bürger sehr vorteilhaft. Ein europäischer Beitrag zur globalen Stabilität in allen Teilen der Welt hat dabei auch unmittelbar positive Wirkungen für das „alte Europa“.
Was macht die Europäische Bewegung Bayern e. V.?
Die europäische Bewegung Bayern versucht durch Veranstaltungen mit den großen Verbänden und Organisationen, die Komplexität europäischer Entscheidungen zu erklären und damit das Verständnis für und die Zuwendung zu Europa zu verbessern und zu intensivieren. Europa mussnicht nur aus pragmatischen und wirtschaftlichen Gründen gebaut werden, sondern es gründet auch auf geistig-ethischen Werten, die häufig ihren Ursprung im christlich-abendländischen Wertefundament finden. In diesem Sinne ist Europa mehr als der nüchterne Zusammenschluss souveräner Staaten, sondern auch eine Angelegenheit des Herzens.
Im Interview Ihre Exzellenz, Prof. Gabriela von Habsburg
Frau von Habsburg, Sie sind die Botschafterin von Georgien, was macht eine Botschafterin ganz konkret?
Mein Hauptanliegen ist es, Georgien in Deutschland bekannter zu machen. In meinen Gesprächen stelle ich immer wieder fest, dass zwar jeder schon einmal von unserem Land gehört hat, viele es aber kaum kennen. Mit Politikern zum Beispiel spreche ich viel über die politische Situation im Land, die vielen Reformen, die seit der Rosenrevolution umgesetzt wurden aber natürlich auch über unsere außenpolitischen Ziele, eine zukünftige Vollmitgliedschaft in EU und NATO.
Von besonderer Bedeutung ist es für uns aber auch, die georgische Kultur in Deutschland zu präsentieren. Oft sind unsere Besucher überrascht, dass Georgien ein ur-europäisches Land ist. Unsere Botschaft ist in diesem Bereich sehr aktiv. Wir veranstalten regelmäßig unterschiedliche Veranstaltungen. Häufig laden wir ein zu Lesungen von und mit georgischen Schriftstellern. Aber auch Konzerte, Filmpremieren oder Vortragsveranstaltungen stehen bei uns auf dem Programm.
Einmal im Jahr richten wir darüber hinaus um unseren Nationalfeiertag eine georgische Kulturwoche aus. Im vergangenen Jahr war das Thema Film, wir haben unter anderem eine Retrospektive des georgischen Films gezeigt. In diesem Jahr lag der Schwerpunkt auf georgischen Theaterproduktionen liegen. 2013 dürfen sich unsere Gäste auf archäologische Fundstücke aus Georgien freuen.
Natürlich kümmern wir uns aber auch um Wirtschaftsbeziehungen. In Zusammenarbeit mit unseren Partnern, z.B. der DIHK, informieren wir über Georgien als Wirtschafts- und Investitionsstandort.
Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist Georgien ein eigener Staat mit eigener Verfassung. Arbeiten Sie gerade an einer neuen Verfassung?
Georgien hatte sich gleich nach seiner Unabhängigkeit eine neue Verfassung gegeben. Es musste eine Grundlage geschaffen werden, auf der dieser neu gegründete Staat funktionieren sollte. Die georgische Regierung schützt Grundrechte und ist sehr modern. Sie wurde mit Unterstützung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, damals noch Gesellschaft für technische Zusammenarbeit erarbeitet. Im Oktober 2010 hat das georgische Parlament eine Verfassungsreform verabschiedet, die imHerbst 2013 in Kraft treten wird. Gelobt von der Venedig-Kommission des Europarates wird Georgien damit die nächste Stufe seiner demokratischen Entwicklung erreichen und sich von einer präsidialen zu einer parlamentarischen Demokratie entwickeln.
Immer wieder stand Georgien in den Schlagzeilen wegen Korruptionsaffären, Mafia-Strukturen, die die Entwicklung des Landes bremsen? Wie ist die Situation heute?
Zu Beginn unserer Unabhängigkeit, in dem 1990er Jahren, war das hohe Maß an Korruption in Georgien eines der größten politischen wie wirtschaftlichen Probleme überhaut. Eshatte das Land in die Knie gezwungen und das Entwicklungspotential, das es hätte haben können, erdrückt. Sämtliches Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und seine Strukturen waren zerstört. Dies wurde dann auch der Nährboden für die politische Bewegung, die später fürdie sogenannte „Rosenrevolution“ bekannt wurde. Am Anfang war es eine kleine Gruppe junger Politiker, Aktivisten und Studenten. Sie waren es leid,diesem Regime unterworfen zu sein. Sie waren in der EU und den USA ausgebildet worden und hatten daher erlebt was es bedeuten kann, in einer liberalen Demokratie zu leben. Nach gefälschten Wahlen im Jahr 2003 fanden friedliche Massendemonstrationen, die Rosenrevolution, statt. Die bisherigen Machthaber mussten dem Druck der Bevölkerung nachgeben und traten zurück. Für Micheil Saakaschwili und sein Team war die Zeit gekommen, Verantwortung zu übernehmen.
In den vergangenen Jahren sind viele Reformen umgesetzt worden und sowohl durch Aufklärung, aber auch durch harte Strafgesetze haben wir die Korruption in den Griff bekommen. Die Polizei, die noch 2002 wegen ihrer Willkür gefürchtet wurde, gehört heute zu den vertrauenswürdigten Institutionen des Landes. Aber auch unabhängige Beobachter bestätigen dieses Bild: Noch im Jahr 2004 galt unser Land laut Transparency International in diesem Bereich als eines der Schlusslichter. Heute haben wir uns um über 100 Plätze nach oben bewegt, sind in unserer Region damit unangefochtener Spitzenreiter. Für die Weltbank ist die Entwicklung Georgiens sogar der Beweis, dass Korruption für eine Kultur nicht endemisch ist. Auf den politischen Willen kommt es an.
Wie ist die wirtschaftliche Lage des Landes zwischen Kaukasus und Schwarzen Meer einzuschätzen? Welche Wirtschaftszweige werden insbesondere gefördert?
Georgien steht heute gut da. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft um 7 Prozent gewachsen, im ersten Halbjahr 2012 waren es sogar 7,5 Prozent. Vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist dies durchaus bemerkenswert. Ohne Mittelbeimischung und internationale Finanzierung von Darlehen an kleinste, kleine und mittlere Unternehmen wäre das so nicht möglich gewesen. Das Finanzvolumen der Ausländischen Direktinvestitionen lag 2011 bei 1.117,2 Millionen US-Dollar. Dies sind rund 14 Prozent mehr als ursprünglich geschätzt. Der wichtigste Sektor ist dabei der Energiebereich.
Mit der Hilfe ausländischer wie inländischer Geldgeber wird viel Geld in die Infrastruktur investiert, was Georgien als Wirtschaftsstandort attraktiver macht. Dadurch kann Georgien sein Potential, das wir es aufgrund seiner geostrategisch günstigen Lage hat, ausschöpfen.
Für Georgien hat sich die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen als wichtiger Wirtschaftsfaktor etabliert. Strategisches Ziel der vorherigen aber auch der jetzigen Regierung ist es zum einen, die vollständige Abdeckung des Strombedarfs im Land durch nationale Ressourcen zu schaffen. Zum anderen aber, soll Energie aus Wasserkraft zum größten Exportgut werden.
Außerdem ist der Tourismussektor eine echte Wachstumsindustrie. In den Bergen entstehen neue Skigebiete, an der Schwarzmeerküste neue Urlaubsressorts. In 2012 besuchten mehr als vier Millionen internationale Touristen Georgien, das sind über eine Millionen mehr als 2011.
In Georgien hat derzeit ein ungeahnter Bauboom eingesetzt, wer investiert in die Region?
Der Bauboom ist eng verknüpft mit den bereits erwähnten, wirtschaftlichen Entwicklungen. So sind zurzeit ein dutzend Wasserkraftwerke in der Planung, um Wasserkraft zum Exportgut zu machen. Zudem treibt die Regierung den Bau von Autobahnen, Eisenbahnstrecken und Flughäfen voran. Die Tourismusbranche und der Bau von neuen Hotels werden ebenfalls gefördert, indem Investoren von Abgaben befreit werden.
Durch die Bekämpfung der Korruption, dem Abbau von Bürokratie und der Einführung von EU und OECD Standards ist Georgien für ausländische Investoren attraktiv geworden. Lautder Weltbank Doing Business Studie 2012 ist Georgien, nach Hong Kong und Singapur das dritt attraktivste Land im Bereich Bauabwicklung. Barrieren für ausländische Investoren sind nicht vorhanden. Dies spiegelt sich natürlich in dem Bauboom wieder. Auch die georgische Bevölkerung profitiert von der guten Wirtschaftslage. Die Leute bauen Häuser und renovieren.
Leidet Georgien unter der russischen Besetzung, wie ist die Lage zwischen Georgiern und Russen, gibt es dort ähnliche Konflikte oder sind solche zu erwarten – wie im ehemaligen Jugoslawien?
Diese beiden Konflikte sind völlig unterschiedlich gelagert, man kann sie nicht miteinander vergleichen. Aber natürlich ist der Konflikt für uns schmerzhaft.
Die zwei Kriege, die unser Land seit seiner Unabhängigkeit ertragen musste, waren schrecklich und haben Spuren hinterlassen. In der Folge des letzten Krieges mit der Russischen Föderation im August 2008 sind 20 Prozent unseres Staatsgebietes besetzt geblieben. Unter französischer Vermittlung wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Doch bis heute weigert sich Russland, die Vereinbarungen zu erfüllen. Russland hat sich bis heute militärisch nicht auf die Positionen zurückgezogen, die es vor Kriegsausbruch innehatte und stationiert Truppen noch heute bis an den Rand der von ihnen besetzten Gebiete –zum Teil also lediglich 60 km von der Hauptstadt Tbilisi entfernt. Und bis heute weigert sich Russland, der EUMM, der EU-Monitoring Mission in Georgien, Zutritt zu den besetzten Gebieten zu gewähren. Auch dies stellt einen weiteren Bruch des Waffenstillstandsabkommens dar.
Gesprächsangebote unserer Regierung werden ignoriert. Unsere Bemühungen, über das Waffenstillstandsabkommen hinaus den Dialog zu suchen, werden belächelt.
Mehr als 300.000 meist ethnische Georgier wurden im Laufe der Konflikte mit Gewalt aus ihren Heimatorten in den Provinzen Abchasien und Südossetien vertrieben. Sie können nicht dorthin zurückkehren.Zurückgeblieben ist insbesondere in Abchasien eine kleine georgische Minderheit, die sich ständigen Repressalien ausgesetzt sieht. Ihre Freiheitsrechte werden ignoriert, weder in den parlamentarischen Gremien, noch in sonstigen Organen des Proxy-Regimes werden sie repräsentiert. Verboten ist es ihnen, ihre Kinder in ihrer Sprache zuunterrichten. Verweigert wird ihnen der Zugang zu rechtsstaatlichen Institutionen. Regelmäßig sind sie Opfer von Übergriffen abchasischer Milizen. Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten der OSZE, Botschafter Knut Vollebaek,und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben in ihren Berichten die kategorische Diskriminierung und Unterdrückung der georgischen Minderheit durch die abchasische Führung kritisiert.
Wenn wir die internationale Gemeinschaft um Unterstützung zur Rückgewinnung unserer territorialen Integrität bitten, dann ist das vor allem im Interesse dieser Menschen.
Nein, es geht nicht um territoriale Politik. Es geht nicht darum, stumpf an einem Stück Land festzuhalten. Es geht um ein klares „NEIN“ zu ethnischen Säuberungen, wie sie in Abchasien und Südossetien geschehen sind. Wer ethnische Konflikte durch gezielte Provokationen auslöst, schürt und zur Speerspitze sezessionistischer Interessen macht, der verstößt gegen elementare Grundlagen für Frieden in dieser Welt. Wir Georgier sind dankbar, dass ein Großteil der internationalen Gemeinschaft, allen voran die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, uns darin unterstützt.
Gibt es derzeit eine akute Bedrohung durch Russland, Putin hält daran fest, die besetzen Gebiete nicht preiszugeben. Sehen Sie perspektivisch eine Lösung des „Konfliktes“?
Russland besetzt georgisches Territorium. Das können wir nicht akzeptieren. Wir bemühen uns darum, die Bewohner der besetzten Gebiete mit einer Reihe von vertrauensbildenden und fördernden Maßnahmen aus der Isolation zu befreien. Eine nachhaltige Lösung kann aber nur darin bestehen, dass Russland sich an geltendes Recht hält und seine militärische Besetzung aufgibt.
Georgien strebt in die Europäischen Union, wie ist das Land für einen möglichen Beitritt gerüstet, wo müsste Ihrer Meinung noch nachgebessert werden? Wie steht es mit der Bewahrung von Menschenrechten?
Georgien hat in den vergangenen Jahren viele Reformen umgesetzt, die uns näher an die EU rücken. Der Korruption wurde Einhalt geboten, die Polizei gehört zu den vertrauenswürdigsten Institutionen, die Verwaltung wurde reformiert, die Verfassung erneuert. Der erste Machtwechsel seit unserer Unabhängigkeit durch Wahlen im letzten Oktober zeigt die demokratische Entwicklung unseres Landes.
Die ersten Schritte sind gemacht. Seit 2006 sind wir Mitglied des Programms „Östliche Partnerschaft“, seit dem letzten Dezember verhandelt unsere Regierung mit der EU über ein so genanntes „Deep and Comprehensive Free Trade Agreement“, also ein umfassendes Freihandelsabkommen. Die Visaerleichterungen für Georgien, die das Europäische Parlament im Dezember 2010 verabschiedet hat, geben vielen Georgiern die Möglichkeit, Europa zu erkunden. Insbesondere für junge Menschen ist das wichtig. Denn es ermöglicht Austausch und Ausbildung.
Es gibt noch Defizite, aber ich denke, dass der politische Wille in Georgien groß genug ist, um den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Welche Rolle könnte der Standortfaktor bei der zukünftigen Entwicklung des Landes spielen?
Seine geografische Lage ist bereits jetzt für Georgien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Georgien ist ein multikulturelles Land, welches aufgrund seiner Lage und seiner Geschichte mit Europa, Russland, dem Mittleren Osten aber auch Zentralasien verbunden ist. Als Brückenkopf verschafft Georgien direkten Zugang zu den Boom-Märkten der Golfregion oder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Als Transitland ermöglicht es den Transport von Rohstoffen aus dem Kaspischen Meer. Ohne dabei von Russland oder dem Iran abhängig zu sein, gelangen sie über Georgien in die Türkei und von dort weiter in die EU bzw. direkt von Georgien per Schiff über das Schwarze Meer in die Staaten der Europäischen Union.
Der russische Absatzmarkt ist mit der Schließung der Grenze eingebrochen, ist dies eine existentielle Bedrohung für die Bürger?
Natürlich hat uns dieses Handelsembargo getroffen. Jedoch hat sich Georgien in den letzten Jahren auch wirtschaftlich gut entwickelt. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft um 7 Prozent gewachsen, im ersten Halbjahr 2012 waren es sogar 7,5 Prozent. Vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist dies durchaus bemerkenswert. Ohne Mittelbeimischung und internationale Finanzierung von Darlehen an kleinste, kleine und mittlere Unternehmen wäre das so nicht möglich gewesen.
Das Finanzvolumen der Ausländischen Direktinvestitionen lag 2011 bei 1.117,2 Millionen US-Dollar. Dies sind rund 14 Prozent mehr als ursprünglich geschätzt. Der wichtigste Sektor ist dabei der Energiebereich.Mit der Hilfe ausländischer wie inländischer Geldgeber wir viel Geld in die Infrastruktur investiert, was Georgien als Wirtschaftsstandort attraktiver macht. Dadurch kann Georgien sein Potential, das wir es aufgrund seiner geostrategisch günstigen Lage hat, ausschöpfen.
Eine echte Wachstumsindustrie ist der Tourismussektor. In den Bergen entstehen neue Skigebiete, an der Schwarzmeerküste neue Urlaubsressorts.
Wie gesagt. Georgien entwickelt sich noch. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Hat die deutsche Sprache eine Perspektive in Europa? Bundestagspräsident Norbert Lammert im Gespräch
Herr Bundestagspräsident, geht es mit der deutschen Sprache bergab?
Dies wäre mindestens zu pauschal, aber richtig ist, dass sich der Stellenwert der deutschen Sprache sowohl mit Blick auf den allgemeinen Sprachgebrauch der Weltgemeinschaft als auch im Blick auf den Stellenwert von Deutsch als Wissenschaftssprache in den letzten Jahren verändert hat, und dass er heute zweifellos nicht mehr die Bedeutung hat, wie es früher, insbesondere im Wissenschaftsbereich, jahrzehntelang der Fall war.
Welche Rolle spielt die Politik beim Thema Globalisierung der Sprache?
Sie spielt eine Rolle, aber nicht die einzige – und auch nicht in allen Fällen die ausschlaggebende Rolle. Dass es etwa im Bereich der Wissenschaft die Veränderungen gab, die es gegeben hat, hängt neben objektiven Faktoren auch mit dem subjektiven Übermut vieler deutscher Wissenschaftler zusammen, die auf in Deutschland stattfindenden Konferenzen – bei einem meist überwiegend meist deutsch sprechenden Publikum – gleichwohl insbesondere ihre Fremdsprachenkenntnisse spazieren führen wollen, und dass wir teilweise auch für Forschungsprojekte von den Wissenschaftsinstitutionen als Teilnahmebedingung Projektanträge in Englisch erwarten, gehört aus meiner Sicht zu den Übertreibungen, die zwar in die Autonomie der Wissenschaften gehören mögen, aber nicht zur Stärkung von Deutsch als Wissenschaftssprache geeignet sind.
Mehrsprachsprachlichkeit versus deutsche Sprache als Merkmal nationaler Identität – wie ist dies zu vereinbaren?
Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. Wir haben natürlich und müssen ein Interesse an Mehrsprachigkeit haben, die Schulen müssen sich heute noch mehr als das vor einer oder zwei Generationen notwendig war, um die Vermittlung von Sprachkompetenz bemühen, weil in einer globalen Welt, allein in einem vielsprachigen Europa, Sprachkompetenz eine wesentliche Voraussetzung für Mobilität und für beruflichen Erfolg ist. Aber zu glauben, das ließe sich durch die fröhliche Vereinbarung am ehesten sichern, dass alle Englisch sprechen, verkennt die Präzisionsanforderungen, die an Sprache im beruflichen, im technischen und ganz besonders im wissenschaftlichen Bereich gerichtet werden. Auch und gerade bei Wissenschaftlern ist in aller Regel die Fähigkeit sich in einer anderen Sprache als der Muttersprache so präzise auszudrücken wie es wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, eben doch nur in sehr engen Grenzen zu beobachten. Deshalb liegt es auch im Interesse der Wissenschaft, dass wir die Mehrsprachigkeit und die Aufrechterhaltung der Sprachkompetenz in den jeweiligen Nationalstaaten sichern.
Ist es sinnvoll Deutsch als Landessprache in der Verfassung der Bundesrepublik zu verankern?
Nach meiner Überzeugung ist es ganz sicher sinnvoll. Davon hängt nicht unsere Bemühung zur Förderung der Sprache ab, aber es würde den Stellenwert, den Sprache für nationale Identität und für das Selbstverständnis dieses Landes nach innen und nach außen hat unmißverständlich markieren. Und im Vergleich zu vielem anderen, was in der Verfassung steht, und bei dem man mindestens auch darüber streiten kann, ob es unbedingt in die Verfassung gehört, hat die Sprache eine Bedeutung und einen Rang, der eine solche Berücksichtigung in der Verfassung sicher rechtfertigt.
Herr Prof. Dr. Lammert, herzlichen Dank für das Interview, das Dr. Stefan Groß führte. Das Gespräch fand im Anschluß an einen Vortrag des Bundestagspräsidenten in der Hanns-Seidel-Stiftung in München statt. Dort diskutierte Prof. Lammert mit Staatsminister a.D., Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair.
Interview mit Bestseller-Autor und Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer
Wie kann man aus Versehen ein Konservativer werden?
Wenn man wie ich aus einer linken Familie stammt und irgendwann Zweifel an bestimmten Verstiegenheiten bekommt.
Sie sind kein Bekenntniskonservativer! Nicht wie beispielsweise Roland Koch, der mit seinem Buch „Konservativ“ Praxishilfen für gebeutelte Konservative geben will. Der Begriff konservativ hat heutzutage Konjunktur, fast wird er inflationär gebraucht. Was bedeutet konservativ für Sie konkret?
Konservativ, so wie ich es benutzte, heißt zuerst nicht links zu sein. Dies klingt nach nicht sehr viel, ist aber tatsächlich doch eine ganze Menge, weil jedenfalls in der Welt, in der darüber befunden wird, wie Dinge zu sehen und zu bewerten sind, die Linken eindeutig dominieren.
Was ist das sogenannte Gute, für das die Linke steht? Der Begriff des Guten, des „Höchsten Gutes“, ist ja alles andere als links.
Die Linke nimmt für sich in Anspruch, auf der richtigen Seite zu stehen und für das „Gute“ zu kämpfen. Gut insofern, als sie, wie wir wissen, nie eigene Machtinteressen verfolgt, sondern sich immer für andere einsetzt. Also für Menschen, die ihrer Anwaltschaft bedürfen, für die Frauen, für die Ausländer, für die sexuell Benachteiligten, für die alleinerziehenden Frauen etc. Und darauf gründet natürlich auch ihr moralischer Selbstanspruch und ihr Selbstverständnis.
Warum ist die Linke Ihrer Meinung nach so anfällig für Unheilsszenarien? Warum enden die Utopien, das Gute, immer wieder in Terror und Verfolgung?
Die Anfälligkeit ist die Kehrseite beim Kampf für die große Idee. Es gibt wenig Linke, die ohne den großen Plan auskommen, denn dieser macht ja die Verführungskraft der linken Idee aus. Fast jeder Linke trägt unter dem Arm fast immer ein Weltrettungsprojekt. Und um die Dringlichkeit dieses Projektes immer noch dringlicher zu machen, steht natürlich daneben immer die Sorge, dass, wenn es ganz anders kommen sollte, die Welt untergeht.
Warum ist die Linke, sind die westdeutschen Linken, oft so dogmatisch, sind Linke, wie Sie es nennen „angespannt“ und keine ausgesprochenen Liebhaber der Meinungsvielfalt, obwohl sie sich auch auf die Tradition der Aufklärung, nicht zuletzt auf Immanuel Kant und sein „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, berufen?
Wenn sie gegen das Böse kämpfen und für das Gute, dann gibt es Situationen, wo Toleranz Verrat an ihren Ideen bedeutet. Zu große Duldsamkeit mit abweichenden Meinungen bedeutet auch Nachlässigkeit im Kampf für die richtige Sache.
Was stört sie am meisten an den Linken?
Mich stört am meisten ihre Humorlosigkeit. Und diese verfluchte Eigenschaft, nicht nur selbst sich gedruckt zu sehen, sondern es schon als Erfolge zu feiern, dass man verhindert hat, dass die andere Seite gedruckt wurde.
Sie haben Philosophie und Literatur studiert. Wer in der Geschichte der abendländischen Geistesgeschichte ist für Sie ein Linker per excellence? Welcher Philosoph der Gegenwart ist Ihr Favorit?
Der Gründungsvater der Linken ist für mich nicht Karl Marx, sondern Jean Jacques Rousseau, wo sich fast alle Dinge, die die Linke in irgendeiner weise ausmacht, schon vorfinden; angefangen beim Sentimentalismus der Gefühlskultur, beim Glauben an das Gute im Menschen und bei der Hoffnung seiner Verbesserbarkeit. Der große Konservative hingegen ist für mich David Hume auf der gemäßigten, Thomas Hobbes auf der dunklen Seite. In der Gegenwart würde ich Hermann Lübbe als den großen Wertkonservativen nennen.
Wird der neue Mensch, von dem nicht nur die Linke träumt, wieder ein linker oder vielleicht doch ein konservativer sein?
Der Konservative überläßt die Schaffung des neuen Menschen, wenn überhaupt nur einem – dem Allmächtigen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Dr. Stefan Groß
Ist Multiple Sklerose heilbar? – Im Interview mit Nicolaus König
Eine der prominentesten Politikerinnen Deutschlands, Malu Dreyer, erste Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, hat Multiple Sklerose, und diese Thematik Anfang 2013 – im Fokus ihres politischen Amtes – erneut in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gestellt. Ist Multiple Sklerose in Deutschland immer noch ein Tabu-Thema und warum? Wie viele Fälle sind in der Bundesrepublik bekannt, wie hoch ist die Dunkelziffer?
Bei der Frage nach der Behinderung in einer Tätigkeit stellt sich immer das Problem, inwieweit ist jemand dauerhaft und unter Stressbelastung leistungsfähig, und inwiefern muss man Behinderte oder auch chronisch Kranke unter diesem Aspekt sehen. Eine chronische Krankheit wie die MS ist kein Defekt in dem Sinne, wie sie beispielsweise Minister Schäuble hat. Im Gegensatz hierzu, zu einem Zustand, bei dem sich nichts mehr ändert,ist der Verlauf der MS offen, im Zustand der Entwicklung und Veränderung. Im Unterschied zur Behinderung als Folge eines einmaligen Ereignisses sieht man bei der chronischen Erkrankung erst innerhalb einer gewissen Zeit, was der Betroffene kann oder eben nicht kann. Doch hier hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden, da man erkannt hat, was die Betroffenen Außergewöhnliches zu leisten imstande sind. Was man also zunehmend sieht, ist die Leistungsfähigkeit dieser Menschen, die trotz MS ihren Alltag großartig bewältigen. Von einer Tabuisierung von MS möchte ich heute nicht mehr sprechen. Die Zahl der Fälle liegt in Deutschland mit größter Wahrscheinlichkeit bei 120.000. Diese Zahlen sind nicht geschätzt, sondern untersucht. Die Dunkelziffer ist nicht sehr hoch, sie liegt vielleicht bei 5-10 Prozent.
Bei Multiple Sklerose handelt es sich um eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems, was ist eine Entmarkung?
Dazu muss man wissen, dass das Nervensystem des Menschen (über 100 Milliarden Nervenzellen) so funktioniert, dass von der Nervenzelle aus ein elektrischer Impuls auf die nächsten Nervenzellen übertragen wird. Diese Übertragung läuft über ein Axon, dem Nervenkabel. Dieses ist, wie in der Elektrizität auch, von einer Isolierschicht ummantelt: nur mit dem Unterschied, dass im Nervensystem des Menschen diese Isolierschicht nicht nur eine isolierende Aufgabe gegenüber anderen Zellen hat, damit die Nervenimpulse nicht übertragen werden, sondern auch eine beschleunigende Aufgabe. Und diese Isolierschicht wird primär im Laufe der Krankheit angegriffen und dann kommt es auch zu einem Nervenzelluntergang. Aber im Vordergrund steht erst die Entmarkung, die Zerstörung der Isolierschicht.
Wie erkenne ich, dass ich möglicherweise Multiple Sklerose habe? Gibt es eine Art von Früherkennung durch mögliche Vorsorgeuntersuchungen?
Die Diagnose MS ist zunächst zuerst eine klinische. Bei einem Betroffenen, der keine Beschwerden hat, würde man zunächst keine MS diagnostizieren, obwohl wir wissen, dass es Menschen gibt, die mit entsprechenden Veränderungen in ihrem Nervensystem leben, ohne dass sie es merken. Aber die Diagnose selbst wird auch heute noch primär anhand der Beschwerden festgestellt, zusätzlich durch Untersuchungen im Kernspintomogramm und des Nervenwassers u. a. Aber MS ist keine Erkrankung, die man anhand technischer Untersuchungen vorzeitig erkennen bzw. diagnostizieren kann, beispielsweise durch gezielte Frühuntersuchungen. Präventive Maßnahmen sind daher nicht möglich.
Ist diese Erkrankung genetisch vererbbar, und wenn ja, mit welchem genetischen Risiko?
Der genetische Anteil liegt in ihrer Gesamtheit ungefähr bei 30 Prozent, wobei die eigentliche Vererbung nur einen Anteil von 15 Prozent hat. Dazu kommen aber noch andere genetisch bedingte Eigenschaften des Menschen, wie z. B. bestimmte Formen des Immunsystems, bei denen die MS öfter auftritt als bei anderen. Anders ausgedrückt, 70 Prozent sind nicht genetische Faktoren. Insofern ist die Feststellung, dass jemand vielleicht eine genetische Disposition hat diesbezüglich nicht hilfreich, weil die Aussagekraft, was daraus wird, nicht bestimmbar ist. Je näher die Blutverwandtschaft ist umso größer ist das Risiko MS zu bekommen. In der Allgemeinbevölkerung liegt die Wahrscheinlichkeit eine MS zu bekommen bei ca. 0,15%.Bei Geschwistern mit einem MS-Betroffenen beispielsweise steigt die Zahl auf 5 Prozent. Ein einigen Zwillingen liegt sie bei bis zu 30 Prozent. Wenn beide Elternteile MS haben steigt das Risiko für deren Kinder auf 12 bis 15 Prozent.
Krankheitsverläufe sind typenspezifisch, gibt es bei einer MS-Erkrankung auffällige und immer wiederkehrende Symptome?
Die häufigsten Symptome bei MS sind Gefühlsstörungen, Sehstörungen und Störungen der Beweglichkeit, also der Motorik. Bezüglich der Gefühlsstörungen ist vielen Menschen gar nicht klar ist, dass das nicht nur zu einem Gefühlsverlust, sondern auch zu Fehlempfinden und Überempfindlichkeiten kommen kann, zu Symptomen, die man sonst nicht kennt. Zum Beispiel, dass man etwas als kalt oder heiß empfindet, obwohl dem nicht so ist, oder einem Gefühl des ständigen Vibrieren oder Kribbelns. Letzteres kennt man sonst nur als flüchtiges Symptom bei einer „eingeschlafenen“ Extremität.Typisch für die Sehstörungen ist das Verblassen der Farben.Seltener kommt es auch zu Doppelbildern. Und schließlich – für alle sichtbar – motorische Einschränkungen – vorwiegend Störungen des Gehens oder der Handfunktion. Prinzipiell gibt es bei MS keine Störung, die nicht auftreten kann.
Dank der modernen Medizin und den diagnostischen Möglichkeiten sind viele Krankheiten heilbar, was macht die „Heilungschancen“ bei MS so kompliziert und ist eine Heilung überhaupt möglich?
Eine Heilung ist nicht möglich, obwohl die Krankheit heute gut behandelbar ist. Jeder Mensch, der behauptet, er könnte einen MS-Kranken heilen, sagt die Unwahrheit. Es ist deshalb noch unmöglich, weil die eigentlich auslösende Ursache, warum MS entsteht und welche Faktoren dafür entscheidend sind, immer noch unbekannt ist. Wir kennen aber eine Reihe von Bedingungen unter denen es zu einer MS kommt. Wir wissen beispielsweise, dass es sich um eine sogenannte Autoimmunkrankheit handelt, weshalb der Körper das eigene Nervengewebe angreift.
Aber neben den oben genannten genetischen Bedingungen gibt es eine ganze Reihe von anderen Faktoren, von denen wir heute wissen, dass sie zu Entstehung und z. T. auch zu weiteren Progression einer MS-Erkrankung beitragen wie Rauchen, stark fleischhaltige Ernährung, bestimmte Virusinfektionen u. a.
Umgekehrt ist es z. B. so, dass ein Säugling, der länger als ein halbes Jahr ausschließlich gestillt wurde, ein geringeres Risiko hat später eine MS zu bekommen, als bei einer kürzeren Stillphase. Auch die Beachtung aller bekannter Faktoren würde weder die Entstehung einer MS verhindern noch kann man dadurch den Verlauf der MS definitiv zum Stillstand bringen, aber eben optimieren.
Welche Medikamente können den Krankheitsverlauf verzögern, wie ist der Stand der Forschung?
Seit 20 Jahren haben wir eine zunehmende Zahl von Medikamenten, mit denen man den Krankheitsverlauf beeinflussen kann, die alle von derMS als einer Autoimmunkrankheit ausgehen. Diese Medikamente beeinflussen also das Immunsystem. Als „Basistherapeutika“ werden heute die sogenannten Immunmodulatoren eingesetzt, Medikamente also, mit denen man in einzelne Abläufe des Immunsystems eingreifen kann, um dadurch das Fortschreiten der Krankheit zu reduzieren. Medikamente mit einem geringen Risikos bei relativ guter subjektiver Verträglichkeit. Der Schwerpunkt der Wirkung liegt in der Schubreduktion, die bei ca. 30% liegt. Auch die Progression der Behinderung wird offensichtlich positiv beeinflusst. Bei unzureichender Wirkung dieser Basismedikamente werden zur Therapieeskalation stärker wirksame Medikamente mit ca. 60% Schubreduktion eingesetzt, allerdings zum Preis der stärkeren und z. T. auch gefährlicheren Nebenwirkungen. Seltener werden heute noch Immunsuppressiva bei schweren bzw. schwer beeinflussbaren Krankheitsverläufen eingesetzt, die entsprechend ihrem Namen nicht nur einzelne Schritte im Ablauf der immunologischen Prozesse beeinflussen sondern das ganze Immunsystem unterdrücken.
Engagiert sich die Pharmaindustrie mit Nachhaltigkeit für MS oder wünschten Sie sich hier mehr Engagement und Initiativen?
Man kann der Pharmaindustrie sicherlich nicht vorwerfen, dass sie nicht genug dafür tut, denn MS ist ein riesiger Markt. Wir rechnen weltweit mit 2 bis 3 Millionen MS-Betroffenen. Allein in Deutschland kostet eine moderne immunologische Therapie zwischen 20.000 bis 30.000 Euro pro Jahr. Somit ist ein finanzieller Anreiz vorhanden, der die Industrie durchaus herausfordert, neue Medikamente auf den Markt zu bringen.Ein Problem ist aber, dass die Pharmaindustrie, die immer beweisen muss, dass diese neuen Medikamente besser sind als die vorherigen, an der Beurteilung und damit Erforschung älterer und eventuell auch wirksamer und billigere Medikamente kein Interesse hat. Derartige Untersuchungen sind so aufwendig und teuer, dass nur die Pharmaindustrie die Mittel hat, sie durchzuführen.Deshalb besteht darin ein Problem, dass die Pharmaindustrie eine solche Forschung nicht unterstützt.
Meinen Sie, dass diejenigen, die bereits im Rollstuhl sind, nicht mehr gehen oder selbst auch nicht mehr allein essen und trinken können – durch die richtigen Medikamente wieder auf die Beine kommen?
Hier muss man unterscheiden, ob es sich um einen Zustand handelt, der im Rahmen der akuten Entzündung der Erkrankung aufgetreten ist, dann sind die die Chancen z. B. durch eine Kortisonbehandlungrelativ gut, sich wieder zu erholen. Das Problem ist, wenn jemand über lange Zeit schon eine schwere Behinderung hat und wir unterstellen müssen, dass die Nervenfasern, die dafür verantwortlich sind, zerstört sind. Dann sind die Chancen nach dem momentanen Stand der Forschung geringer, dass dieser Zustand zurückgebildet werden kann. Aber wann man solche Differenzierungen trifft, wann man etwas oder nichts mehr machen kann, bleibt weiter sehr schwierig zu entscheiden. Was hierbei oft übersehen wird, ist die Aufgabe der symptomatischen Therapie, d. h. wie kann ich mit einer Therapie, die eben nicht die immunologischen, sondern sich im Bereich der Rehabilitation bewegt, denjenigen also dazu bringen, dass er möglichst optimal mit seinem Zustand zurechtkommt. Durch solche symptomatischen Therapien kann bei Patienten mit Behinderungen im Rahmen der MS oft sehr viel erreicht werden. Denn wenn man gar nichts macht, wird die Situation automatischer schlechter.
Viele der MS-Betroffenen stellen sich die Frage: „Warum ich? Warum bekam ich MS gerade zu dem Zeitpunkt?“ Meinen Sie, dass der Auslöser MS auch mit Stress zu tun hat – ob im Job, in einer Beziehung? Haben diejenigen eine schlechte Abwehr?
Grundsätzlich haben MS-Betroffene gegenüber allgemeinen Infektionen eine erstaunlich gute Abwehr. Bei den Betroffenen gibt es keine allgemeine Abwehrschwäche. Auch wenn es sich bei der MS um einen immunologischen Prozess handelt, heißt das nicht, dass das Immunsystem als Ganzes geschädigt is. Bei akutem Stress muss man allerdings zwischen auslösendem Stress und Stress innerhalb des Krankheitsverlaufs unterscheiden. Ich glaube nicht, dass Stress für das Entstehen der Krankheit verantwortlich ist. Zweifellos ist es aber so, dass Stress bei einer bestehenden MS-Erkrankung, die Situation, durchaus negativ verändern kann, was aber nicht heißen soll, dass ein MS-Betroffener unter eine Käseglocke gestellt und von der Außenwelt abgeschottet werden muss. Extrembelastungen können – müssen aber offensichtlich nicht – wahrscheinlich zu einer Verschlechterung führen.
Warum haben mehr Frauen als Männer MS?
Auch das ist eine Frage, die wahrscheinlich mit in die Genetik hereinspielt, aber auch in die hormonelle Situation. In der Frühphase der Erkrankung, auch bei Kindern in der präpubertären Phase, wissen wir, dass die Geschlechterverhältnisse viel ausgeglichener sind. ImErwachsenenalter hat die hormonelle Situation der Frau einen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf der Krankheit.
Kann man es beeinflussen, dass man keinen Schub mehr bekommt?
Das ist der Schwerpunkt der immunmodulierenden Medikamente. Ich will mich allerdings nicht dazu versteigen zu sagen, dass man die Garantie bekommt, keinen Schub zu bekommen, aber die Chancen, dass man weniger Schübe erleidet als unbehandelt, sind eben sehr groß. Mindestens 30 bis 60 Prozent bei den modernen Medikamenten, die aber auch ihre Nebenwirkungen haben. Durch diese Medikamente ist es möglich, dass einzelne Patienten keine Schübe mehr haben. Aber eine Garantie ist es leider noch keine.
Was halten Sie davon, wenn man statt der verschiedenen Medikamente, die die Pharmaindustrie MS-Betroffenen vorschlägt – homopatische Medizin oder Ähnliches – gibt? Verschlimmert man dadurch eher die Krankheit?
Bei diesen sogenannten alternativen Medizinen, dazu gehört die Homöopathie, muss man unterscheiden, ob die Grundkrankheit oder der subjektive Zustand beeinflusst werden soll. Ich halte es für ausgeschlossen, das man mit alternativen Medikamenten oder alternativen Therapieverfahren den Verlauf der Krankheit nachhaltig beeinflussen kann. Aber worin der Schwerpunkt dieser Verfahren liegt, ist das subjektive Wohlbefinden. Da die Leistungsfähigkeit der MS-Betroffenen eingeschränkt ist, bleibt es wichtig, dass die subjektive Befindlichkeit und auch der Umgang mit den Symptomen positiv beeinflusst wird, um auf diese Art und Weise zu erreichen, dass es den Betroffenen besser geht. Da können alternative Methoden im Einzelfall hilfreich sein. Ich halte es allerdings für schwierig, wenn jemand, der eine immunmodulierende Therapie unbedingt braucht, auf diese zugunsten einer homopatischen verzichtet. Da der Verlauf der MS oft nicht vorhersehbar ist – es gibt ja auch einen kleinen Prozentsatz von MS-Betroffenen mit einem jahrelang sehr günstigen Verlauf –, ist in Einzelfällen z. B. bei einer homöopathischen Behandlung keine Kausalität zwischen einem günstigen Verlauf und der Wirksamkeit der Therapie nachzuweisen. Das ist das Problem.
Im Augenblick sucht ja das Klinikum Großhadern nach eineiigen Zwillingen, von welchen einer MS hat. Was kann durch diese Forschung erzielt werden?
Der Erforschung der MS liegt ein Tiermodell zugrunde. Es gibt erstaunlicherweise kein Tier, das eine MS Krankheit spontan entwickelt, d.h. alle Tierversuche, die seit 60 Jahren in der Erforschung der Medikamente angewandt werden, sind künstlich induzierte Krankheiten, die man diesen Tieren, meistens Mäusen, beifügt. Nun ist es vor kurzer Zeit im Max-Planck-Institut in Martinsried bei München durch Prof. Weckerle gelungen, ein Mausmodell zu züchten, das unter normalen Lebensbedingungen ein Krankheitsbild entwickelt, das wie eine MS einzuordnen ist, d.h. Schübe und Remissionen bekommt. Dabei hat sich herausgestellt, dass diese Mäuse gesund bleiben, wenn man sie unter absolut sterilen Bedingungen hält. Nun gibt es die Vorstellung, dass das allein von der Oberfläche größte Immunsystem mit seiner Unzahl von Bakterien, der Darm des Menschen, eine Rolle spielt. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass die Darmbakterien eine viel umfangreichere Variabilität haben als wir dachten, und dass möglicherweise – so der jetzige Ansatz – hier eine Erklärung dafür zu finden ist,warum bei gleicher genetischen Ausstattung – eineiige Zwillinge – der eine unter einer MS leidet und der andere nicht.
Herr Dr. König, als ehemaliger Chefarzt der Marianne-Strauß-Klinik sind Sie zugleich Vorsitzender der Bayerischen Multiple Sklerose Stiftung (DMSG). Welche Ziele verfolgt die Stiftung?
Die Stiftung ist eine Einrichtung, die primär das Ziel hat, die Arbeit des bayerischen Landesverbandes der DMSG zu unterstützen. Ein erheblicher Teil der Aufwendungen seitens des Landesverbandes um unsere 7.000 Mitglieder zu betreuen, erfolgt über Spenden, Erbschaften und freiwillige Zuwendungen. Ein wichtiger Teil, leider ein nicht ausreichender, über öffentliche Zuwendungen. Da viele dieser Zuwendungen aber nicht geplant oder vorausgesagt werden können, versucht die Stiftung durch Anlegen eines Kapitalstocks die bayerische DMSG in ihrer Arbeit zu unterstützen, um eine kontinuierliche und zuverlässige Versorgung zu gewährleisten. Als eigene Aufgaben der Stiftung werden Personen, bzw. Angehörigedurch den bayerischen Pflegepreis gewürdigt, die mit hohem Engagement MS-Kranke zu Hause betreuen. Mit diesem Preis wollen wir den Angehörigen für ihre großartigen Leistungen in der Öffentlichkeit ein Zeichen setzen. Darüber hinaus werden auch finanziell in Not geratene Personen im Einzelfall durch die Stiftung unterstützt, etwas was die DMSG nicht leisten kann und auch andere Projekte in Zusammenhang mit der MS gefördert.
Bücher für Nomaden – Interview mit Jürgen Petry
Stefan Groß: Herr Petry, Sie haben sich 35 Jahre, teils beruflich, teils auch privat, mit dem Verlagswesen und dem Buchhandel in der Mongolei beschäftigt und vor einigen Jahren auch ein Buch über das Land geschrieben. Wie kamen Sie dazu?
Jürgen Petry: Es fing durch einen Zufall an. Im Sommer 1978 fragte mich der Leiter der Auslandsabteilung im Ministerium für Kultur der DDR, ob ich mir vorstellen könnte für einige Wochen in die Mongolei zu reisen. Dort sollte eine, (Originalfassung) „Analyse des Ist-Zustandes und der Wirksamkeit des Verlagswesens und Buchhandels in der Mongolischen Volksrepublik, unter besonderer Berücksichtigung künftiger Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der sozialistischen Hilfe durch die DDR“, erarbeitet werden. Die Sprache war etwas gestelzt, doch derAuftrag klar. Ich konnte es mir vorstellen und so flog ich drei Wochen später, zusammen mit meinem Kollegen und Freund Justus Weiss nach Ulan Bataar. (wörtlich übersetzt heißt das „Stadt der roten Helden“, vor der Revolution hieß sie Urga)
Stefan Groß: Gab es dafür einen politischen Hintergrund? Verfolgte man ein bestimmtes Ziel oder hatte man sich im Kulturministerium der DDR einfach so gedacht, helfen wir denen mal etwas?
Jürgen Petry: Politischer Hintergrund waren wohl die Spannungen zwischen der Sowjetunion und China. Bereits einige Jahre zuvor hatte der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ beschlossen, die Mongolei wirtschaftlich und kulturell kräftiger zu unterstützen. Jedenfalls liefen in dieser Zeitbereits mehrere wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen. Beteiligt waren daran mehr oder weniger alle sozialistischen Länder. Für die DDR war einer der Schwerpunkte Kultur und Bildung. Jährlich erhielten hunderte junge Mongolen, Frauen wie Männer, in der DDR eine Berufsausbildung oder einen Studienplatz an Hochschulen und Universitäten. Schwerpunkt war Leipzig. Das erklärt auch die Verbreitung der deutschen Sprache in der Mongolei. Damals jedenfalls. Die geplante Hilfe für die Buchbranche war lediglich eine Aufgabe von vielen und keineswegs die bedeutendste.
Stefan Groß: Sie sollten ja zunächst den Ist-Zustand untersuchen. Was fanden Sie vor?
Weitaus mehr als wir erwartet hatten. Dazu muss ich voraus schicken, dass die Mongolei nach der Revolution von 1924 praktisch keine Bildungsträger mehr besaß, also ein Volk von Analphabeten war. Die Träger der mongolischen Kultur und Bildung waren bis dahin vor allem die lamaistischen Mönche in den Klöstern. Die wurden, teils durch die Interventionstruppen des Generals Ungern – Sternberg, vor allem aber durch die des Revolutionsführers Suche Bator geschleift und die Mönche nahezu ausgerottet (vernichtet sollen 137 Klöster worden sein). Was an unwiederbringlichen Kulturgütern vernichtet wurde, kann man nicht einmal erahnen. Das jedenfalls war kein Ruhmesblatt der kommunistischen Revolution. Nach den Revolutionswirren hatte das Land, das mit 1 565 000 Quadratkilometern so groß ist wie Frankreich, Deutschland, Polen, Rumänien, Ungarn und ein paar Quadratkilometer dazu, noch ca. 700 000 Einwohner, keine einheitliche Sprache, keine Schulen, keine nennenswerte medizinische Versorgung und auch keine funktionierende Verwaltung. Das alles war uns bekannt, nachdem wir uns mit der jüngeren Geschichte des Landes befasst hatten. Vorgefunden haben wir ein Volk ohne Analphabeten, 5 spezialisierte Verlage, 9 Buchhandlungen in der Hauptstadt und 18 in den Aimakhauptstädten (das sind Verwaltungszentren), Schulen, Hochschulen, 2 Universitäten und vieles andere mehr. Betrachten wir es vom Ausgangspunkt her, war das eine ungeheure kulturelle Leistung, vor der wir die allergrößte Hochachtung bekamen.
Stefan Groß: Das klingt ja alles ganz gut. Was gab es denn da noch zu unterstützen? Entschuldigen Sie bitte die etwas flapsige Frage. Aber sagen Sie uns bitte vorher noch ein Wort dazu, wie das alles erreicht wurde, trotz Krieg mit Japan, Unterstützung der Sowjetunion im Krieg mit Deutschland, zwei Schriftreformen und anderes mehr?
Jürgen Petry: Sicher lässt sich nicht alles an europäischen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten messen. So wurde zum Beispiel die Schulpflicht ein wenig rigoroser als bei uns durchgesetzt. Kinder kamen mit 6 Jahren, bis auf die Ferienzeiten, ins Internat in die Aimakhauptstadt und mit 14 erst zurück zu ihren Eltern, oder, die besonders Begabten, zur Studienvorbereitung. Wer im Ausland oder in der Hauptstadt studiert hatte, der ging dorthin, wo er gebraucht wurde und nicht ins Ausland. Deshalb gab es auch keinen Ärztemangel in den entfernten Gebieten, um nur ein Beispiel zu nennen. Und die Alphabetisierungskampagnen für Erwachsene beruhten auch nicht auf dem Freiwilligkeitsprinzip. Um auch gleich den ersten Teil ihrer Frage zu beantworten und dabei will ich mich auf die Buchbranche beschränken. Schwieriger als Bücher zu schreiben und herzustellen, war es, sie zum Leser zu bringen. Außerhalb der Hauptstadt gab es nur ganz wenige Kilometer befestigte Straßen. Trotzdem haben es die mongolischen Buchhändler und Verleger geschafft, das Land termingerecht mit Schulbüchern zu versorgen und Bücher in die entferntesten Orte zu transportieren. Nicht sehr schnell, nicht immer vollkommen bedarfsgerecht, zugegeben, aber geschafft haben sie es. Heraus kam bei unserer Reise ein Unterstützungsprogramm, das, wenn auch nicht vollständig, so doch Schritt für Schritt abgearbeitet wurde. Es reichte von der kostenlosen Lizenzvergabe an mongolische Verlage, bis zur Ausrüstung von Buchhandlungen oder die Bereitstellung von Bücherbussen. Das war nicht wenig, für die wirtschaftlich schwächelnde DDR.
Stefan Groß: Herr Petry, Sie waren 12 Mal in der Mongolei. Zuletzt im September des letzten Jahres. Erzählen Sie uns doch bitte, was Sie diesmal besonders beeindruckte.
Jürgen Petry: Viel Positives aber genau so viel Negatives. 1978 hatte das Land ungefähr 1.2 Millionen Einwohner, heute sind es 2.9 Millionen. In der Hauptstadt lebten damals 320 000 Einwohner, heute ca. 1.7 Millionen. Deutlich sichtbar ist der Bauboom, die mit Autos voll gestopften Straßen, teuerste Hotels, Verwaltungszentren, Internationale Konzerne, besonders aus Südkorea, China, Indien aber auch Russland, den USA und auch aus Europa. Sie alle stürzen sich auf die reichen Bodenschätze und zerstören ohne Rücksicht die dünne Grasnarbe und verschmutzen die spärlichen Wasserressourcen. Begriffe wie Umweltschutz sind weitgehend unbekannt. Das Land läuft Gefahr zur Wüste zu werden. Besonders traurig gemacht hat mich aber etwas ganz anderes. Es gibt in der ganzen Mongolei keinen einzigen Verlag mehr. In der Hauptstadt und auch in den Aimaks gibt es keine Buchhandlungen und auch keine Bücher mehr. Letzteres ist etwas übertrieben. Es gibt ein paar Druckereien die auch ein paar Bücher produzieren, aber sie haben natürlich keinen Vertrieb. Die Folgen dieser Entwicklung sind bereits jetzt spürbar. Langfristig möchte ich lieber nicht darüber nachdenken.
Stefan Groß: Was kann man dagegen tun?
Ich weiß es nicht, Herr Groß.Vielleicht löst es die Marktwirtschaft ja doch noch, aber ich bin einfach skeptisch. Andererseits haben die Mongolen in ihrer jüngeren Geschichte bewiesen, dass sie schon mit ganz anderen Problemen fertig geworden sind. Aber ohne Hilfe von außen? Wir müssen es einfach öffentlich machen. Dem dient ja auch letztlich Ihr Interview mit mir.
Das Kreuz mit der PID – Interview mit Martin Lohmann
Über kaum ein Thema wird in den letzten Jahren so intensiv und so kontrovers diskutiert wie über die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID). Philosophen wie Robert Spaemann, Ludger Honnefelder, aber auch Juristen wie Ernst-Wolfgang Böckenförde und Josef Issensee treten mit allem Nachdruck für ein generelles Verbot einer Selektion im Achzellkernstadium ein. Andererseits gibt es eine breite Front von PID-Befürwortern, zu denen beispielsweise Julian Nida-Rümelin und der australische Philosoph Peter Singer zählen, aber auch Jürgen Habermas sprach sich vor über zehn Jahren bereits für eine begrenzte Zulassung aus. Die evangelische Kirche in Deutschland zieht die Grenzen bei diesem Thema nicht so eng, woran liegt das?
Martin Lohmann: In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass in den evangelischen Kirchen die klare Position zum unbedingten Lebensschutz nicht mehr so selbstverständlich zu sein scheint wie noch vor einigen Jahren. Ein von Katholiken und Protestanten vor einigen Jahrzehnten gemeinsam herausgegebenes Dokument mit dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“ wäre heute wohl kaum so denkbar. Leider. Schade. Ich bedauere das sehr. Denn eigentlich müssten sich alle Christen darin einig sein, dass der Lebensschutz weder logische noch ökumenische Probleme mit sich bringt. Das Lebensrecht eines jeden Menschen ist vom Beginn bis zu seinem natürlichen irdischen Ende weder teilbar noch abstufbar. Es gilt ganz. Ohne Wenn und Aber. Es ist vorgegeben, kommt von Gott und entzieht sich menschlichem Zugriff. Oder auch menschlichem Übergriff.
Damit aber hier kein falscher Eindruck entsteht: Trotz der vielfach wahrnehmbaren Unsicherheit in den evangelischen Kirchen gibt es sehr viele evangelische Christen, die sehr eindeutig und deutlich für die Unantastbarkeit des Lebensrechtes und der Menschenwürde eintreten. Ich bin zum Beispiel als Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht sehr froh und dankbar für die ungezählten Freunde aus den evangelischen Kirchen und aus den Freikirchen, die hier mutig und überzeugt Position für das Leben und seinen Schutz beziehen.
Hartmut Steeb zum Beispiel, der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, hat erst jetzt wieder sehr deutlich die Abgeordneten des Bundestages unmissverständlich aufgefordert, sich uneingeschränkt für das nicht an Bedingungen geknüpfte Lebensrecht eines jeden Menschen einzusetzen. Steeb steht hier für sehr viele überzeugte evangelische Christen.
Gestatten Sie mir aber eine Anmerkung zu einer Formulierung in Ihrer Frage: Wenn Sie nun von einem Achtzellstadium sprechen, dann wird damit etwas transportiert, das dem Ernst der Angelegenheit nicht ganz gerecht wird. Denn wir wissen, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der neue Mensch beginnt und bereits alle, ich betone: alle Informationen des neuen Menschen vorhanden sind, sind aber „nur“ noch entfalten müssen. Es ist also kein werdendes, sondern immer wachsendes menschliches Leben. Darum geht es also: Wir reden hier von Menschen, nicht von Zellhaufen. Aus diesen ist niemals etwas anderes sichtbar geworden als eben ein Mensch. Deshalb verlangt die Logik jedes Nein zur Selektion und jedes Ja zum Leben.
Warum das in den evangelischen Kirchen weniger deutlich gesehen zu werden scheint als in der katholischen Kirche mit ihrem erkennbaren Lehramt, müssten Sie eigentlich andere fragen. Ich jedenfalls bleibe dabei, dass wir dringend ein vernehmbares gemeinsames Zeugnis aller Christen für etwas eigentlich christlich Normales brauchen: für die Unantastbarkeit der Heiligkeit des Lebens, die von Anfang an gilt.
Für die katholische Kirche verbietet sich – begründet durch die Heiligkeit des Lebens, die Geschöpflichkeit des Menschen und durch seine Gottesebenbildlichkeit – aus ethisch-moralischen sowie aus theologisch-metaphysischen Gründen eine PID. Ist die katholische Kirche damit unmodern?
Martin Lohmann: Nein, garantiert nicht. Sie handelt und redet vielleicht in diesen Fragen nicht immer politisch korrekt, aber dennoch bleibt die Logik des Lebens korrekt. Logik und Menschenwürde sind keine Frage von modern oder unmodern. Sie sind eine Frage von richtig oder falsch und, mehr noch, von gut oder böse. Der Kirchenstifter und Gottessohn Jesus Christus, nach dem sich die Christen benennen, bleibt unser Maßstab. Und der hat ebenfalls bekanntlich nicht nach dem gefragt, was damals gerade modern war. Er hat uns vielmehr den Schlüssel zur Wahrheit gegeben. Und der Kirche ist der Auftrag gegeben, die Wahrheit zu verkünden – ob gelegen oder nicht. Will sagen: ob modern oder nicht. Die Kirche hat sich nicht an Umfragen zu orientieren, sondern an Christus. So gesehen bleibt sie dann immer irgendwie modern, obwohl modern kein theologischer oder kirchlicher Begriff ist. Ihre Verkündigung muss wahr bleiben. Wenn Sie so wollen: Wer die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die übrigens der Nagel ist, an dem unser Grundgesetz hängt, verteidigt und an die Unverletzlichkeit des Lebensrechtes erinnert, handelt letztlich immer modern.
Warum kann ein genetischer Defekt eines Embryos nicht der Grund für eine PID sein?
Martin Lohmann: Weil die Würde des Menschen und sein Lebensrecht nicht vom Grad der Gesundheit abhängt, sondern durch die Ebenbildlichkeit und die Geschöpflichkeit des Menschen von oben gegeben ist und daher nicht abgestuft werden kann. Es darf keine Selektion geben, ebenso, wie es keine Menschen erster, zweiter oder dritter Klasse gibt. Wir haben kein Recht auf Töten, es gibt aber sehr wohl ein Recht auf Leben.
Gibt es eine „Heiligung der Behinderung“, kann man ein Leben mit schwerer Behinderung christlich verantworten, wenn man weiß, dass bei einer vorausgegangenen PID möglicherweise diese Behinderung erkannt und der Embryo vernichtet worden wäre, das Leben in dieser Form also nicht Wirklichkeit geworden wäre? Oft wird ja argumentiert, dass eine PID nicht nur der Würde und Unantastbarkeit des Lebens widerspricht, sondern dass der Wert des Menschen als „Zweck an sich selbst“ in Frage gestellt wird. Kann ein Mensch mit schwersten Behinderungen in unserer modernen Gesellschaft, wo Tod und Behinderung zunehmend verdrängt werden, ein würdevolles Dasein führen?
Martin Lohmann: Das ist eine Herausforderung an uns alle, Leben nicht abzuwerten, sondern stets wertzuschätzen. Eine Gesellschaft, die Tod und Behinderung, welche übrigens ja auch später durch einen Unfall oder eine Krankheit entstehen kann, verdrängt, verwirkt das Siegel der Humanität. Wir wären ziemlich dekadent, wenn wir nur noch Glanz und Perfektion zulassen und als vollwertig erkennen würden. Vor Gott ist jeder Mensch, in Worten: jeder Mensch!, wertvoll und voller Würde. Aus christlicher Sicht kann und darf es daher keine Minderwertigkeit geben. Ach ja: Selbst unsere Verfassung macht keine Einschränkung und setzt in Artikel 1 gleichsam dogmatisch fest: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Punkt. Des Menschen – heißt es da. Nicht: des gesunden und jungen, des erfolgreichen oder des gerade passenden Menschen. Nein, schlicht und ergreifend heißt es da: des Menschen. Und das ist auch sehr gut so!
Was spricht gegen eine – wie von einigen Mitgliedern des Bundestages befürwortet – wirklich begrenzte Zulassung der PID für behinderte Eltern mit Kinderwunsch?
Martin Lohmann: Ich weiß, dass das eine sehr schwierige Frage ist. Für die Betroffenen allemal. Aber auch sie sprengt die Logik des Lebens und der damit gegebenen Verantwortung schließlich nicht. Wenn es neues menschliches Leben gibt, muss es beschützt und behütet werden, und es darf auf keinen Fall selektiert und getötet werden. Jedes menschliche Tun hat Konsequenzen und verlangt nach positiver Verantwortung. Wer also ahnt oder weiß, dass er die Verantwortung einer möglichen Handlung eventuell nicht tragen kann, sollte sich vor der Zeugung eines neuen Menschen überlegen, was er tut. Vorher kann man Nein sagen, sobald der neue Mensch entstanden ist, gibt es eine Pflicht zur Verantwortung für dieses Leben. Und noch etwas: Es gibt kein Recht auf ein Kind. Ist dieses aber entstanden, hat es ein Recht auf Leben und Schutz.
Wenn man die PID verbietet, bedeutet dies ja nicht, dass spätere Behinderungen in der Schwangerschaft auftreten können, die dann oft zu einer Spätabtreibung führen, die gesetzlich nicht verboten ist. Warum also die PID erlauben und die gängige Praxis des Schwangerschaftsabbruchs nicht? Ist das nicht logisch inkonsequent?
Martin Lohmann: Sie sprechen einen heiklen Punkt an. In der Tat gilt die von mir genannte und markierte Logik ganz und immer. Man sollte also eine in sich unlogische gesetzliche Regelung nicht zum Maßstab nehmen, sondern umgekehrt: Das Ja zum Leben muss der Maßstab sein! Und ein Menschenrecht auf Abtreibung, was immer die Tötung eines noch nicht geborenen Menschen ist, darf und kann es niemals geben – auch wenn verwirrte Leute dies schon gefordert haben oder fordern.
Herr Lohmann, Sie haben ein Buch mit dem Titel „Das Kreuz mit dem C“ geschrieben und beschäftigen sich darin mit dem christlichen Wertebild in den Unionsparteien, eine der vielen Fragen lautet dabei: Wie christlich ist die Union? Nun votieren einige Unionsmitglieder, beispielsweise die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, für eine begrenzte Zulassung der PID. Was bedeuten solche Argumentationen für das Werteprogramm einer christlichen Partei? Steht sie damit vor dem Ausverkauf?
Martin Lohmann: Oh je, jetzt machen Sie aber ein großes Fass auf. Wir haben mit dem Arbeitskreis Engagierter Katholiken AEK in der CDU, der in der Folge meines von Ihnen erwähnten Buches entstanden ist, gegen alle Widerstände aus der Parteiführung versucht, einige katholische Überzeugungen in ökumenischem Geist in dieser Partei wieder zu erwecken und von einer durch Vergessen und Verdrängen entstandenen Staubschicht zu befreien. Inzwischen wird über alle diese Themen zum Glück wieder lebhaft innerhalb der CDU diskutiert. Andererseits wächst die nicht unbegründete Sorge, dass sich die Union aus welchen Gründen auch immer fahrlässig ihres Markenkerns beraubt und man sehenden Auges in Kauf zu nehmen scheint, bald unverkennbar unerkennbar zu sein. Ich hätte so gerne Unrecht mit dem, was ich in meinem Buch damals befürchtet habe: dass die Union in ein riesiges programmatisches Nichts fallen könnte und ihren mit dem C verbundenen Mehrwert leichtsinnig verschleudert. Nun fürchte ich, dass ich mit meinen Befürchtungen vielleicht Recht behalten könnte. Das aber wäre fatal. Und tragisch. Denn eigentlich steckt in der CDU viel mehr Zukunftsmusik und Profil, als das zurzeit zugelassen und erkannt wird. Wenn man nicht mehr erkennt, was die CDU unterscheidet oder unterscheiden könnte, wenn man sein eigenes Profil verrät, dann muss und darf man sich nicht wundern, wenn es zum billigen Ausverkauf kommt. Deshalb hoffe ich nach wie vor inständig auf mentales Erwachen im Adenauerhaus. Nicht nur ich bleibe von der Einzigartigkeit, der Notwendigkeit und dem humanen Mehrwert einer Politik aus christlicher Verantwortung überzeugt.
Martin Lohmann ist katholischer Publizist, Theologe und Historiker. Er arbeitet als Verlagsleiter der Kölner Kirchenzeitungsverlages Bachem Medien und ist ehrenamtlich Bundesvorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht BVL. Zudem ist er Sprecher des von ihm initiierten und mitbegründeten Arbeitskreises Engagierter Katholiken (AEK) in der CDU.
Lothar de Maizière im Gespräch
Ist die heutige Bundesrepublik, das Land von dem Sie als DDR-Bürger träumten?
Ich habe als DDR-Bürger nicht von einem anderen Land geträumt, sondern ich wollte, daß mein Land, Brandenburg-Berlin, die ostdeutschen Länder, in Demokratie und Freiheit leben können – das hat sich erfüllt.
Was hätten Sie sich gewünscht, was verändert?
Ich habe mir gewünscht, daß wir die Situation mental erlebbarer gemacht hätten, und daß wir auch in symbolischen Handlungen deutlich gemacht hätten, daß eine neue Zeit beginnt. Ich habe damals vorgeschlagen, daß wir nicht den 12. Deutschen Bundestag wählen, sondern den ersten gesamtdeutschen Bundestag, dies wäre ein Signal für die Menschen gewesen. Da herrschte zunächst im Westen die Meinung, wir wären nur eine vergrößerte Bundesrepublik und machen so weiter wie bisher. Daß die Vereinigung das Leben aller Deutschen verändert, ist bei den Westdeutschen erst sehr viel später angekommen.
Fast 22 Jahre sind nach dem Fall der innerdeutschen Grenze vergangen. Wo stehen wir heute, wo steht die CDU?
Wir stehen als Deutschland in Europa, auch in internationaler Verantwortung. Deutschland ist erwachsen geworden, außenpolitisch souverän, es hat eine wichtige Rolle bei der Ost-Erweiterung der europäischen Union gespielt, da waren die anderen westeuropäischen Länder anfangs gar nicht davon begeistert. Die CDU hat sich aus einem rheinisch-katholischen Wahlverein zu einer Partei der Mitte entwickelt; sie ist die einzige Partei, die im echten Sinne heute Volkspartei ist. Ich bedaure, daß die Personaldecke der CDU so dünn ist, so daß man Mühe hat, mitunter Posten verantwortlich zu besetzen. Das ist aber eine Frage, die mit der Gesamtfrage von Glaubwürdigkeit und Politik – und wie Politik sich darstellt – zusammenhängt. Dies ist damit nicht unbedingt ein CDU-spezifisches Phänomen.
Gibt es heute noch einen Unterschied zwischen der Ost- und der West – CDU, von der Sie auch in Ihrem Buch sprechen?
Nach 20 Jahren sind auch die handelnden Personen andere geworden, und ich glaube, daß die jetzt politisch Handelnden gesamtdeutsch sozialisiert sind. Die anderen waren westdeutsch, die anderen ostdeutsch sozialisiert; ich gestehe, daß ich die DDR nicht ganz losgeworden bin, will ich auch nicht, weil es ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen ist, aber die Politiker, die jetzt handeln, wie Angela Merkel und Thomas de Maizière, sind in der Wendezeit politisch sozialisiert worden und sind gesamtdeutsche Politiker, empfinden auch eine gesamtdeutsche Verantwortung. Ich bin mir aber sicher, daß die Arbeitslosen in Sachsen Angela Merkel genauso anerkennen wie die in Gelsenkirchen.
In Ihrem neuen Buch „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit“ setzten Sie sich mit dem Thema Lüge auseinander, was heißt, „dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen“?
Ich habe in DDR-Zeiten erlebt, daß mich meine Kinder immer wieder fragten, ob sie das, was wir zuhause politisch geäußert haben auch in der Schule sagen könnten. Oder, daß sie mich fragten, ob es zwei Wahrheiten gebe, eine private und eine für die Öffentlichkeit bestimmte. Dieses Gefühl, seine eigenen Kinder von vornherein zur Janusköpfigkeit zu erziehen, und zu sagen, aus taktischen Gründen würde ich die Frage in der Schule anderes beantworten als zuhause, dies hat mich so umgetrieben, und das war eigentlich der Hauptgrund, eigentlich die Hoffnung, diese Mißstände zu ändern, das ich damals in die Politik gegangen bin. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt, überhaupt Politik zu machen.
Was verbinden Sie mit Michael Gorbatschow, der das Vorwort für Ihr Buch, das tiefere Einblicke in die Wendezeit gibt, geschrieben hat?
Es ist komisch. Er ist einer der großen Weltveränderer und trotzdem ist er fast eine tragische Figur. Er ist angetreten, einen neuen Sozialismus, eine reformierte UdSSR, zu schaffen. Er hat den Zerfall der Sowjetunion mitbewirkt, aber den Sozialismus eben nicht dahin führen können, wohin er wollte. Er ist mit Sicherheit einer der großen Weltbeweger der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts. Ich bin mit ihm sehr eng befreundet und wir haben gemeinsam die letzten Jahre den „Petersburger Dialog“ geleitet. Er ist eine historische Persönlichkeit, denn kaum einer wie er hat die Welt im 20. Jahrhundert so dramatisch verändert.
Wie beurteilen Sie die soziale Lage in Ostdeutschland?
Besser, als die öffentliche Darstellung, aber schwierig genug noch immer.
Bevölkerungsabwanderung, demographischer Wandel, welche Zukunft hat der Osten Deutschlands?
Wir werden noch einige große Umbrüche erleben. Wir haben nach der Wiedervereinigung festgestellt, daß die Landbevölkerung nicht in die Selbständigkeit gehen wollte, sondern die Großbetriebe behalten hat, die LPGs, die sich jetzt zwar anders nennen, haben keine Erben, die Kinder sind nicht mehr in der Landwirtschaft geblieben. Wir werden also eine wirkliche Umkrempelung auf dem Land erleben und damit auch der Landeskultur. Der Landwirt ist nicht nur Bauer, sondern betreibt die Landeskultur, ist der Ökologe. Dies wird schwierig werden. Zudem haben wir eine starke Überalterung im Osten, die fast dramatisch ist. Vor allem in Leipzig, Görlitz, in all diesen Städten, die schön hergerichtet sind, aber wo die Stadtabwanderung stattgefunden hat. Diese Städte locken jetzt westdeutsche Bundesbürger an, damit diese dort billige Wohnungen beziehen. Wir werden in zehn Jahren Pflegeheime brauchen. Ich glaube dennoch an eine Durchmischung mit den anderen Osteuropäern. Wir erleben zunehmend, daß auch an den Randgebieten Polen in Deutschland arbeiten und umgekehrt. Ich hoffe doch, daß er mit der zunehmenden Industrialisierung zu einer gewissen Rückwanderung kommt. Wir werden uns aber darauf einstellen müssen, daß die Bevölkerung in Deutschland schwindet. Desto wichtiger ist gerade die Frage der Integration von Ausländern bei uns, und daß wir dort vernünftige Wege gehen. Insofern hat mich die Äußerung unseres neuen Innenministers schon ziemlich verwundert.
Dieses Jahr ist Liszt-Jahr, was schätzen Sie an diesem großen Komponisten und Dirigenten?
Liszt ist ein „Europäer in Thüringen“. Ich habe als Kind noch erlebt, wie seine Musik noch für Siegesmeldungen der Deutschen Wehrmacht mißbraucht wurde – das hat er nicht verdient. Es gibt verschiedene Werke, für die ich die größte Bewunderung habe, sein Klavierspiel gehört allerdings nicht dazu. Zweifellos ist Liszt einer der großen knorrigen Figuren der romantischen Epoche im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er hat dem Klavierspiel in der Virtuosität Dinge abverlangt, wo er offensichtlich von der Geigenvirtuosität des Paganini inspiriert worden ist. Er war ein Feuerwerker und ein genialer Techniker, der leider ein wenig hinter der Figur von Richard Wagner verblaßt.
Welche Bedeutung hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer in Ihrem Leben gespielt, insbesondere sein Buch „Widerstand und Ergebung“?
Ja, Bonhoeffer war eine politisch-theologische Persönlichkeit, die mich mein Leben lang faszinierte. Bonhoeffer hatte sich mit der Zwei-Reiche-Lehre Luthers auseinandergesetzt und hat die Königsherrschaft Jesus Christi über Himmel und Erde gegenübergestellt. Insofern war seine Lehre für uns in der evangelischen Kirche in der DDR mit dem Staat wichtig. Der sozialistische Staat war immer der Auffassung, die Kirche muß sich um das seelische Wohl kümmern, wir kümmern uns um das irdische. Dieser staatlichen Auffassung aber haben wir widersprochen, denn, wenn wir Nachfolger von Jesus Christus sein wollen, dann müssen wir die Königsherrschaft von Jesus Christi im Himmel und auf Erden bezeugen. Und insofern nehmen wir uns das Recht heraus, unsere eigenen Angelegenheiten auf Erden mit zu bestimmen. Dies war eine sehr starke theologische Rechtfertigung des Tuns, was die evangelischen Kirchen in Ostdeutschland geleistet haben.
Von Lothar de Maizère ist gerade sein neues Buch: „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen, Meine Geschichte der deutschen Einheit“, unter Mitarbeit von Volker Resing im Herder-Verlag erschienen.
Im Interview, Dr. Thomas Goppel, MdL, Staatsminister a. D.
Herr Dr. Goppel, ich zitiere Sie: „Erst Bildung eröffnet dem Menschen Chancen für ein Leben in Freiheit, Selbstentfaltung und Verantwortung.” Wenn Bildung ein Gut erster Klasse ist, widerspricht dem nicht, dass Studierende für ihre Bildung zahlen müssen? Ein heftiger Streit um die Abschaffung der Studiengebühren führt derzeit zu einer angespannten Lage mit dem Koalitionspartner FDP.
Wir finden eine verquere Gemengelage vor. Die FDP, die die Studienbeiträge erst nicht wollte, will sie jetzt beibehalten. Unser Ministerpräsident wollte sie nie, hat sie aber sozial so abgefedert, dass sie ohne weiteres beibehalten werden könnten. Einer wie ich hat immer von Studienbeiträgen gesprochen, nie – wie übrigens Sie auch – von Gebühren. Auch für Bayern gilt: Der Staat finanziert die Ausbildung aller. So, wie die jungen Meister wollten wir allerdings auch die Studierenden um die Spitzenfinanzierung ersuchen, die vor allem in unberechenbar großen Zulaufjahren – jetzt also auf Sicht – anfällt. Wir wollen also nicht schröpfen, sondern gezielt zusätzlich fördern, Gutes tun.
Wir wollen nicht verdienen an den Studenten und ihren Abgaben, sondern wir wollen gemeinsam mit ihnen ihr Studium besser und direkter gestalten. Im übrigen gilt auch hier: Etwas, für das nichts bezahlt wird, ist nichts wert, das wissen wir aus allen alltäglichen Begegnungen. Seitdem bezahlt wird, kümmern sich Studierende um den optimierten Ablauf ihres Studiums. Das aufzugeben, bin ich ehrlich gesagt auch nicht bereit. Studienbeiträge machen auch ein ganz klein wenig darauf aufmerksam, dass die Gesellschaft eine Unmenge dafür aufwenden muss, damit jeder einzelne sach- und anlagengerecht versorgt wird. Nicht nur die Akademiker wie bisher. Einen Ausgleich halte ich da für überfällig. Wenn morgen die Studienbeiträge wegfallen, bedeutet das einen Verlust von 100ten Millionen Euro, die den Hochschulen direkt abgehen. Der Finanzminister wird sie nicht ohne Gegenleistung aus seiner Kasse berappen. Er wird ausdrücklich darauf bestehen, dass ein Teil davon von den Studierenden selbst getragen wird, und wenn er es indirekt bei den Haushaltsverhandlungen durchdrückt. Überdies wird es viele Jahre dauern, bis das schon verausgabte Geld wieder da ist. Die dazugehörigen Studierenden sind dann längst nicht mehr vor Ort. Den ganz großen Vorzug, dass die Betroffenen zahlen und kontrollieren, was mit ihrem Geld (das ja mit einem zinsgünstigen Kredit für alle beschafft werden kann) geschieht, würde ich so oder so niemals wieder aufgeben wollen (ganz im Gegensatz zu den weit verbreiteten Sozialträumern, die sichtlich an den Geldesel für Selbstbediener glauben).
Sie plädieren für traditionelle Werte in Familie und Gesellschaft wie sie sich in der Christlichen Soziallehre und Ethik finden. Welche Kraft steckt heute noch im Konservativsein, warum soll es sich lohnen, diese Werte wieder zu bemühen?
Die Familie ist in der Gesellschaft diejenige Institution, in der Menschen aufgrund ihrer Zusammengehörigkeit auf Verlässlichkeitsgarantien bauen, die es sonst in den heutigen Gesellschaften nicht gibt. Blutsverwandtschaft, das Miteinander vom ersten bis zum letzten Tag der eigenen Existenz, das ist ein Nähefaktor, der durch nichts zu ersetzen ist und – wie wir wissen – in der Gesellschaft von heute durch Versicherungen, Verträge, gesetzliche Garantien und Verpflichtungen aller teuer erkauft werden muss. Ein Stück Solidarität, das die Familie frei Haus liefert, anderweitig zu ersetzen, aufwachsen zu lassen in anderen, künstlich gefundenen Zusammenschlüssen von Kleingruppen, macht letztlich den immer unzulänglich operierenden Sozialstaat aus, der meist nur dürftig kittet, was ohne Familienbezug verloren geht. Leihmütter, Tagesmütter, Sozialpädagogen, auch Kindergärtnerinnen und Lehrer sind immer Teilersatz für das, was wir von Vater und Mutter im Verbund mit den eigenen Kindern erwarten: Liebe, Langmut, Geduld, Zuwendung, Beharrlichkeit, Zärtlichkeit, Mitleid und Betroffenheit… Stellvertretend stehen diese Tugenden und Werte für all die elterliche, familiäre Leistung, die andere gegen Bezahlung und auf Abruf, aber eben als Dienstleistung, nicht als Dienst am Nächsten (ohne Zeit- und Geldlimit) zum gesellschaftlichen Alltag beisteuern. Das Eltern- und Familiesein beginnt dort, wo die Gesellschaft Pause macht, um fünf Uhr die berufliche Pflicht endet. Es geht um 24 Stunden, um schwere wie gute Zeiten, um rund um die Uhr, wenn wir von Familie reden. Wer solche Erfahrung nicht selbst gesammelt und erlebt hat, wird Nähe der Art auch nicht praktizieren. Sie ist für die Gesellschaft eine gänzlich andere Einübung des Umgangs mit anderen, ist durch nichts zu ersetzen. Es betrifft im Übrigen auch alle diejenigen Institutionen, die die Familie nicht mehrals Fundament für praktizierten Zusammenhalt, als ihr Rückgrat empfinden: Handwerk, Vereine etc. Die Kirchengemeinden folgen gerade diesem Beispiel – zu ihrem Schaden. Sie erklären ihr Tun mit der Tatsache, dass der Staat längst mehr Einfluss auf die einzelnen seiner Mitglieder habe, auch die der Familien. Von Freiheit ist da keine Rede mehr. Und eigentlich wollten wir ja für mehr Freiheit eintreten und nicht mehr Abhängigkeit von Staat und Gesellschaft! Verlangt das nicht nach der Familie als dem Ort individuell behüteter und wachsender Freiheit für einen jeden?
Herr Goppel, Sie sind ein überzeugter Christ! Welche Chance hat die christliche Religion in Zeiten der Säkularisierung noch?
Ich bin ein überzeugter Anhänger des Christentums, weil mir die Idee, weil mir der Gedanke gefällt, dass die Summe aller menschlichen Existenzen eines Tages, wenn die Welt zu Ende sein sollte, die göttliche Existenz widerspiegelt. In jedem von uns steckt auch eine einmalige Qualität. Das bedeutet doch, dass jeder, auf den wir verzichten, den wir nicht auf die oder auf der Welt lassen so, wie er oder sie gottgewollt unser Sein ergänzt und bereichert, ein Verlust für das ganze Bild, das Mosaik Menschheit ist. Die Unwiederholbarkeit der Persönlichkeit – die Seele – ist im christlichen Persönlichkeitsbild existent; in keiner anderen Religion finde ich einen vergleichbaren All- oder Ewigkeitsbezug über den Lebensalltag auf Erden hinaus. Es gibt weltweit keine vergleichbare Religion für mich, die mir zusichert, dass ich Bestandteil des göttlichen Plans bin, einer, der zudem auf die Nachbarschaft der anderen angewiesen ist. Dieses Angewiesensein auf die anderen und die ebenso angesagte Beteiligung an der Existenz des Göttlichen – diese beiden Seiten sind in einer Einmaligkeit durchdacht, die für jeden von uns, egal ob er glaubt oder nicht, Anreiz sein müssten, nicht eines Tages ausgeschlossen zu sein.
Was verstehen Sie unter einer „aktiven Bürgergesellschaft“?
Die aktive Bürgergesellschaft ist für mich die Gemeinschaft, in der jeder einzelne seine Möglichkeiten ausschöpft, um den anderen zu Diensten zu sein. Zu Diensten zu sein heißt, dass das alle Formen der Leistungserbringung inkludiert, ganz gleich wie diese Leistung geschieht: umsonst, gratis oder bezahlt, je nachdem wie die Anforderung definiert ist. Allemal ist die Bürgergesellschaft dann gefordert, wenn wir unseren Auftrag ernst nehmen, immer das Beste zu wollen. Ganz oben auf der Skala der Anforderungen steht dann die Pflicht, jeweils die vorhandenen Talente zu entdecken und zu fördern. Auch da nehmen wir unsere eigene Überzeugung und das, was im Evangelium an Beispielen nachzulesen ist (beispielsweise das Gleichnis von den übertragenen Talenten) als Anknüpfungspunkt für die eigene Vorstellung vom Tätigwerden, das uns selbst betrifft, aber auch die übrigen herausfordert. Niemanden in seinem Fortkommen zu behindern, entspricht einem der wichtigsten Aufträge, die die aktive Bürgergesellschaft für uns alle in fortgesetzter Diskussion nachvollziehbar zu präsentieren hat.
Die Besserung der Gesellschaft, die Verpflichtung zur Stützung der anderen und damit gleichzeitig selbst Stütze zu werden, wird am schönsten deutlich in der bewährten Redensart: „Die, denen du eine Stütze bist, geben dir Halt.“ Das beschreibt eine aktive Bürgergesellschaft am besten.
Wo endet für Sie die Pressefreiheit? Darf es eine Zensur geben, damit tradierte Wertvorstellungen unangetastet bleiben? Sie hatten seinerzeit harsch den unangemessenen Papst-Aufmacher im Satiremagazin „Titanic“ vor dem Hintergrund der sogenannten Vatileaks-Affäre kritisiert. Gibt es andere Beispiele?
Die Einschränkung der Pressefreiheit ist meine Sache nicht, aber ich gehe davon aus, dass für alle Menschen Gleiches gilt, unabhängig davon, dass jeder von seinen Rechten unterschiedlich Gebrauch machen darf. Journalisten dürfen alles, aber sie dürfen das nur in dem Umfang wie andere auch. Damit ist im Prinzip alles beschrieben. Wenn ein Journalist wissentlich die Unwahrheit verbreitet, um anderen zu schaden, ist das unzulässig. Und ich bleibe bei der Meinung: das ist in diesem Beruf ein Grund, die Lizenz zu entziehen. Wissentlich die Unwahrheit weiter verbreiten! Alle anderen Sachverhalte sind im Einzelfall miteinander zu klären. Für den Journalisten gilt derselbe Rechtsstaat wie für mich. Der Journalismus, der Politiker aus dem Amt schreibt, muss wissen, dass er kein Sonderrecht beanspruchen kann.
Beim Papst ging es darum, dass die „Würde des Menschen“ angegriffen wurde. Die Würde des Menschen ist da im Focus, wo Dritte mit böswilliger Unterstellung arbeiten, um eben die Würde zu zerstören, die uns eigen ist, es im Wissen darum tun, dass sich der Betreffende nicht wehren kann, aus gutem Grund nicht wehrt und schon allein deshalb der Zweck der Herabwürdigung, der Beleidigung erfüllt wird. „Titanic“, ihr Herausgeber hat billigend und als berechneten Werbeeffekt in Ansatz gebracht, einen anderen, noch dazu von hohem Rang persönlich zu verletzen. Im vorliegenden Fall steht meine Meinung fest: Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist missbraucht, die journalistische Sorgfaltspflicht wissentlich verletzt, denn: Das Titelblatt der „Titanic“ ist nicht automatisch identifiziert als ausgewiesenes Satiremagazin.
In der Politik musste ein Philipp Jenninger gehen, weil er in einer Rede einige Sätze falsch betont hat, die sich mit dem Dritten Reich befasst haben. Wenn man dies dagegensetzt, macht das für alle nachvollziehbar, dass auch bei der „Titanic“-Präsentation Ähnliches hätte greifen müssen. Zwangsweise. Ihr Chefredakteur reklamiert für sich Seriosität. Dann lag er diesmal gründlich, auch rechtsaufsichtlich daneben.
„Politik als Beruf“. Was bedeutet dies konkret für Sie?
Der Politiker hat einen umfassenden Aufsichts- und Gestaltungsauftrag, ist im Prinzip der Hausmeister der Gesellschaft. Ebenso wenig, wie es uns gelingt, die Aufgaben des Hausmeisters abzuschaffen bzw. im Alltag zu ignorieren, lassen sich die Politik und ihre Akteure abschaffen. Allerdings nicht jeder Hausmeister taugt was. Er wird ersetzt. Dafür gibt es in der Politik, im Staat und den Kommunen Wahlen. Der Unterschied zum Hausmeistervertrag bleibt sein langfristiger Vertrag mit Kündigungsklausel, der Vertrag, den ich habe, endet bei Nichtbewährung automatisch, wenn die Wähler nicht träge und uninteressiert sind. Alle fünf Jahre stehe ich zur Disposition, womöglich ohne Arbeitsschutz. Das unterscheidet mein Berufsrisiko auch von dem des Journalisten.
Hat der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück seinen moralischen Haushalt mit seinen Vortragseinnahmen in Millionenhöhe verspielt?
Der Kanzlerkandidat der SPD hat seinen moralischen Anspruch nicht verspielt, so lange er ihn für sich selbst reklamiert. Wenn er aber gleichzeitig bekennt, dass er der SPD angehört, einer Partei, die bestimmte Grundsätze als Minimum für eine Anerkennung in der Gesellschaft formuliert, dann gerät das in Widerspruch und dann ist es die Frage, ob auch die generelle Glaubwürdigkeit leidet.
Ehrlich allerdings war Steinbrück schon: Er hat deutlich gesagt, dass ihm die sozialdemokratischen Denkansätze immer noch fremd sind. Ob so ein dortiger Kanzlerkandidat aussehen kann?
Sie sind gerade zum Präsidenten des Bayerischen Musikrats (BMR) wieder gewählt worden. Herzlichen Glückwunsch. Welche Rolle spielt die Musik in Ihrem politischen Leben?
Für mich ist die Musik das Elixier, um Beruf, Freizeit und Aktivität für beides miteinander zu verbinden. Immer dann, wenn ich merke, dass der Alltag in all dem, was er so an Verbalinjurien und anderem einem zumutet, wenn all das überhand nimmt, ist es das Beste, sich zurückzuziehen, Musik zu hören – das in Dur und Moll unterscheiden zu können und in der Lage zu sein, mit Piano und Forte auch die eigene Stimmung ein Stück weit zu adaptieren, weiterzugeben, neu zu entfalten und wieder neu ans Werk zu gehen. Musik begleitet mich dank der elterlichen Klavierinsistenz seit Schulzeiten, weil ich von Anfang an spürte, dass das Musizieren wirklich erholende Funktion hat für den, der mit dem Kopf oder mit den Händen arbeitet. Nicht umsonst sind viele Chirurgen gute Pianisten, wie andere, die in schweren geistigen Berufen unterwegs sind, Naturwissenschaftler und andere, gerne in einem Orchester tätig, weil zu Musikzeiten ein anderer Teil des Gehirns so trainiert wird, dass er im Wettbewerb mit dem eigenen Ehrgeiz auch auf anderen Gebieten bleibt und bleiben kann.
Ich zum Beispiel schreibe gern. Dazwischen zu sitzen, Musik zu hören oder auch aktiv zu betreiben, ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Dinge im Kopf wie im Umfeld neu ordnen und wieder zusammenkommen. Das ist ein Erfahrungswert, den ich gern weitergebe, besonders auch an den Nachwuchs in den Blaskapellen, den Tanzschulen, den Chören, den Theaterhäusern. In der Musik tue ich das mit Leidenschaft und Begeisterung – den besten Eigenschaften, um als Vorbild durchzugehen.
Sie sind Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung. Was fasziniert Sie am Denken des Kirchenvaters? Was können wir von Augustinus in 21. Jahrhundert lernen?
Dazu bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Der frühere Vorsitzende der Gesellschaft, die nun ihren Sitz in Würzburg hat, der ehemalige Intendant des Bayerischen Rundfunks, Reinhold Vöth, und der glänzende Augustinusforscher und -pater Professor Cornelius Petrus Mayer haben mich zu diesem Amt bewogen.
Alle philosophischen, ethischen, ganz wesentlich transzendent angelegten Grundsätze unseres Lebens funktionieren nur, wenn wir sie in den Bezug zu einer Person setzen können. Augustinus ist als Person ein Identitätsstifter wie kaum ein anderer. Er macht wie später, viele Jahre später, Adolph Kolping Ausführungen, die jeweils mit der Person der Angesprochenen in Bezug gebracht werden können und, um zu wirken,auch müssen. Jeder Satz, der von Augustinus stammt, hat irgendeinen Bezug zu dem, was er gelebt hat. Und damit wird er, bleibt er aktives Vorbild. In dieser Rolle bin ich für beide unterwegs, und dies sollte ein Stück mein Bezug sein: Augustinus für die Lebensgrundsätze, die man hat, und Adolph Kolping für die tatsächlichen Lebensverhältnisse, die man schafft. Da, wo es um Praxis geht, ist Adolph Kolping gefragt, da, wo es um Theorie geht, ist Augustinus gefordert. Eine differenzierte Erklärung verdienen viele Sätze der Bibel – mit Augustinus komme ich weiter: eine konkrete, praktische Umsetzung brauchen die meisten Textstellen der Bibel – mit Adolph Kolping komme ich weiter. Mein Eindruck, meine Erfahrung ist, dass Augustinus und Adolph Kolping, beide, bei den Menschen ansetzen und nicht wie Franziskus bei den Tieren, bei anderen Bezugsgrößen, die da auch sind, angesetzt sein könnten. Die beiden haben sich ganz bewusst auf den Menschen bezogen und teilen die Auffassung, dass der Mensch gewollte, alltägliche Wiederholung der göttlichen Existenz ist, in einer ebenso unwiederholbaren Zusammensetzung wie Gott selbst, nach unserer Vorstellung die universale Einheit. Gott will durch die Menschen verdeutlichen, dass das, was er an uns schätzt, die Einmaligkeit ist, die er uns allen zugestanden hat. Und das macht es so spannend – unterwegs zu bleiben und auch nicht aufzugeben, weil man nie weiß, ob man am nächsten Tag noch in derselben Weise denkt und plant und überlegt wie gestern. Wir erleben, jeder von uns, im Alltag und in seinem Umfeld am laufenden Band diejenigen, die solchem Wandel, solcher Erneuerung unterfallen; wir sind ihnen auf die Spur gesetzt – auch uns zuliebe und unseretwegen: Ist es anderes Denken, Fühlen, Reden oder Handeln, was wir sehen? Oder haben wir uns gewandelt? Auf solch ständiger Spurensuche zu bleiben, ist es, was mich reizt. Und, ob ich dabei eine feste Überzeugung besitze und pflege, prüfe und behalte, ist das, was mich bindet, ja ständig aufs Neue fesselt. Darüber bin ich glücklich.
Für mich zählt, dass die Eltern mir beigebracht haben, mich nicht auf mich selbst zu verlassen, sondern sicherzustellen, dass ich auf etwas vertrauen kann, was bleibt, auch wenn ich alleingelassen scheine. Wenig religiös gebundene Menschen pflegen sich darauf zu berufen, dass sie sich selbst helfen, damit ihnen wenigstens einer helfe. Da taugt mir der Glaubenssatz schon eher, der da erinnert: „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott!“ Gibt es einen verlässlicheren Nachbarn, einen von dem ich weiß, dass er mir traut, das Leben ermöglicht hat und die Freiheit geschenkt, die es gestattet, alles und das Gegenteil davon zu entscheiden? Die Größe ist wohl unerreichbar und unerreicht.
Interview mit Philipp Freiherr von und zu Guttenberg
Nachhaltigkeit ist derzeit in allen Medien ein Schlagwort! Sie unterscheiden zwischen falscher Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit, können Sie dies erklären?
Dieser vielzitierte Ansatz der Nachhaltigkeit ist nicht neu: Hans-Carl v. Carlowitz verwendete in einer Publikation aus dem Jahre 1713 den Begriff der „nachhaltigen Nutzung“ der Wälder nachweislich zum ersten Mal. Es bedeutet aus der Natur lernen und verantwortungsvoll mit Blick auf künftige Generationen zu wirtschaften. Nachhaltigkeit entstand und gilt bis heute als individuelles ökonomisches Modell im ländlichen Raum zur langfristigen Sicherung der Lebens- und Produktionsgrundlagen.
Wenn dieses Prinzip der Nachhaltigkeit, eingebettet in ein gesundes, nicht auf die schnelle Gewinnmitnahme ausgerichtetes Wertesystem, durch die Generationen weitergegeben wird in stetiger Obsorge für unsere Natur – auch als Produktions- und Lebensgrundlage – , profitieren einerseits die nachhaltig Wirtschafteten stetig von der Vorsorge Ihrer Vorväter, andererseits stehen sie selbst ihren Kindern und Kindeskindern gegenüber in der Pflicht. Das Fundament für dieses Handeln ist dabei zwingend Eigentum, Eigenverantwortlichkeit und ein freiheitlicher Handlungsrahmen, der tatsächlich die Obsorge für die nächste Generation ermöglicht. Alles, was diesen zwingenden Prinzipien widerspricht, ist meist nicht nachhaltig, sondern bedient sich dieses Etiketts. Das verstehe ich unter falscher Nachhaltigkeit.
Sie sprechen immer von „Wald als Waffe“, was haben wir darunter zu verstehen?
Viele Akteure versuchen die Bedeutungshoheit über den Wald und seine Nutzung zu erhalten. Oft stehen dahinter keine Sachinteressen, sondern ideologische Denkmuster, die den „Wald“ zu einem Schlachtfeld für politische Zwecke missbrauchen. Im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sind Alarmismus und Polemik an der Tagesordnung. Der „Wald“ dient hier meist nur als Mittel zum Zweck. Das merkt man vor allem daran, wenn die Bereitschaft fehlt, sich mit den eigentlich Betroffenen – also den Waldbesitzern und Förstern – an einen Tisch zu setzen und einen Konsens zu finden, der für alle tragbar ist.
„Wald als Waffe“ hat jedoch auch noch eine andere – positive – Bedeutung. Denn gerade in Zeiten der Energiewende ist Wald eine echte Allzweckwaffe. Nachhaltig erwirtschaftetes Holz ist eine der intelligentesten Ressourcen, die wir haben.
Die Ressource Öl wird bald verbraucht sein. Welche Rolle könnte der Wald in der Zukunft bei der Ressourcenverteilung spielen?
In Deutschland entfallen derzeit rund 60 Prozent der Holzverwendung auf die stoffliche und rund 40 Prozent auf die energetische Nutzung. Damit ist Holz als Roh- und Werkstoff zwar unterrepräsentiert, spielt aber bereits jetzt eine große – in Zukunft noch größere – Rolle. Gerade bei der Substitution anderer Wertstoffe kommt Holz inzwischen eine wachsende Bedeutung zu. Die Anwendungspalette von Holz ist gigantisch und die zukünftigen Einsatzbereiche des Rohstoffes werden die heutigen in ihrer ökonomischen und ökologischen Wirkung noch um ein Vielfaches übertreffen.
Angefangen bei der stofflichen und thermischen Verwertung, aber auch in der Chemieindustrie und um Pharmabereich ist Holz als Ölsubstitut zunehmend gefragt. Für den Energiemix ist Holz insbesondere wegen seiner Grundlasttauglichkeit relevant. Es hat hervorragende Eigenschaften bei der stofflichen Verwertung. Auch in Erwartung weiter steigender Preise für fossile Energien (Heizöl, Erdgas) verzeichnet Holz einen spürbaren Verbrauchszuwachs. Von den verschiedenen erneuerbaren Energien wird die meiste Endenergie (Wärme, Strom) aus fester Biomasse (überwiegend aus Holz) gewonnen (rd. 39 %) mit deutlichem Abstand vor der Windkraft (rd. 17 %), Biokraftstoffe (rd. 16 %) und Wasserkraft (rd. 9 %).
Dazu ist Holz ein natürlicher Werkstoff, Kohlenstoffspeicher und Co2-neutraler, sowie nachwachsender Energieträger.
Warum ist Holz die effizienteste Lösung für das Klimaproblem?
Im Rahmen der Energiewende gewinnt der heimische Rohstoff Holz eine immer wichtigere Rolle als Teil einer „Green Economy“. Der Rohstoff Holz bietet im Vergleich zu seinen Mitbewerbern Vorteile und ein Potenzial, welches tatsächlich zur Effizienzsteigerung,zum Rohstoffwandel und zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung beitragen kann! Es gibt keine Technologie und keinen Rohstoff, der die Bereiche CO2 – Senke, – Speicher und –Substitution in dieser einzigartigen Weise verbinden kann. Und das vor unserer Haustüre:
Unser deutscher Wald bindet jährlich rund 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Durch die jährliche Produktion von Schnittholz werden knapp 20 Millionen Tonnen CO2 langfristig gespeichert und die kombinierte thermische und stoffliche Verwertung kommt auf einen jährlichen Substitutionseffekt von 128 Millionen Tonnen CO2. Diese Leistungsbilanz ist nicht zu übertreffen.
Weshalb wird bei der Rede von Erneuerbaren Energien immer nur Wasser, Wind und Sonne gesprochen, und das Thema Holz eher beiläufig behandelt?
Bei den erneuerbaren Energien redet ganz Deutschland von Wind, Wasser und Sonne. Rund 70% der erneuerbaren Energien stammt jedoch aus Biomasse. Davon rund die Hälfte aus fester Biomasse, also Holz. Warum diese Tatsache von der Politik beflissentlich übersehen wird, lässt Ursachen nur erahnen. Unser Problem ist wahrscheinlich, dass wir im Lobbychor der stimmgewaltigen 4 grossen Stromproduzenten und gut ausgestatteten Industrie nicht gehört werden.
Das muss und wird sich aber ändern.
Was haben wir unter Bioökonomie zu verstehen?
Die ökonomische Produktion und Denken auf Basis der Nachhaltigkeit unter Heranziehung nachhaltig nachwachsender Ressourcen. Da weltweit unsere Ressourcen bei einer stetig wachsenden Weltbevölkerung immer knapper werden, ist diese Art des nachhaltigen Wirtschaftens unerlässlich – und zwar weltweit.
Warum sind Nutzungsverzichte zugunsten der Biodiversität unmoralisch, Greenpeace argumentiert anders?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Stilllegung von 5% unserer Wälder – eine Forderung aus der Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung – bedeutet einen Verzicht von 3 bis 7 Mio Festmetern jährlich. Der Verzicht auf 5% bedeuten in Deutschland ganz konkret: wir schicken 45.000 Beschäftigte auf die Straße. Von Seiten des Naturschutzes wird das Leitbild und gesellschaftspolitische Ziel der multifunktionalen, nachhaltigen Forstwirtschaft immer stärker angezweifelt und zunehmend eine Trennung der Waldfunktionen gefordert.
Eine Abkehr von der Multifunktionalität, von der auf 3 Säulen ruhenden Nachhaltigkeit,hätte aber Folgen, die wir benennen müssen, denn hier geht es nicht nur um blinden Aktionismus zur Spendenakquise sog. Umweltverbände. Das ist geschäftstüchtig und legitim. Hier wird ein gesellschaftspolitisches Prinzip in Frage gestellt, dass -aus der Forstwirtschaft kommend- ein möglicher Pfad in eine erträgliche Zukunft wäre. Wir müssen all jene, die diese absurden Forderungen stellen,darauf hinweisen, dass es unverantwortlich, ja sogar unmoralisch ist, durch Nutzungsverzichte hier in Europa die Produktion in andere Gebiete unserer Erde zu verlagern, die nachweisbar nicht nachhaltig bewirtschaftet werden. Mit jedem Festmeter, auf den wir hier verzichten, wächst der Druck auf die Vernichtung der Primärwälder. Wenn ich heute in Deutschland auf 5 Millionen fm aus in luxusbegründeter Ideologie verzichten will, dann hole ich sie mir morgen aus Togo, Indonesien oder Brasilien. So erschreckend einfach ist es.
Was können die deutschen Waldbesitzer (2 Millionen an der Zahl, eine Lobby von mehr als vier Millionen Bundesbürgern), gehen den Klimawandel tun?
Der Wald ist beim Klimawandel Opfer und Retter zugleich. Keine andere Ressource, keine Technologie oder Rohstoff birgt soviel Potential und ist ebenso betroffen.
Die nachhaltige Bewirtschaftung unserer Wälder und die Bereitstellung des Klimajokers Holz ist bereits der beste Beitrag, den wir als Waldbesitzer gegen den Klimawandel leisten können. Doch auch für uns gilt, dass mit den sich veränderten Klimabedingungen das Risiko steigt, unsere Forstwirtschaft risikoreicher wird. Abgesicherte Klima-Anpassungsstrategien sind derzeit leider noch nicht verfügbar. Was wir benötigen sind klimaplastische, vitale Mischwälder, mit standortangepassten, marktorientierten Baumarten. Es geht hier letztlich auch um gröstmögliche Flexibilität in der Bewirtschaftung und Risikostreuung. Die ökologische Verantwortung und das ökonomische Risiko liegen nach wie vor beim Eigentümer.
Warum ist Eigentum ein Fundamt für die Nachhaltigkeit?
Das ist wohl der wichtigste Aspekt
Nachhaltiges Wirtschaften, das Denken in Generationen in einer freien demokratischen Gesellschaft braucht das Eigentum und die Freiheit als Fundament.
Eigentum ist weit mehr als Besitz, mehr als nur ein Recht.
Eigentum ist die ökonomische Grundlage individueller Freiheit, die sich in unserer Gesellschaft auch damit rechtfertigt, daß aus der Leistung des Eigentums Gemeinwohlleistungen erwachsen. Das darf man nie vergessen.
Ich darf an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass viele Menschen das längst verdrängt haben. Die Diskussionen um Erbschaftssteuer, Vermögensteuer, usw. zeugen täglich davon.
Merkwürdigerweise vergisst man dabei, dass Freiheit individuelle Selbstverantwortung ermöglicht und diese Mündigkeit einen kategorischen Imperativ fordert, dessen Maßstäbe sich verallgemeinern lassen und die unsere Gesellschaft stützen.
Mit anderen Worten: Die Freiheit Eigentum zu erwerben, zu halten und vor allem frei zu vererben, motiviert uns Waldbesitzer, Leistung, Engagement und einen nachhaltigen Lebensstil in unsere Gesellschaft zurück zu bringen.
Nachhaltigkeit zwingt uns aber auch zum täglichen Verzicht, zu einer gesellschafts- und schöpfungsbejahenden Lebens- und Betrachtungsweise.
Die Wende zur Nachhaltigkeit ist auch eine Rückbesinnung auf Werte, die in der momentanen Entwicklung leicht zu einer gesellschaftlichen Grundsatzdebatte führen könnte und müsste.
Nachhaltigkeit wird sich nicht in der Anonymität der Digital Natives umsetzen lassen. Die kollektive Flucht aus der Verantwortung und hinein in den Lebensraum freibeuterischer digitaler Lebensräume ist in meinen Augen eine Sackgasse.
Nachhaltiger Waldnutzen ist gelebter Generationenvertrag.
Unserem Wald kommen dabei mehr Aufgaben zu als bloßer Rekonvaleszenzraum einer fehlgeleiteten urbanen Schutztruppe.
Das hat sich er und unsere Gesellschaft nicht verdient!
FDP-Generalsekretär Christian Lindner im Gespräch mit der Tabula Rasa, Zeitung für Gesellschaft und Kultur
Herr Lindner, Sie sind der Hoffnungsträger der FDP, Sie ziehen Menschenmengen geradezu magisch an, nicht nur hier in Jena. Ihre Partei aber liegt gerade bei unter 5 Prozent in Wählergunst. Wie erklären Sie sich, dass die Liberalen derzeit einen so schweren Stand beim Wähler haben?
Christian Lindner: Viele haben mit der FDP die Hoffnung verbunden, dass schnell tief greifende Reformvorhaben angepackt werden. So waren auch unsere Ziele. Nun sind viele enttäuscht, dass es nur kleine Schritte gibt. Und dass die FDP teilweise sogar zu Kompromissen gezwungen war oder Fehleinschätzungen unterlag, die uns von unseren langfristigen Zielen eher entfernt haben. Diese Wähler sind nicht zu anderen Parteien gewandert, sondern in das Lager der Nichtwähler. Die wollen wir neu überzeugen. Deshalb haben wir uns neu aufgestellt.
Was sind die Grundpfeiler Ihrer politischen Botschaft?
Christian Lindner: Die Identität der FDP kann man mit drei Begriffen zusammenfassen: Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Toleranz. Das findet man im Paket nur bei uns. Zum Beispiel sind auch die Grünen für gesellschaftspolitische Liberalität, aber eben nicht für Freiheit in der Wirtschaft. Andererseits war die CSU neben uns die einzige Partei, die in den Gründerjahren der Bundesrepublik geschlossen für die Soziale Marktwirtschaft war, aber gesellschaftspolitisch gehen Konservative andere Wege. Wer die Freiheit liebt und von ihr als Prinzip überzeugt ist, kann sie nicht auf eine Dimension beschränken.
Sie sprechen immer wieder von der Generation 1994; wir haben die Generation 68, die Generationen 89 und 90 und die „Generation Benedikt“. Was haben wir von der Generation 1994 zu erwarten?
Christian Lindner: Ich habe das mit Blick auf die krisenhafte Lage der FDP Anfang der neunziger Jahre formuliert. Damals sind Philipp Rösler, Daniel Bahr, viele andere und ich in die FDP eingetreten. Nicht, weil wir glaubten, etwas werden zu können, sondern weil uns diese Partei am Herzen liegt. Wir haben uns geschworen, dass die FDP niemals mehr ihre Eigenständigkeit in einer Koalition opfern darf. Damals hatte die FDP keine klare Botschaft. Heute liegen die Dinge anders. In der Sache können wir heute angesichts der Dominanz einer sozial und ökologisch verbrämten Gleichheitspolitik als Freiheitspartei viel Unterstützung finden. Die zunehmende Eingebung unseres Lebens durch ein feines bürokratisches Gespinst aus Geboten und Verboten, die Ausdehnung des öffentlichen Sektors, die Notwendigkeit, dass die Privatheit nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor kommerziellen Anbietern im Internet geschützt werden muss – all das und mehr verlangt nach liberalen Antworten. Darin liegt unsere Chance. Die Aufgabe ist, Vertrauen für die FDP, unsere Themen und unsere Positionen zu gewinnen.
Die FDP ist eine Partei des Mittelstandes. Wie ist es Ihrer Meinung möglich, auch die „unteren“ Bevölkerungsschichten zu erreichen – gerade im Osten des Landes, wo aufgrund der geringeren Löhne auch die Angst vor Altersarmut wächst?
Christian Lindner: Die FDP ist nicht die Partei einer Einkommensklasse, sondern einer Einstellung zum Leben. Wer einen Parteitag besucht, wäre überrascht, wie vielfältig die Mitglieder und Wähler sind. Wir sind die Partei all derjenigen Menschen, die optimistisch und freiheitsliebend sind, die etwas aus ihrem Leben machen wollen. Die Freude an den Ergebnissen ihrer Schaffenskraft haben. Und die Verantwortung für sich und andere übernehmen. Bedürftige oder Schwache lassen wir nicht allein. Sie brauchen aber keinen verholzten Wohlfahrtsstaat, der nur umverteilt, sondern Unterstützung durch einen aufstiegsorientierten Sozialstaat, der zum Wiedereinstieg in die Eigenverantwortung befähigt. Es geht also darum, Menschen Arbeit zu geben und nicht dauerhafte Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Natürlich verlangt das gerade von Geringqualifizierten viel. Umso mehr muss man Respekt vor allen haben, die hart für wenig Geld arbeiten, weil sie nicht dauerhaft die Solidarität ihrer Mitbürger in Anspruch nehmen wollen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das faire Chancen eröffnet, Zugänge zur Bildung schafft, aber das nicht alles vereinheitlicht. Insofern ist die FDP eine Partei, die Aufstiegschancen durch Fleiß und Talent belohnen will. Wir haben kein Problem mit Unterschieden in der Gesellschaft. Aber die Unterschiede müssen eben durch Leistung und nicht durch das Glück der Geburt begründet sein, damit man sie als gerecht akzeptieren kann.
Sie arbeiten gerade an einem neuen Parteiprogramm, das die „Wiesbadener Grundsätze“ von 1997 überarbeitet. Können Sie uns vielleicht schon einige Eckpunkte benennen?
Christian Lindner: Es wird ein Manifest für Freiheit, Bürgersouveränität und Fairness – das zeichnet sich bereits heute ab. Obwohl wir natürlich auf alle Gegenwarts- und Zukunftsfragen Antworten geben müssen, deuten sich Schwerpunkte an. Zum Beispiel das klare Bekenntnis zum Markt- und Leistungsprinzip, aber im Sinne des Ordoliberalismus. Viele Debatten kreisen um die Frage, wie faire Aufstiegschancen verwirklicht werden können. Das erfordert neue Antworten in der Sozial- und Bildungspolitik. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist ein Thema: Was verbindet uns, wenn in Zukunft viele Bürger keine Wurzeln in Deutschland haben? Ich denke, dass ist der Verfassungspatriotimus und der Respekt vor Unterschieden. Unsere Vorstellung der Freiheit zur Verantwortung deklinieren wir durch: Verantwortung für die Mitwelt, also unsere Gesellschaft und – großes Wort, ja: – die Menschheit. Verantwortung für die Umwelt. Verantwortung für die Nachwelt, im Sinne nachhaltigen Wirtschaftens. Diese dreifache Verantwortung wird in Deutschland gerne delegiert – an den Staat oder an abstrakte Institutionen. So erklärt sich teilweise der Erfolg der Grünen. Wir gehen einen anderen Weg und denken diese Verantwortung vom vernünftigen, freien Individuum her.
„Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt“ ist eine Ihrer Maximen, die Sie gemeinsam mit dem neuen Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler 2009 in Buchform präsentierten. Von Immanuel Kant stammt der Ausspruch: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Wie konkretisieren Sie den Freiheitsbegriff in der Moderne? Welche Rolle spielen dabei die Begriffe „Fairneß“ und „Freiheitsqualität“?
Christian Lindner: Das ist zwar eine sehr abstrakte, sehr theoretische Diskussion, aber wenn Sie mögen: Der Begriff von Freiheit, den die FDP hat, ist allein kein negativer Freiheitsbegriff, der also nur das fremde Machtdiktat auf mein Leben abwehren will. Es gibt eine weitere Dimension. Wir müssen unterscheiden zwischen quantitativer und qualitativer Freiheit. Eine rein quantitative Freiheit will die Zahl der zur Verfügung stehenden Wahloptionen für Lebenswege ausdehnen. Aber mit mehr Quantität steigt nicht automatisch die Qualität. Eine etwas geringere Zahl von Optionen, die qualitativ höherwertig sind, kann besser sein. Ein Beispiel: Die Freiheitsquantität der Berufswahlmöglichkeiten des einen Menschen ist drei: Glückspieler, Taschendieb oder Schwarzarbeiter. Die Freiheitsquantität bei einem anderen ist nur zwei, aber sie umfasst die Möglichkeiten Grundschullehrer oder Fischhändler. Fraglos würden wir aber lieber zwischen den nur zwei Optionen wählen, weil sie qualitativ besser sind. Auf die politische Ebene übertragen bedeutet dies, dass wir aktiv Lebenschancen durch Bildung und Weiterbildung eröffnen müssen. Das ist zugleich fair. Unter Fairness verstehen wir eine hinreichend als fair empfundene Gleichheit der Startchancen, nicht aber die Annäherung der Ergebnisse in der Gesellschaft. Liberale haben, wie Ralf Dahrendorf gesagt hat, eine große Toleranz gegenüber Ungleichheit in der Gesellschaft, wenn sie sich aus gleichen Regeln für alle und unterschiedlichem Einsatz ergibt. Da liegt die Quelle von Hoffnung, dass individuelle Anstrengung einen Unterschied im Leben macht.
Wo macht man Gerechtigkeit fest?
Christian Lindner: Für uns Liberale kann Gerechtigkeit nur eine Verfahrensgerechtigkeit sein, also für alle gleiche politische und staatsbürgerliche Rechte – ja. Aber bei der Verteilung von materiellen Gütern oberhalb eines sozioökonomischen Existenzminimums muss es das Leistungsprinzip geben. Wer würde sonst über materielle Verteilung in der Gesellschaft entscheiden, was wäre da der Gerechtigkeitsmaßstab – er müsste willkürlich von Politikern am grünen oder roten Tisch festgelegt werden. Damit dies als legitim empfunden werden kann, brauchen wir in Deutschland eine Annäherung der Startchancen. Davon sind wir aber hierzulande noch entfernt. Und wir brauchen zweite und dritte Chancen auf den Wiedereinstieg in Teilhabe an Bildung und an Arbeit – auch davon sind wir in unserem bürokratisch verholzten Wohlfahrtsstaat noch entfernt.
Der Begriff des Neoliberalismus, der immer wieder von der FDP favorisiert wurde, ist beständig in der Kritik. Wie stellen Sie sich ein neoliberales Wirtschaften ganz konkret vor?
Christian Lindner: Dieser Begriff ist inzwischen ein inhaltlich völlig deformierter Kampfbegriff. Wer sich die Mühe macht, ihn zu ergründen, stellt fest, dass damit etwas ganz anderes gemeint ist, als heute in der politischen Diskussion vertreten wird. Diejenigen, die sich als Gegenbegriff zum aufkommenden Faschismus als neue Liberale oder eben Neoliberale bezeichnet haben – dies waren kein Laissez-faire-Liberalen. Sie haben sich gerade dadurch vom klassischen Liberalismus unterschieden, dass sie eine aktive Rolle für den Staat gefordert haben. Sie wollten, dass der Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen steht, wie Alexander Rüstow gesagt hat, um dem Wirtschaftsgeschehen klare Regeln vorzugeben. Innerhalb der Offenheit des Marktes soll ja die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gelten. Heute verwendet man den Begriff Neoliberalismus als dumpfe Schrumpfformel für Minimalstaat, Deregulierung und Privatisierung. Das wird der Partei von Otto Graf Lambsdorff und der Wirtschaftsordnung von Ludwig Erhard, auch ein Neoliberaler, nicht gerecht.
Immer wieder spielt der Begriff der „Wertegesellschaft“ bei Ihnen und Ihrer Partei eine große Rolle. Wo sollen wir ihrer Meinung nach die neuen Werte finden, wenn das eigentliche Fundament, die im Abendland verankerte jüdisch-christliche Tradition, nicht mehr zeitgemäß erscheint?
Christian Lindner: Wir müssen mit dem Umstand leben, dass in Zukunft Millionen deutscher Staatsbürger keinen christlichen Glauben mehr haben. Deshalb braucht es eine andere Klammer für unsere Gesellschaft, die allen unabhängig von Herkunft und Bekenntnis das Gefühl der Zusammengehörigkeit erlaubt. Ich sehe das im Verfassungspatriotismus, in den republikanischen Werten unseres Grundgesetzes, in deren Zentrum die Würde des Einzelnen steht. Diese Werte des Grundgesetzes haben sich tatsächlich aus einer Tradition des so genannten christlich-jüdischen Abendlandes ergeben, so problematisch dieser Begriff auch ist, ergeben. Sie sind teilweise in der Auseinandersetzung mit den Kirchen entstanden, haben Einflüsse aus dem antiken Rom und Athen aufgenommen. Sie sind geronnene Geschichte. Aber sie lassen sich eben auch aus reiner Vernunft ableiten – und das ist eine große Chance. Denn so ist es möglich, Menschen, die unsere abendländische Tradition nicht teilen, weil sie aus anderen Kulturkreisen zu uns gekommen sind, in unsere Wertegemeinschaft miteinzubeziehen und einzuladen, Verfassungspatrioten zu werden.
Sie haben 2011 den Redner- und Dialogpreis „re: republik“ erhalten. Welche Rolle spielt die Rhetorik in der Politik und inwieweit ist Politik immer noch sophistisch, wo ist die Grenze zwischen Redekunst- und Beredsamkeit? Kant hatte in seiner „Kritik der Urteilskraft“ die Rhetorik kritisiert, weil sie immer nur auf die Schwächen des Gegners abzielt und damit moralisch wenig Achtung verdient.
Christian Lindner: Das, was Kant meinte, scheint mir eher auf das bezogen zu sein, was man Eristik, Streitkunst, nennt. Dazu hat Schopenhauer ein Büchlein „Die Kunst, Recht zu behalten“ geschrieben. In der Mediendemokratie gehören kommunikative Fähigkeiten zum Rüstzeug eines Politikers dazu. Durch Begriffe wird Politik gemacht. Denken Sie an die erfolgreiche „Agenda 2010“, der wir heute viel Wettbewerbsfähigkeit verdanken. Sie ist kommunikativ nicht gelungen. Die politische Rede ist das zentrale Medium, um Vertrauen zu gewinnen, Positionen darzulegen und Menschen zu begeistern.
Wer ist Ihr Lieblingsgegner bei politischen Diskussionen in der Berliner Republik?
Christian Lindner: Da kann ich niemanden im Einzelnen hervorheben. Spannend ist es immer, wenn man mit diametral anderen Meinungen umgehen muss. Leider werden aber oft immer wieder dieselben Argumente vorgetragen. Vor einiger Zeit gab es eine Sendung mit einem Sozialdemokraten. In diesem Gespräch konnte man Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede sauber herausarbeiten. Da ging es nicht nur um den Effekt, sondern tatsächlich um die Substanz. Da konnte man auch unterschiedliche Bewertungen einmal mit Respekt stehen lassen – so eine Art der Debatte macht mir Freude.
Sie haben auch Philosophie studiert, welcher Philosoph hat sie am nachhaltigsten geprägt und beeindruckt?
Christian Lindner: Die liberalen Klassiker, Karl Popper, John Rawls – beeindruckt haben mich aber zwei, die im strengen Sinne keine Philosophen waren. Ralf Dahrendorf, weil er eine soziologische Zeitdiagnostik mit liberalen Antworten verbunden hat. Und Friedrich August von Hayek mit seinem Plädoyer für die Freiheit, die erst das in der Gesellschaft verstreute Wissen mobilisiert.
Herr Lindner – Sie haben eine Rennfahrerlizenz. Auch einige Philosophen, wie Michel Foucault und Albert Camus teilten die Leidenschaft für schnelle Autos.
Christian Lindner: Dann bin ich ja in guter Gesellschaft mit meiner Leidenschaft. Ja, ich habe einmal einen Lizenzlehrgang gemacht. Leider fehlt mir gegenwärtig für den aktiven Motorsport die Zeit. Aber ich verliere mein Ziel nicht aus den Augen, irgendwann einmal die 24 Stunden auf dem Nürburgring mitzufahren.
Im Interview mit dem Generalkonsul Japans in Deutschland Akira Mizutani
Ein Krieg der Bilder, wie man ihn aus Zeiten des „Kalten Krieges“ kannte, überflutet täglich sämtliche Medien, vom Internet bis zum Fernsehen. Die Drohgebärden aus Nordkorea und die Möglichkeit eines Militärschlages sind brandaktuell. Wie ernst sehen Sie die Bedrohung von Nordkorea seitens des jungen Diktators Kim, der ein Mann der Widersprüche ist und sich im globalen Spiel der Macht inszeniert? Wie schätzen Sie die politische Lage in der Region insgesamt ein?
Die Situation ist sehr ernst, aber Kim Jong-un möchte dieses Theater inszenieren, damit er innenpolitisch seinen Machterhalt sichern kann. Für dieses Spektakel ist der Zeitpunkt gerade sehr günstig, da die USA und Südkorea im April ihre jährlichen militärischen Übungen durchgeführt haben. Kim und sein Regime beabsichtigen vielleicht, ihren Landsleuten zu vermitteln, dassdie entschlossene Haltung ihres großen Führers die bösen Amerikaner und Südkoreaner vertrieben hat.
In Tokio wurden im April Patriot-Raketen stationiert, wie kann sich Japan im Ernstfall schützen?
Natürlich haben wir bereits einige Abfangraketen aufgestellt. Juristisch haben wir auch zwei Gesetze, damit wir auf den Ernstfall richtig reagieren können. Zum einen das Gesetz zur Sicherung der Unversehrtheit Japans und seiner Bevölkerung im Falle eines bewaffneten Angriffs. Wir haben auch das Gesetz für sicherheitsgefährdende Umstände in den um Japan liegenden Gebieten, damit wir die Aktivitäten unserer Verbündeten unterstützen können.
Haben Sie Angst, dass sich andere Regime wie beispielsweise der Iran mit Präsident Ahmadinedschad durch die Drohungen von Nordkorea in ihrer Politik bestätigt finden könnten? Seit langem droht Irans Präsident mit Vergeltung!
Ja und Nein. Auf einer Seite haben wir Bedenken, weil Nordkorea so unberechenbar ist. Auf der anderen Seite sind uns die Drohgebärden schon seit vielen Jahren bekannt. Zudem glauben wir, dass Nordkorea mit seinen Machtgebärden eine gewisse Stärke nach Innen demonstrieren will.
Das Problem vom Iran ist sehr ernst, aber gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass die Bürger in Europa nicht so empfindlich gegenüber Nordkorea sind wie gegenüber dem Iran. Viele Deutsche wissen vielleicht nicht, dass mindestens 17 Japaner in den 70er und 80er Jahren vom nordkoreanischen Geheimdienst aus Japan verschleppt wurden. Die Opferzahl könnte noch viel höher sein. Zwar hat sich der damalige Diktator Kim Jong Il entschuldigt und die „Erklärung von Pjongjang zwischen Japan und Nordkorea“ kam zustande.Dieses Dokument bildet die Grundlage der japanischen-norkoreanischen Beziehungen. Leider kam es danach zu mehreren Atombombentests und zu Abschüssen von Raketen. Wir waren nicht in der Lage, die Verhandlungen weiterzuführen. Um diesen Stillstand zu durchbrechen, sollte die internationale Gemeinschaft mit einer Stimme sprechen.
Sie betonten, daß es unterschiedliche sicherheitspolitische Voraussetzungen zwischen Europa und Asien gibt, was haben wir darunter zu verstehen?
Die Struktur der Ost-West-Konfrontation bleibt leider in Fernost immer noch weiter bestehen. Im deutlichen Gegensatz zu den umfassenden Bündnissystemen in Europa existieren in Asien verschiedene bilaterale Beziehungen. In Asien übernehmen die USA die Funktion einer „Radnabe“; bilaterale Sicherheitsbündnisse zwischen den USA und Japan bzw. Südkorea bilden jeweils die „Speichen“. Hier gibt es leider Spielräume, in denen sogenannte „Schurkenstaaten“ ihr Unwesen treiben könnten. In Asien befinden sich übrigens vielfältige Staatenmit unterschiedlichen Religionen, gesellschaftlichen Systemen und Entwicklungsniveaus von Demokratie. Japan ist die älteste Demokratie Asiens und wir versuchen seit vielen Jahren zwischen diesen Ländern gegenseitiges Vertrauen herzustellen.
Immer wieder kam es zu Entführungen von japanischen Staatsbürgern durch das nordkoreanische Regime, was steckte dahinter?
Nordkorea wollte viele seiner Agenten nach Japan einschleusen, damit sie geheimdienstliche Tätigkeiten beispielsweise auf dem Gebiet der Hochtechnologie durchführen konnten. Die japanische Sprache zu beherrschen ist auch ein Ziel. Entscheidend war dabei, dass sich die Nordkoreaner an die japanischen Gewohnheiten, die sich von denen der Koreaner sehr unterscheiden, anpassen konnten. Sie brauchten die verschleppten Japaner aus verschiedenen Schichten und Altersgruppen als „Lehrer“ dafür.
Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen Japan und der Volksrepublik China?
Die Beziehungen sind uns sehr wichtig und wir sind an einer guten Partnerschaft interessiert. Aberder gewaltsame Aufruhr im Namen des Patriotismus, 2012, den die kommunistische Regierung unterstützte, ist nicht zu akzeptieren.
Die vielzitierten Streitigkeiten um die Senkaku-Inseln zwischen Japan und China lassen sich anhand vier Schlüsselbegriffe näher erläutern. 1. Niemandsland, 2. Ölvorkommen, 3. Verbot des widersprüchlichen Verhaltens, 4. obligatorische Gerichtsbarkeit.
1. Die Senkaku-Inseln gehören seit 1895 ununterbrochen zum japanischen Territorium. Zuvor ließ die damalige japanische Regierung 10 Jahre lang gründlich untersuchen, ob die Inseln einem fremden Staat angehören könnten. Nachdem es feststand, dass die Inseln „Niemandsland (terra nullius)“ waren, hat das japanische Kabinett beschlossen, die Inseln einzugliedern; ein völkerrechtlich völlig normales Vorgehen. 2. Die UNO hat 1969 festgestellt, dass es unter dem Meeresboden um die Inseln Öl gibt. Daraufhin hatten China und Taiwan für diese Gebiete Hoheitsansprüche angemeldet. Früher gab es keine Anspruchsmeldung. 3. Beim „Verbot des widersprüchlichen Verhaltens“ geht es darum, dass man mit seinem Verhalten nicht seinen eigenen früheren Worten oder Vorgehen widersprechen sollte. Dass China gegen dieses Prinzip verstößt, dafür gibt es viele Beweise. Es gibt ältere Karten oder Zeitungsartikeln aus China, die belegen, dass China selbst früher davon ausging, dass die Senkaku-Inseln Teil von Japan sind. 4. Japan hat die sogenannte „obligatorische Gerichtsbarkeit“ bei Verhandlungen im Internationalen Gerichtshof akzeptiert. D.h., wenn Japan dort angeklagt wird, wird Japan automatisch in ein Gerichtsverfahren einwilligen, vorausgesetzt, wenn die Gegenpartei auch die obligatorische Gerichtsbarkeit akzeptiert. China hat sich aber schon immer solch einer obligatorischen Gerichtsbarkeit widersetzt. China sollte die Angelegenheit vor den Internationalen Gerichtshof bringen, statt mit Gewalt seinen Willen durchzusetzen versuchen, wenn es von seiner Sache so sicher ist.
Vor zwei Jahren erschütterte eine Erdbebenkatastrophe Ihr Land, der Fall Fukushima hat nicht nur in der Bundesrepublik für ein Umdenken in Sachen Atompolitik geführt. Wie gestaltet sich der Wiederaufbau der betroffenen Regionen und auf welche Energien setzt Japan verstärkt in der Zukunft?
Die Infrastruktur ist bereits zu 90 Prozent wieder hergestellt, aber erst 30 Prozent der zerstörten Wohnhäuser. Viele Menschen leben nach wie vor in Übergangsunterkünften. Dem Prozeß des Wiederaufbaus wird oberste Priorität zugemessen, insgesamt25 Bill. Yen sollen dafür bereitgestellt werden. Mit den vom Tsunami wegbespülten Städten und Dörfern auf die Anhöhen auszuweichen und sie dort wieder aufzubauen, sind große Herausforderungen. Wir beschleunigen aber die Bewältigung dieser Aufgaben und versuchen, ganz neue Stadtformen, zukunftsorientierte Städte zu gestalten.
Was die Zukunft der Energien betrifft, setzt Japan in der Zukunft auf einen Energiemix. 1. Sparen, 2. den Effizienzgrad erhöhen und 3. neue Bezugsquellen zu finden (zum Beispiel: Methan-Hydrat, geothermische- oder Gezeitenengergie). Im gegenwärtigen Zustand decken die einheimischen Energiequellen nur 4 Prozent des Energiebedarfs in Japan.Der Betrieb mit fossilen Brennstoffen kostet viel Geld und der CO2-Ausstoss ist sehr hoch. Um diese Probleme zu beseitigen, ist es notwendig, die AKWs, unter verschärften Bedingungen, wieder anzufahren. Durch den Ausbau erneuerbarer Energien in Zukunft wollen wir die Abhängigkeit von der Nuklearenergie so weit wie möglich reduzieren. Laut einer Umfrage wollen ca. 70 Prozent der Japaner entweder aus der Kernkraft aussteigen oder die Abhängigkeit davon reduzieren. Aber die Japaner wissen auch, dass der Ausstieg nicht so schnell wie in Deutschland möglich ist. Wir wollen deshalb gründlich diskutieren und danach über den besten Energiemix entscheiden.
US-Starinvestor Soros hatte unlängst Europa vor einer weiteren Finanzkrise gewarnt. Wie Soros betonte geht die EZB einen Weg, der einst schon Japan zum Verhängnis geworden sei. Nun erklärt er Japans neue Geldpolitik gegenüber CNBC für „eine Sensation“. Die Bank von Japan hatte Anfang April bekannt gegeben, Milliarden an frischem Geld in die Ökonomie zu pumpen. Gelddruck um die Wirtschaft zu stimulieren, ist das das neue Erfolgsrezept?
Japans Regierung setzt diesbezügliche auf eine drei-Pfeiler-Strategie. Wir setzen 1. auf eine expansive Geldpolitik, 2. auf eine flexible Finanzpolitik und 3. auf eine investitionsfreundliche Wachstumsstrategie. Das Ziel liegt darin, die japanische Wirtschaft aus einer lang anhaltenden Phase der Deflation herauszuholen. Die Zentralbanken von Großbritannien, Amerika und der EU (EZB) unterstützen unsere Position. Wir alle wissen aber, dass diese Geldpolitik nicht allein hilft. Der wichtigste Punkt ist Punkt 3, die Bemühungen um die investitionsfreundliche Wachstumsstrategie. Wir legen hohen Wert auf z.B. die Deregulierung oder die Förderung der Hochtechnologie. Japan und Deutschland sind einerseits Konkurrenten, andererseits wird ihre weitere Zusammenarbeit in diesen Bereichen sicherlich neue Marktnischen oder Geschäftschancen erschließen.
Japan bewirbt sich für die Olympischen Spiele 2020, wie ist das Land gerüstet? Was versprechen Sie sich von dieser Bewerbung?
Die Olympischen Spiele haben 1964 in Tokyo stattgefunden. Wir garantieren bei der Bewerbung Tokyos für 2020 Sportstätten auf höchstem qualitativem Niveau mit bestmöglichen Serviceleistungen. Wir wollen die Weltgemeinschaft zu einer großen Feier einladen, die auch die Jugend der Welt inspiriert. Wir wollen die olympischen Spiele zur zukunftstorientiertesten Stadt der Welt holen, wo die Olympiade schon einmal sehr erfolgreich stattfinden konnte.
Nach dem großen Erdbeben vor 2 Jahren haben wir intensiv erfahren, was Sport bewirken kann. Auch deshalb ist das Symbol der Olympischen Spiele Tokyo 2020 ein fünffarbiger Blumenkranz, der Samsara symbolisiert, den Kreislauf von Werden und Vergehen. Mit den Olympischen Spiele wollen wir nämlich einerseits den „Rückkehr“ nach Tokyo nach 1964, andererseits die „Wiedergeburt“ nach dem großen Erdbeben vor 2 Jahren symbolisch feiern. Beim Beben hatten wir unsere Widerstandskraft und Entschlossenheit gezeigt. Im selben Sinne wollen wir ein Signal des Mutes in die Welt und besonders an die jungen Generationen senden. Damit zeigen wir gleichzeitig unsere Dankbarkeit für die Unterstützung aus aller Welt.
Im Interview Honorarkonsul Max Aschenbrenner – Königlich Norwegisches Konsulat München
von Max A. Aschenbrenner
Wie gestalten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Norwegen und Deutschland, insbesondere in der Außenpolitik?
Die Beziehungen zwischen Norwegen und Deutschland sind insgesamt betrachtet ausgesprochen gut, schon seit Jahrzehnten stabil, partnerschaftlich und vertrauensvoll. Das gilt für die Beziehungen zwischen den Regierungen – von welchen politischen Richtungen sie auch jeweils gestellt wurden oder werden – genauso wie für die der Menschen in beiden Ländern zueinander. Das hat sich gerade auch bei dem Terrorangriff in Oslo und Utøya am 22.07.2011 gezeigt, als die Bevölkerung auch hier in Deutschland große Solidarität bekundet hatte. Diese gezeigte Anteilnahme an dem größten Unheil, das Norwegen seit dem zweiten Weltkrieg getroffen hat und wurde dort sehr dankbar zur Kenntnis genommen.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern kann man ebenfalls nur als sehr gut bezeichnen. Das soll aber nicht ausschließen, dass sich in dem einen oder anderen Bereich die wirtschaftlichen Beziehungen nicht noch zum beiderseitigen Nutzen intensivieren ließen.
Norwegen und die Bundesrepublik sind starke Industrienationen, wo finden hier die stärksten Kooperationen statt und wo wünschen Sie sich eine noch intensivere Zusammenarbeit?
Norwegen ist ein Energieland schlechthin. Folglich gibt es gerade hier die engsten wirtschaftlichen Berührungspunkte. Dabei denkt man natürlich zuerst an die enormen Gas- und Ölvorkommen auf dem norwegischen Atlantiksockel. Allein mit seinen Gaslieferungen nach Deutschland ist Norwegen zweitgrößter Exporteur, der die Bundesrepublik mit einem knappen Drittel des hier verbrauchten Erdgases versorgt. Bei Exploration und Förderung beteiligen sich auch deutsche Firmen, wie z. B. Bayerngas, die sogar über eine eigene norwegische Tochterfirma dort selbst aktiv ist.
Aber auch regenerative Energien spielen eine zunehmend wichtigere Rolle. Ein sehr gutes Beispiel ist das jüngst beschlossene Stromkabel nach Norwegen. Es wird es ermöglichen, überschüssigen Windstrom aus Deutschland nach Norwegen zu leiten, die Energie in Pumpkraftwerken zu speichern, um sie nach Bedarf wieder in das deutsche Stromnetz einzuspeisen. Mit dieser „grünen Batterie“ kann Norwegen einen wichtigen Beitrag für die Energiewende in Deutschland leisten.
Möglichkeiten für eine weitere Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ich bei norwegischen Investitionen in Deutschland und vor allem bei einer Verstärkung der Kooperation mittelständischer Unternehmen beider Länder.
Gibt es hierfür bereits Ansätze?
Dazu kann ich Ihnen als Beispiel das skandinavische Wirtschaftsforum, kurz SWIFO, nennen. Es entstand 2010 aus einer Initiative der nordischen Konsulate in Bayern. Bei Veranstaltungen die allen an wirtschaftlichen Kontakten Interessierten offenstehen wollen wir Kontakte initiieren, die dann über Ideen zu hoffentlich erfolgreichen Projekten führen. Die nächste Veranstaltung im März 2013 werden wir gemeinsam mit dem Bayerischen Wirtschaftsministerium gestalten und uns dabei mit der sehr nordischen/norwegischen Thematik „Frauen in der Berufswelt und in Führungspositionen“ beschäftigen. Nähere Informationen finden Sie übrigens im Internet unter www.swifo.de
Weltweite Rezession und Finanzkrise sind die Schlagworte der Stunde. Wie steht Norwegen nach der Finanzkrise da? Was halten Sie von der sogenannten Nordwährung, dem Nord-Euro?
Den „Nord-Euro“ im engeren Sinn kann es schon begrifflich nicht geben. Norwegen ist nicht einmal EU-Mitglied und hat seine eigene Währung; wie übrigens seine angrenzenden skandinavischen EU-Nachbarn Schweden und Dänemark auch. Richtig ist aber, dass Norwegen genauso wie Deutschland zu den wirtschaftlich starken Ländern im nördlichen Teil Europas gehört und von daher auch ein eigenes Interesse an der Stabilität der Wirtschaftund der europäischen Währung hat.
Jedenfalls bislang ist Norwegen vergleichsweise gut durch die wirtschaftlichen Turbulenzen der letzten Jahre gekommen; wegen seiner insgesamt starken Wirtschaft und nicht zuletzt wegen seiner enormen Öl-und Gaseinnahmen. Diese fließen übrigens nicht in den Staatshaushalt sondern in den sog. Ölfond, der inzwischen der weltweit größte Pensionsfond ist.
Richtig ist aber auch, dass Norwegen ebenso wenig wie irgendein anderes Land als „Insel der Seligen“ auf Dauer von den wirtschaftlichen Krisen anderer Länder unberührt bleiben kann, insbesondere nicht von Risiken solcher Länder, mit denen enge Handelsbeziehungen bestehen. Dabei ist entsprechend den Größenverhältnissen für Norwegen Deutschland als einer bedeutendsten Wirtschafts- und Handelspartner noch wichtiger als umgekehrt. Um den norwegischen Botschafter in Deutschland, Sven Erik Svedman zu zitieren: „Wenn es Deutschland gut geht, geht es auch Norwegen gut“. Insoweit gibt es natürlich zwischen beiden Nationen gleichgerichtete wirtschaftliche und politische Interessen.
Wie können Norwegen und die Bundesrepublik gemeinsam die Zukunft Europas und den Euro-Raum gestalten?
Mit dem Willen und der Bereitschaft, also an den Herausforderungen der Zukunft konstruktiv und verantwortungsvoll mitzuwirken, mitzugestalten. Jedes Land ist ja auch, zumindest mittelbar, von den politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen betroffen. Welche Möglichkeiten ein Land jeweils hat hängt von seiner Größe, seinerund wirtschaftlichen wie politischen Bedeutung ab. Insoweit sind die Deutschlands andere als die Norwegens mit seinen nur 5 Millionen Einwohnern; außerdem ist Norwegen auch nicht selbst Mitglied der EU, sondern mit dieser nur assoziiert.
Gleichwohl versteht sich Norwegen als ein europäisches Land und wird sich auch künftig seiner Mitverantwortung stellen. Dabei ist eine gut partnerschaftliche Abstimmung in europäischen Fragen zwischen den Regierungen Deutschlands und Norwegen eine gute, bewährte Tradition, an der sich ersichtlich auch nichts ändern wird.
In Norwegen liegt die Zahl der Arbeitslosen unter 3 %. Für die Bundesrepublik, insbesondere die ostdeutschen Länder, wäre dies ein Idealzustand. Wie gelingt Ihnen eine fast Vollbeschäftigung, mit welchen Wirtschaftszweigen?
Das Wirtschaftswachstum Norwegens hat gerade in den letzten beiden Jahrzehnten in manchen Bereichen zu Arbeitskräftemangel geführt. Ein hohes Einkommensniveau, soziale Stabilität und Sicherheit und nicht zuletzt angenehme und familienfreundliche Arbeitsbedingungen machen den Arbeitsmarkt in Norwegen attraktiv. Das gilt für handwerkliche Tätigkeiten vor allem am Bau. Man sieht das in Oslo und Umgebung auch außerhalb der Ferienzeit an vielen Fahrzeugen mit Kennzeichen aus z. B. Polen und Ostdeutschland. Aber auch Ärzte, Ingenieure und vergleichbare Akademiker sind in nennenswerter Zahl aus Deutschland und anderen europäischen Ländern nach Norwegen gegangen. Es scheint sich hier ein Kreis zu schließen: gute Wirtschaftskraft führt zu attraktiven Arbeitsbedingungen, engagierte Mitarbeiter tragen ihrerseits zu weiterem Wirtschaftswachstum bei.
Wie werden die Sozialschwachen in Norwegen vom Staat unterstützt?
Norwegen ist wie die Bundesrepublik auch ein sozialer Rechtsstaat. Selbstverständlich gibt es auch dort gesetzliche Schutzsysteme für soziale Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter. Nicht minder bedeutsam als die finanziellen Hilfen des Staates ist daneben aber auch, wie die Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die, aus welchen Gründen auch immer, Hilfe und Unterstützung brauchen. In Norwegen gibt es eine gewachsene und allgegenwärtige Tradition der gegenseitigen Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Gleichbehandlung aller. Dies erleichtert vieles.
Gerne wird in diesem Zusammenhang Ihre Frage noch erweitert, die sich zunächst nur auf die „sozial Schwachen“ richtete. Eine gesellschaftliche Herausforderung ist das Verhältnis zwischen Familie und Beruf noch weiter zu verbessern und insbesondere die Rolle von Frauen zu stärken. Das Beispiel Norwegens zeigt, dass es gesetzlicher Regelungen bedarf, diese aber durch Akzeptanz und Unterstützung der Gesellschaft flankiert werden müssen.
Was können die Deutschen von Norwegen im Hinblick auf die Energiepolitik lernen. Welche Energien werden vorrangig genutzt?
Für Norwegen sind Öl und Gas seit den ersten Funden in den frühen 1970iger Jahren die wirtschaftlich eindeutig bedeutendste Energiequelle. Das wird auch noch einige Jahrzehnte so bleiben, zumal technische Neuerungen sowohl die Suchergebnisse verbessern als auch die Möglichkeit anschließender Produktion. Norwegen hat sich dabei durch den Aufbau einer eigenen Industrie eigenständiges Knowhow erworben, so dass norwegische Unternehmen inzwischen auch weltweit mit der Exploration und Förderung fossiler Energien am Markt sind.
Historisch weit zurück reicht die Nutzung der Wasserkraft, für die sich in Norwegen aufgrund der natürlichen Bedingungen ganz besonders gute Möglichkeiten bieten. Aus den vorhandenen Kraftwerken deckt sich der norwegische Eigenbedarf an Strom nahezu vollständig. In dem schon genannten Projekt der „grünen Batterie“ wird sich die Wasserkraft auch noch weiter wirtschaftlich auswirken.
Das Land der Fjorde gehört zu den größten Fischerei-Nationen der Welt, was bedeutet hier ein nachhaltiger Umgang mit den Naturressourcen?
Die Überfischung der Meere ist ein weltweites Problem. EU-intern gibt es ständig Auseinandersetzungen über die Höhe der Fischereiquoten, die allesamt über den Empfehlungen der Fischereibiologen liegen. Für Norwegen ist der Fischfang seit je her der bedeutendste Wirtschaftszweiggewesen, bis er von der Energiewirtschaft abgelöst wurde. Gleichwohl spielt die Fischerei gerade im Norden des Landes immer noch eine bedeutende wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle. Umso stärker achten die Norweger auf die nachhaltige Nutzung und Bewirtschaftung und oft hört man den selbstbewussten Satz „wir verwalten unsere Naturressourcen selbst“. Dies und die Furcht, norwegische Fischgründe auch für Flotten aus der EU öffnen zu müssen mag eine nicht zu unterschätzende Rolle dafür gespielt haben, dass die Norweger zwei Referenden über den EU-Beitritt abgelehnt haben. Zum nachhaltigen Umgang mit Naturressourcen gehört im Übrigen auch neben dem Fischfang verstärkt Aquakultur zu betreiben. Hier hat Norwegen Dienstleistungen erbracht und einen bedeutsamen Wirtschaftsfaktor geschaffen.
Wie bringt sich Norwegen in die deutsche Kultur ein, bzw. welche großen kulturellen Projekte sind förderwürdig und worauf setzen Sie dabei den Schwerpunkt?
Norwegen hat eine ganze Reihe bekannter Künstler hervorgebracht, bei denen Deutschland in der Ausbildung oder beim späteren Erfolg eine besondere Rolle spielte. Edvard Munk in Berlin, Edvard Grieg in Leipzig oder Ipsen, der lange Jahre in München gelebt und gewirkt hat, seien hier als Beispiel genannt. Wir haben hier in Bayern mit Olaf Gulbransson, dem genialen Zeichner und Illustrator des Simplicissimus, den einzigen norwegischen Künstler, dem hierzulande am Tegernsee ein eigenes Museum gewidmet ist. Insoweit ist dieses auch ein idealer Ort, norwegische Kultur im Allgemeinen und zeitgenössische Künstler aus Norwegen im Besonderen, auch hier in Deutschland zu präsentieren. Einen ganz besonders guten „Klang“ hat zeitgenössischer, moderner Jazz aus Norwegen, mitNamen wie Petter Molvaer, Jan Garbarekund vielen anderen. In München findet regelmäßig eine Veranstaltungsreihe „The Norway of Jazz“ im renommierten Jazzclub Unterfahrt statt. Ich selbst als Anhänger dieser Musik gehe gerne dorthin und freue mich, wenn auf diesem Weg norwegische Kultur bekannt wird.
Für die bundesdeutschen Touristen ist Norwegen ein beliebtes Touristenziel. Was interessiert umgekehrt die Norweger/innen an der Bundesrepublik?
Die Schönheit und der Reichtum der norwegischen Landschaft bietet Norwegern daheim beste Gelegenheiten für Sport und „Freiluft-Aktivitäten“ zu Hause, so dass sie dafür nicht eigens nach Deutschland kommen müssen, alpinen Skisport vielleicht ausgenommen. Dafür bietet Deutschland eine städtische Kultur, die wiederum die Norweger besonders schätzen. Hier in München ist natürlich das Oktoberfest der Besuchermagnet schlechthin, nicht zuletzt auch für Gäste aus dem hohen Norden.
Das neue „Naturkundemuseum Bayern“ – eine Investition in die Zukunft: Im Gespräch mit Dr. Auguste von Bayern, Prinzessin zur Lippe
von Auguste von Bayern, Prinzessin zur Lippe
Die Life Sciences, die Biowissenschaften, die Biomedizin, die Humanbiologie, die Geo- und Umweltwissenschaften sind auf der Überholspur, nirgendwo gibt es derzeit mehr neue Entdeckungen, der alltägliche Wissenszuwachs ist gigantisch. Ist unsere Gesellschaft über diese Themen genügend informiert, eine Frage an die Wissenschaftlerin?
Selbst als Biologin und Forscherin ist es unmöglich immer auf dem neuesten Stand, auch nur in einem Teil der Disziplinen zu bleiben. Das Wissen in den Biowissenschaften explodiert gerade. Alle zwei Jahre verdoppelt es sich! Wenn man sich überlegt, was allein in den letzten Jahren in den Biowissenschaften an Erkenntnissen und Anwendungsmöglichkeiten hinzugekommen ist – nur allein in der Genetik, Krebsforschung, Gehirnforschung, Biochemie! Dennoch soll es die Aufgabe des Museums sein immer auf den neusten Stand der Forschung zu bleiben. Eine große Herausforderung, aber auch eine spannende. Das Museum wird zugleich Begegnungsstätte mit der Forschung und Wissenschaftlern eine Plattform für die Vermittlung ihre aktuellen Forschungsergebnisse bieten.
Eines der beliebsteten Museen der Bundesrepublik ist das „Museum Mensch und Natur“ im Schloss Nymphenburg. Das Museum ist in seiner Art einzigartig! Sie planen aber ein großes Naturkundemuseum, gar von einer „Natur- und
Kulturmeile“ ist die Rede, warum?
Man ist vielleicht überrascht: das kleine Museum „Mensch und Natur“ in Nymphenburg ist heute das besucherstärkste Museum Deutschlands – das allerdings, wenn man die Besucherzahl auf den Quadratmeter rechnet. Aber genau das ist der Punkt: das jetzige Museum Mensch und Natur platzt aus allen Nähten und hat mit 200.000 Besuchern pro Jahr seine Kapazitätsgrenze längst erreicht. Z.B. muss es jedes Jahr 1500 Schulklassen abweisen, weil ihm die Kapazität fehlt! Dabei könnten es viel mehr Besuchersein. Bei einer Vergrößerung des Museums rechnen wir konservativ mit mind. 600.000 Besuchern pro Jahr.
Unser Ziel ist es ein einzigartiges Museum in Deutschland zu schaffen, das als Pendant zum Technik-orientierten Deutschen Museum, die Life Sciences und Umweltwissenschaften abdeckt und mit dem eine neue europaweite Museumsattraktion geschaffen wird.Einzigartig, wird es allein schon wegen der unvergleichlich schönen Lage. Das Museum wird sich harmonisch in die Schlossanlage, den Park, den Botanischen Garten, den lebendigen Stiftungen, der Porzellanmanufaktur und das Schlossrondell einfügen. Eine wahrhafte Kultur- und Naturmeile gibt es so kein zweites Mal in Deutschland.
Und warum? Ein großes Life Sciences Museum ist wichtig, wenn wir den Anschluss an die Entwicklung in Europa nicht verlieren wollen, und in Forschung und Wirtschaft in den Life Sciences in Zukunft weiter einer Vorreiterrolle spielen wollen.
Was ist das Neuartige an diesem Museumskonzept? Mit welchen pädagogischen Mitteln soll die junge Generation für die großen Themen der Gesellschaft, Umweltschutz, Klimawandel, Biodiversität sensibilisiert werden? Nachhaltigkeit ist ein großes Thema, was kann Ihr Museum dazu beitragen, das Jugendliche lernen verantwortungsvoll-gesamtperspektivisch und global zu denken? Junge Menschen speichern Wissen oft über die sinnliche Wahrnehmung, visuelles Sehen und Haptik – moderne Geräte wie Explorer sind neu auf dem Markt, werden diese zum Einsatz kommen?
Sie sprechen in Ihrer Frage schon Einiges an, auf das bei der Konzeption des Museums großen Wert gelegt werden wird. Das Museumskonzept mit dem Thema „Zukunft-Mensch-Natur“ stellt den Menschen in den Mittelpunkt und seine Interaktion mit seiner Umwelt. Es zeigt, wie der Einfluss des Menschen bereits heute die Zukunft formt, die unseres Planeten Erde, und auch die eigene. Die Themen sollen interdisziplinär und vor allem interaktiv und auf höchstem museumspädagogischen Niveau vermittelt werden. Das Gesamtbild und die Zusammenhänge sollen aufgezeigt werden. Zusammenhänge verstehen, das ist uns wichtig. Das Museum soll allen Bürgern, egal welchen Alters oder Bildungsgrad einen Zugang zu den großen, wichtigen naturwissenschaftlichen Themen geben,auch mit Hilfe von modernster Technik und neuen Medien. Nur was man kennt, schätzt man und nur was man schätzt, schützt man auch – und der Mensch gehört dazu.
Welchen Umfang haben die Sammlungsbestände – derzeit sind diese in den Magazinen der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (SNSB) der Öffentlichkeit nicht zugänglich? Welche räumlichen Kapazitäten benötigen Sie, um diese Fülle zu präsentieren?
In den Staatlich Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns sind wahrhaftig Schätze vergraben, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich in den Magazinen ruhen. Die Menge allein ist unglaublich: circa 30 Millionen Sammlungstücke, darunter Einmaliges wie ein 30 Meter langes Skelett eines Diplodokus-Sauriers oder die größte Schmetterlingssammlung der Welt. Welch Reichtum aus Forschung, Historie und Abenteuer da unten liegt, ist unfassbar! Die Kapazitätsgrenze des jetzigen Museums ist leider längst erreicht und kann diesen Reichtum nicht im Ansatz zeigen. Im neuen Museum werden viele Exponate einen neuen Platz finden und endlich von der Öffentlichkeit bestaunt werden können.
Wo werden Sie bei der Gestaltung des geplanten „Naturkundemuseum Bayern“ die Schwerpunkte setzen, mehr auf den historischen Sammlungsbestand oder auf Veranstaltungsreihen zu Themen wie alternativer Energien, Artensterben, Klimawandel und Ressourcenknappheit, Gentechnik, Gehirn-und Stammzellenforschung?
Sie nehmen mir die Frage vorweg, denn viele verstehen unter Naturkundemuseum, einen Ort, in dem nur alte verstaubte Tiere zu sehen sind. In Wirklichkeit geht es aber vielmehr um die Vermittlung der Bildungs-Inhalte aus den Life Sciences.Der historische Sammlungsbestand wird also der Erläuterung und Illustration von höchst modernen Themen dienen, nicht der eigentliche Schwerpunkt sein.
Das Museum soll ein spannendes Life Sciences Pendant zum Deutschen Museum werden, das heißt die Bio-, Geo- und Umweltwissenschaften. ein riesiges Spektrum von Fächern -,werden im Mittelpunkt stehen. Vor allem aber soll das Namu Bayern ein modernes, dynamisches und interaktives Informations- und Bildungsforum werden, wo sich die Bürger jeden Alters oder Bildungshintergrund- auf den neusten Stand der Life Sciences bringen können. Natürlich wird es dabei z.B. um Gentechnik, Gesundheit und Ernährung, Klimafragen und Naturschutz, aber auch um viele andere zukunftsentscheidende Themen gehen. Denn diese großen Themen sind schon jetzt für uns alle von so entscheidender Bedeutung und für die kommenden Generationen wird es schlicht existenziell. Schließlich können wir nur auf der Basis von Bildung wichtige Entscheidungen über Natur und Umwelt verantwortungsvoll treffen.
Das neue Naturkundemuseum soll aber auch von internationalen Rotations- und Wanderausstellungen profitieren. Und selbstverständlich werden auch zahlreiche Schätze der SNSB zu sehen sein.
Wie kann man Ihr Projekt unterstützen oder eine Patenschaft übernehmen? Und wann werden Sie die Türen zum „Naturkundemuseum Bayern“ öffnen können?
Es gibt zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten für unsere Initiative. Wir sind dankbar über jede kleine Spende, jede Unterschrift und jedes Facebook-Like. Aber besonders wichtig für unser „politisches Gewicht“ ist möglichst viele aktive Mitglieder zu begeistern, um der Politik zu signalisieren, dass bürgerliches Engagement vorhanden ist. NaMu-Fördermitglied kann man ab 100 (ermässigt 50) €. Derzeit suchen wir außerdem 1000 engagierte Bürger, die 1000,- Euro spenden und dem NaMu-Club of Thousand beitreten. Als Anerkennung wird man als NaMu-Stifter auf einer großen Tafel im Museum genannt.
Für Unternehmen, aber natürlich auch für Verbände oder Privatpersonen gibt es verschiedene NaMu-Partnerschaften ab €10.000/5.000€. Grundsätzlich ist jede Art der Unterstützung und jede Höhe der Spende willkommen. Jeder einzelne Euro hilft. Es freut uns auch schon, wenn man uns hilft, das Projekt bekannt zu machen und es weiterempfiehlt, z.B. über Facebook, Email-Verteiler oder „Mundpropaganda“. Mehr Informationen und unser Anmeldeformular findet man auf unserer Homepage www.namu-bayern.de oder auf Facebook:
Interview mit Prof. Dr. Alfred Grosser: Was bleibt aber stiftet der Moralpädagoge
von Alfred Grosser
Was bleibt, aber stiftet der Dichter, sagt Hölderlin, was stiftet der Moralpädagoge? Sie sprechen von unserer Zeit als einer, in der die Zeiten des Glücks etwas weniger geworden sind! Was können wir dagegen tun und wo sehen Sie die Ursachen?
Unter anderem, indem ich versuche das ständige „Was wird das Ausland sagen?“ zu bekämpfen sowie die Art, sich von Israel ständig erpressen zu lassen, wie ich das in meinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel“ dargestellt habe. Heute muss aber vor einem neuen deutschen Hochmut gewarnt werden, mit seinen dummen antieuropäischen Konsequenzen.
Etwas dagegen tun könnte man beispielsweise in der Presse. Anstatt nur negative Meldungen zu verbreiten, wäre es doch weitaus besser und würde das Glück befördern, wenn man mehr über positive Ereignisse berichten würde. Dieses Positive allein begegnet einem in der öffentlichen Medienwelt allerdings sehr selten. Etwas Böses hingegen findet sich immer wieder. Und um Freude zu verbreiten, bräuchte man auch einen Begriff, dass es Freude geben kann und Freude geben soll. Aber der Geist der Zeit ist Anti-Freude.
Was macht Ihrer Meinung den Geist der Verzeihung aus? In der heutigen Welt, so scheint es, Ihre persönliche Geschichte hat Sie etwas anderes gelehrt, ist die Verzeihung aus der Mode gekommen!
Ich bin gar nicht zu sehr für Verzeihen. Ich bin zuerst einmal dafür, dass man begreift, dass der Andere vielleicht auch Recht gehabt hat. Ich bin dafür, dass man den Anderen nicht personifiziert, es gibt keine Kollektivschuld, es gibt solche und andere Deutsche. Um eine Anspielung auf das Buch „Das Amt“ zu machen; es gibt Diplomaten die so oder anders waren; jede Verallgemeinerung ist etwas, für das man sich erst einmal entschuldigen sollte. Ich glaube, das Verzeihen ist grundsätzlich sehr schwierig, wenn man nicht selbst gelitten hat. Deswegen ist das gegenseitige Verzeihen vor allen Dingen erst dann wirklich und echt, wenn man das Leiden des Anderen erst einmal verstanden und akzeptiert hat. Beispielsweise können heute die Israelis den Palästinensern nicht verzeihen, weil sie sie nicht verstehen.
Was beeindruckt Sie an Emmanuel Levinas? Sie haben eine tiefe Affinität zu Camus, warum?
Levians, er beeindruckt mich, weil er die Ethik über alles stellt, über jede Metaphysik. Es kann keine Politik geben, ohne eine moralische Begründung, ob die nun gut oder schlecht ist. Und es gibt zuerst eine Moral und die Sicht des Anderen bestimmt diese Moral weitgehend. Als ich 65 wurde, stifteten mir ehemalige Studenten und Kollegen ein Buch mit dem Titel „Der Andere“ und Levinas ist jemand, der das Gesicht des Anderen verherrlicht. Ich glaube, das ist wesentlich. Meine Begeisterung für Camus besteht seit Anfang an, weil er menschlich ist, weil er andere versteht. Ein Beispiel: er plädiert, dass der extrem rechte Schriftsteller Robert Brasillachnicht erschossen wird, er ist doch erschossen worden, nicht weil er Anhänger dieser Ideen ist, sondern weil er gegen die Todesstrafe ist. Er ist systematisch gegen die Todesstrafe – auch gegen die Todesstrafe der Feinde. Übrigens kenne ich sehr wenige Menschen, die im Rückblick sagen, man hätte in Nürnberg niemand verurteilen können, wenn sie auch gegen die Todesstrafe sind.
Sie plädieren für die Mäeutik des Lernens und der Wissensvermittlung im sokratischen Sinne! Was bietet diese Methode für Vorteile für Studierende? Sie haben immer jene Form von Wissenschaft kritisiert, die sich im Elfenbeinturm verschließt.
Ich habe immer versucht, sokratisch zu sein, ich gehe auf den anderen ein – „Du sagt das, Du sagst das Gegenteil – siehst Du nicht den Widerspruch“; dann kommt im Gespräch die Konsequenz, die man nicht gewollt hat und über die es wieder nachzudenken gilt. Das ist die sokratische Methode. Ich habe diese immer wieder mit meinen Studenten vollzogen, die sich darüber geärgert haben. Aber ich selbst wurde von einem Philosophieprofessor beeinflusst, diese sokratische Einstellung zu haben.
Warum muß man gegen Mythen ankämpfen, lebt es nicht schöner mit diesen?
Ja, das würde ich, wenn ich bösartig wäre, von Religionen sagen, da aber meine Frau sehr gläubig ist, werde ich es nur halb sagen. Mythen können positiv sein. Beispielsweise war der Élysée–Vertrag von Anfang an ein Scheitern. Charles De Gaulle hat gesagt, er sei tot, es ist wenig daraus entstanden, außer dass der Mythos 50 Jahre später eine große Wirkung und viel bewirkt wird, weil sich tausende Menschen gegenseitig begegnen im Namen eines Vertrages, der zum Mythos geworden ist. Also ich bin nicht gegen alle Mythen, aber ich versuche immer Mythen zu zerstören, denn mit Mythen baut man auch Fanatismen auf.
Was kann der moralisierende Einzelgänger leisten?
Es ist ein freudiges Einwirken auf andere, es ist ein freudiges Ein-sich-lassen auf sich selbst, man soll wissen, wer man ist, sich also nicht selbst aufgeben, in dem Willen, andere zu beeinflussen. Ich will beeinflussen und will mich beeinflussen lassen. Ich glaube, dieser Austausch ist unglaublich wertvoll. Einer meiner Freunde, ein großer Jesuit sagte, ich möchte, dass der andere sei, d.h. eine Persönlichkeit habe und das er anders sei als ich. Und ich tue diese Arbeit, wenn ich zu den Gymnasiasten in Deutschland und Frankreich gehe und schöne Dialoge führe, weil diese jungen Menschen nie eine dumme Frage stellen – im Gegensatz zu den Erwachsenen.
Ihre Autobiographie „Die Freude und der Tod“ beginnen Sie mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine, Ihre, glückliche Existenz, aber auch vom Tod ist die Rede. Gibt es da eine Dialektik? Wo steht der Aufklärer, dem jede Metaphysik fremd ist?
Nein, das Ende ist der Tod, dies habe ich entdeckt als ich neun war und mein Vater gestorben ist. Man darf keine Zeit vergeuden. Mit vielen Christen verbindet mich, dass man die Zeit nicht für Kleinigkeiten verschwenden soll. Der Tod ist für mich das endgültige Ende, weder hoffe ich auf mehr noch habe ich Schrecken davor. Es bleibt wenig Zeit, heute mit 88 setze ich alles daran, die Zeit intensiv zu nutzen.
Wie sehen Sie das deutsch-französische Verhältnis zur Zeit? Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen Hollande und Merkel?
Da muss man zwischen unterer und oberer Ebene unterscheiden. Auf den unteren Ebenen, auf der Universität, der Schul- und Städteebene geht es sehr gut – hier gibt es viele Austauschprogramme in ganz Frankreich und auch die Forschungskooperationen sind besser als je zuvor. An der Spitze hingegen geht es nicht gut. Weil Hollande nicht den Mut hat das zu tun, was die Kanzlerin vorschlägt, nämlich zu sparen. Da ist der Name Schröder was Furchtbares, denn Schröder weißt darauf hin, das man weniger Lohn zahlen und die Altersgrenze nach oben schrauben und viele Einschränkungen machen muss. Wenn man auf Deutschland blickt, sollte man sagen, dass es bessere Verhältnisse zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmern in Frankreich geben soll, man sollte mittelständische Unternehmen wie in Deutschland fördern, ebenso die Forschung und nicht nur sparen. Hollande – bedrängt von seiner Linken innerhalb und außerhalb der Partei – hat nicht den Mut, etwas durchzusetzen. Und die Kanzlerin ihrerseits besteht auf einen Standpunkt, den heute niemand mehr teilt. Man kann nicht sagen, die Menschen in Spanien, Portugal und Griechenland sollen sich zu Tode sparen. Wo kommt denn das Geld her, damit sie wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben, um ihre Schulden zu bezahlen? Sie sollte wenigstens ein paar Worte des Mitleids zum Ausdruck bringen, des Verstehens für das große Leiden zum Beispiel der Jugendlichen in Spanien, von denen ein viertel arbeitslos ist, für die Spanier und Griechen also, bei denen die Gehälter um 40% gekürzt wurden. Da sehe ich ein immenses Leiden, eine immense Hoffnungslosigkeit – dafür Verständnis zu zeigen, dies ist der Kanzlerin bis heute nicht gelungen.
Sie haben immer für Europa gekämpft, ist die „Alternative für Deutschland“ eine Gefahr oder ist diese Partei nur eine vorübergehende Episode? Ist die Euro-Zone zu groß geworden?
Nein, es ist keine vorübergehend Episode. Es gibt eine gewisse neue Deutschlandfeindlichkeit oder Merkelfeindlichekit. Auch mit Blick auf die Wahlen im September hat die Kanzlerin, zusammen mit Cameron, den Anti-Europäer, in Brüssel gesagt, dass man noch mehr sparen muss, für einen Haushalt, der sowie so schon so winzig ist. Wo man doch einen enormen anderen Haushalt bräuchte, einen europäischen Haushalt unter europäischer Kontrolle, der überall investiert, damit die Wirtschaft wieder aufwärts geht. Aber solch einen Fond gibt es nicht und die Bundesrepublik wird ihn nie zugeben.
Ihnen ist soeben der Theodor Wolff Preis für Ihr Lebenswerk zugesprochen worden. Was bedeutet das für Sie?
Nicht nur die schöne Anerkennung von Seiten des Zeitungsverbands, wo ich doch nicht nur als Professor, sondern als Journalist gewirkt habe. Aber vor allem habe ich ja jahrzehntelang, in all meinen Vorlesungen über Weimar, von dem großen, von mir bewunderten Journalisten Theodor Wolff gesprochen, der 1933 aus seiner Zeitung hinausgeworfen wurde, während seine Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten. Er ist von Frankreich nicht gut behandelt worden, wurde von den Italienern der Gestapo ausgeliefert und starb in einem KZ. Er glaubte wie mein Vater an die tiefe deutschjüdische Verbundenheit.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß führte.
Prof. Dr. Alfred Grosser, 1925, war Prof.em. am Institut d’études politiques, Paris, Präsident des CIRAC (Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine), Politischer Kolumnist für La Croixund Ouest-France, Friedenspreisträger (1975) des deutschen Buchhandels als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente“. Veröffentlichungen u.a.Verbrechen und Erinnerung, Mein Deutschland,Wie anders sind die Deutschen? Wie anders ist Frankreich?; Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Grosser erhielt u.a.: Grosses Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, Grosskreuz des Ordre national du Mérite,Grand Officier de la Légion d’Honneur.
Die Tabula Rasa im Gespräch mit dem Verleger der Wochenzeitung „der Freitag“, Jakob Augstein
von Jakob Augstein
Was verstehen Sie unter einer medialen „Zersplitterung“, von der auch auf dem Medienkongress, einer gemeinsamen Veranstaltung der „taz“ und dem „der Freitag“, am 8. und 9. April 2011 in Berlin die Rede war?
Das Netz, das es den unterschiedlichen Nutzern erlaubt, in aller inhaltlichen Vielfalt zu kommunizieren, hat, wie einst Berthold Brecht in seiner Radiotheorie formuliert hat, den Vorteil, dass jeder einzelne Mensch Sender werden kann. Es hat aber den gravierenden Nachteil, dass bei vielen Sendern kaum einer das Gesendete hören wird. Insofern braucht es die großen Institutionen, die „Marken“, um diese Kommunikation bündeln. Wenn das nicht passiert, dann versendet sich alles im Netz, und die Informationen verdampfen, ohne irgendwo eine konzentrierte Wirkung entfaltet zu haben. Ich glaube nicht an ein System, in dem jeder einzelne Sender eine gesellschaftlich relevante Wirkung erzielen kann.
Welche Rolle sollten die etablierten Medien zukünftig spielen – auch gegenüber kleinen Netz- und Onlinezeitungen?
Ich glaube nicht, dass es eine Solidarität zwischen den Medien geben muss. Konkurrenz ist doch ganz belebend. Es ist schön, wenn es Partnerschaften und Freundschaften wie zwischen dem „Freitag“ und der „taz“ gibt. Aber am Ende sind wir als Unternehmen allein unterwegs.
Haben Sie Angst vor dem Journalismus als Prekariat?
Wahrscheinlich ist es für den Journalismus nicht gut, wenn unterbezahlte, um ihren Status fürchtende Journalisten zu Unternehmenslenkern, zu Managern, zu Bankern geschickt werden, die über viel Geld und damit über ein dementsprechendes Selbstbewusstein verfügen. Wenn man sehr optimistisch ist, könnte man hoffen, dass die Journalisten dann eine bessere Arbeit machen, weil sie sich unabhängiger fühlen, und das Gefühl haben, über eine Klasse zu schreiben, zu der sie nicht gehören. Vermutlich wird es aber eher dazu führen, dass die Journalisten ängstlicher sind, schüchterner und zurückhaltender. Das kann nicht in unserem Interesse sein – natürlich müssen Journalisten ausreichend verdienen.
Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus – Online– Print?
Positiv. Wenn die Medienmacher es verstehen, die Vorteile von Online und Print miteinander zu verknüpfen und nicht glauben, Online würde über Print obsiegen oder Print müsse Online an die Wand drücken. Ich glaube, beides würde fehl gehen. Man muss die Vorteile beider Mediengattungen miteinander verknüpfen. Wir versuchen dies beim „Freitag“. Es gibt andere, sehr viel größere Zeitungen, die das sehr gekonnt vormachen. „Der Spiegel“ ist sicherlich ein Beispiel, aber auch die „BILD“-Zeitung kombiniert Online und Print auf eine sehr gute Weise.
Interview mit Konstantin Neven DuMont über die Zukunft des digitalen Zeitalters
von Konstantin Neven DuMont
Steht die klassische Zeitung vor dem Aus?
Konstantin Neven DuMont: Sie steht nicht vor dem Aus, aber sie wird in Zukunft weiter an Auflage verlieren, weil sich die Menschen zunehmend auch eben digital informieren werden.
Was bedeutet digitale Zukunft für Sie?
Konstantin Neven DuMont: Digitale Zukunft bedeutet, daß die Markteintrittsbarrieren für Inhalte für Hersteller oder auch Anbieter deutlich gesenkt werden, und daß begrüße ich, weil es eben auch den Wettbewerb erhöht und die Großen unter Druck setzt, an ihrer Qualität zu arbeiten.
Welche Zukunft hat der Qualitätsjournalismus im Netz?
Das kommt natürlich auf die Refinanzierung an. Ich bin schon der Meinung, daß Journalisten auch in Zukunft für ihre Arbeit angemessen bezahlt werden sollen. Das Thema Pay Content hat ja bislang noch nicht funktioniert, und die Frage ist eben, ob es sich allein über die Werbung so refinanzieren läßt. Das sind die Fragen an denen wir in den nächsten Jahren verstärkt arbeiten müssen.
Welche Chance haben die digitalen Lesegeräte in der Zukunft?
Konstantin Neven DuMont: Die digitalen Lesegeräte haben sicherlich eine Chance, ich habe selber auch ein Ipad, wobei ich ehrlich zugeben muß, wenn man ein gutes Smartphone oder Laptop hat, braucht man das Ipad eigentlich nicht wirklich. Ich lese mittlerweile auch fast alles digital, obwohl ich auch noch mal ein Buch aus Papier zur Hand nehme, aber gerade bei Zeitungen ist mir schon aufgefallen, daß ich mich auch da schon Online informiere. Wenn man weiß, wo eben die guten Geschichten im Netz zu finden sind, kann man sich das alles schon so zusammenstellen, daß man am Ende des Tages zufrieden ist. Man darf allerdings nicht vergessen, daß viele Anbieter heute ihre Onlineauftritte noch in gewisser Weise vom Printmedium quer subventionieren, wenn das rein digital refinanziert werden muß, wird das schwieriger, wenn man beim Thema Pay Content keine Fortschritte macht. Das führt dann oft auch dazu, daß Autoren gar nicht mehr für ihre Arbeit finanziert werden, und das finde ich persönlich sehr schade. Generell gesehen sind dies die Themen, an denen wir noch viel experimentieren, viel Bewußtsein schaffen müssen, um da Lösungen auch für die Zukunft zu entwickeln.
Der Traum vom perfekten Menschen – Zwischen Machbarkeit und seinen Grenzen
Interview zur ästhetischen Chirurgie in der Universitätsklinik Jena mit Prof. Dr. Dr. Schultze-Mosgau.
von Stefan Schultze-Mosgau
Ca. 300 000 Schönheitsoperationen werden in Deutschland jährlich vorgenommen – Tendenz stark steigend. Der Hauptteil der sogenannten freiwilligen Patienten sind Frauen, nur jeder 5. Mann legt sich freiwillig unters Messer. Trotzdem steht eine Vielzahl der Menschen dem Thema noch sehr kritisch gegenüber und Maßnahmen wie Gesichtsstraffung und Faltenbehandlungen werden von der Umwelt nicht immer wohlwollend verbucht. Sie sind Klinikdirektor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Jena. Sind Schönheitsoparationen auch ein Thema an Ihrer Klinik? Können Sie uns Zahlen nennen? Kann man sich einem solchen Trend überhaupt verweigern?
Ja, die ästhetische Chirurgie ist einer der Schwerpunkte in unserer Klinik. Man kann eine trendmäßige Zunahme der Anzahl an ästhetisch chirurgischen Eingriffen über die letzten fünf Jahre hin verzeichnen. Im Kontext des Anti-Aging und des Wellness- trendes zeigt sich auch für die unterschiedlichen Eingriffe im Bereich der ästhetischen Chirurgie eine kontinuierliche Zunahme.
Welches ist der häufigste Eingriff? Laut Statistik stehen Fettabsaugungen an Platz eins, gefolgt von Brustoperationen und Nasenkorrekturen. Gehört letzteres in Ihrem Fachgebiet zu den täglichen Routineeingriffen?
Fettabsaugungen und Brustoperationen stehen bei uns nicht an den vorderen Stellen. Zumeist werden, um den Alterserscheinungen einer Hauterschlaffung entgegen zu wirken, Korrekturen im Bereich der Oberlider oder der gesamten Gesichtshaut nachgefragt, so dass das Lidlifting und das Facelift gefolgt von Nasenkorrekturen oder anderen ästhetischen Korrekturen im Bereich des Gesichtes von der Häufigkeit noch vor Fettabsaugungen oder Eingriffen an der Brust stehen. Diese Eingriffe führen wir regelhaft durch.
Handelt es sich um einen rein ästhetischen Eingriff, übernehmen die Krankenkassen soweit ich weiß, keine Kosten. Nur wenn der Körper stark von der Norm abweicht oder z.B. sehr große Brüste Rückenschmerzen verursachen, ein stark verändertes Gesicht nach einem Unfall Depressionen auslöst. Wie verhält es sich an Ihrer Klinik bezüglich der Kosten? Vielerorts wird ja auch mit Ratenzahlung geworben, so daß eine breitere Masse bedient werden kann!
Bezüglich der Kostensicherung ist festzustellen, dass Eingriffe aus einer rein ästhetischen Indikation in der Regel nicht zu den Vertragsleistungen der Versicherungsträger gehören und somit, da sie außervertraglich sind, von den Patienten selbst zu tragen sind. Dies betrifft in der Regel rein ästhetisch plastische Eingriffe. Hingegen werden bei plastisch rekonstruktiven Eingriffen, bei denen eine angeborene oder erworbene Formveränderung mit Krankheitswert vorliegt, in der Regel die Kosten von den Versicherungsträgern übernommen. Dies ist im Einzelfall abzuklären. Da es sich in der Regel um planbare Eingriffe handelt, die zeitlich nicht gebunden sind, spielt bei unseren Patienten eine Ratenzahlung keine Rolle.
Wichtig für den Erfolg ist sicher die richtige Wahl des Arztes. Häufig sind „Schönheitschirurgen“ gar keineplastischen Chirurgen. Inwieweit sind Fachqualifikationen erforderlich?
Sie adressieren das Thema der Qualitätssicherung bei ästhetisch chirurgischen Eingriffen. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen sind ausgebildet für plastisch ästhetische Eingriffe im Gesichtsbereich. Ebenfalls sind durch die Zusatzbezeichnung „Plastisch ästhetische Operationen“ die anderen Eingriffe abgedeckt, so dass eine entsprechende Expertise für plastisch ästhetische und plastisch rekonstruktive Eingriffe vorliegt.
Die Erfolge der ästhetischen Chirurgie sind groß und diese Begeisterung verdrängt häufig, daß SchönheitsoperationenRisiken bergen! Prof. Hans-Ulrich Steinau, ärztlicher Direktor der Klinik für plastische Chirurgie der Uniklinik Bochum, hat sogar eine Studie gestartet, die sich mit dramatischen und unerwünschten Operationsfolgen beschäftigt. Über welche unerwünschte Nebenwirkungen klären Sie auf und wie häufig treten diese tatsächlich in Erscheinung?
Die Aufklärung über mögliche Komplikationen hat bei ästhetisch chirurgischen Eingriffen einen besonderen Stellenwert. In der Regel verfahren wir so, dass nach einer Erstvorstellung der Patienten individuell die Wünsche des Patienten besprochen werden und nach Erhebung eines Befundes ein für den Patienten individuell abgestimmtes Therapiekonzept festgelegt wird, was ebenfalls gfls. Begleiterkrankungen oder anderen Veränderungen des Patienten Rechnung trägt. In weiteren Vorstellungsterminen wird die Operation erklärt und eine Risiko- sowie Alternativaufklärung durchgeführt. Hierbei werden neben den üblichen chirurgischen Komplikationsmöglichkeiten wie Nachblutung und Entzündung auch individuelle Risiken und Komplikationen des Eingriffes besprochen. Hiernach hat der Patient eine weitere Bedenkzeit, gfls. wird ein weiteres Aufklärungsgespräch durchgeführt, bevor dann ein Termin für den Eingriff vereinbart wird.
Für einen ästhetisch-chirurgischen Eingriff gibt es – so die Definition -keine medizinische Notwendigkeit. Ausschlaggebend ist allein der Wunsch des Patienten. Gäbe es auch Operationen, die Sie aus ethischen Gründen ablehnen würden? Gerade in den USA scheinen ja den Wünschen der freiwilligen Patienten keine Grenzen gesetzt zu sein, ganz nach dem Motto Hauptsache schön ….
Ja, ästhetische chirurgische Eingriffe dienen der Verbesserung der Lebensqualität und es liegt in der Verantwortung des Arztes, dies bei einem empathischen Arzt-Patientenverhältnis mit dem Patienten ausführlich zu besprechen und in Abwägung und Aufklärung über die Risiken eine Entscheidung mit dem Patienten zusammen zu finden. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen wir einen Eingriff ablehnen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Erwartungen des Patienten sowie seine subjektive Eigenwahrnehmung sich zu weit von einer klinisch-operativen Realisierbarkeit entfernen oder das zu erwartende Ergebnis bei der subjektiven Erwartung des Patienten das Operationsrisiko nicht rechtfertigt. In diesem Falle haben wir als Chirurgen die Verantwortung, dies dem Patienten mitzuteilen.
Das Kreiskrankenhaus in Starnberg bei München wirbt mit der Atmosphäre eines 5 Sterne Hotels? Was kann Ihre Klinik den selbstzahlenden Kunden/innen während des Krankenhausaufenthaltes an Annehmlichkeiten bieten? Wie lange ist im Durchschnitt der stationäre Teil der Behandlung?
Das UKJ sowie die Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/Plastische Chirurgie gehört zu einem der modernst ausgestatteten Universitätskliniken in Deutschland. Neben Einzelbettzimmern mit Internetanschluss und Kabelfernsehen werden weitere Annehmlichkeiten wie Essen nach Menükarte vorgehalten. Die durchschnittliche stationäre Verweildauer kann pauschal nicht festgelegt werden, da in der Regel für unterschiedliche Eingriffe unterschiedliche Verweildauern existieren. In Einzelfällen werden auch in Absprache mit dem Patienten und bei entsprechend engmaschigen Nachsorgeterminen sehr kurze stationäre Verweildauern gewählt.
Sie sind ja in erster Linie ärztlicher Direktor der konventionellen Mund-, Kiefer und Gesichtschirugie und beispielsweise spezialisiert auf die operative Therapie kraniofazialer Fehlbildungen wie Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten oder Kieferfehlstellungen / Dysgnathien. In wieweit kommt Ihrem Zentrum hier ein überregionaler Stellenwert zu?
Die Behandlung von angeborenen Fehlbildungen wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten oder kraniofazialen Fehlbildungen ebenso wie Kieferfehlstellungen und Dysgnathien ist tatsächlich ein überregionaler Schwerpunkt unserer Klinik. Dies zeigt sich u. a. an der Tatsache, dass in unserer Klinik ein universitäres Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltzentrum etabliert ist, bei dem interdisziplinär Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten betreut werden. In diesem Zentrum behandeln wir Patienten nicht nur aus der Thüringer Region, sondern auch aus den angrenzenden Regionen der benachbarten Bundesländer. Wir führen im Jahr eine Vielzahl an primären und sekundären Eingriffen bei Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten oder angeborenen Fehlbildungen bis hin zu komplexen Fehlbildungenssyndromen durch. Auch im Bereich der skelettalen Fehlbildungschirurgie führen wir die hohe Anzahl von 140 Umstellungsosteotomien pro Jahr durch.
Zusammenfassend kann man daher mit Recht sagen, dass die Behandlung von angeborenen Fehlbildungen und Dysgnathien zu den Schwerpunkten unserer Tätigkeit gehört.
Laut Ihrer Homepage betreuen Sie jährlich ca. 1400 Patienten. Siegarantieren Ihnen eine speziell auf Sie zugeschnittene Behandlung und professionelle Rahmenbedingungen auf dem Standard einer Universitätsklinik. Die Hälfte Ihres Angebotes beläuft sich auf plastische, ästhetische Eingriffe. Können Sie uns sagen, ob es sich die Hälfe der Patienten auch solchen Operationen unterziehen?
Auf der Homepage haben wir das Spektrum plastisch ästhetische Eingriffe sowie die Behandlung von medizinisch indizierten Eingriffen bei Erkrankungen unseres Fachgebietes. Das dargestellte Angebot an plastisch ästhetischen Eingriffen führen wir natürlich auch regelhaft durch. Darüber hinaus sind wir als Grund- und Regelversorger sowie Maximalversorger als Universitätsklinik natürlich an der traumatologischen Behandlung von mehrfach verletzten Patienten sowie der Behandlung von Tumorpatienten mit bösartigen Erkrankungen im Kopf-/Halsbereich maßgeblich beteiligt. Das Spektrum der plastischen Chirurgie umfasst sowohl plastisch ästhetische Eingriffe als auch plastisch rekonstruktive Eingriffe an den Weichgeweben und den Knochenstrukturen, so dass eine strikte Trennung nicht immer vorgenommen werden kann.
Momentan herrscht in vielen Fachbereichen ein starker Nachwuchsmangel an engagierten Ärzten. Wie sieht es bei Ihnen an der Klinik aus? Bedeutet Mund-, Kiefer- und Gesichtschirugie immer die Bereitschaft auch plastisch-ästhetisch tätig sein zu wollen?
In unserer Klinik haben wir keinen Nachwuchsmangel, im Gegenteil, wir haben eine höhere Nachfrage als zur Verfügung stehende Ausbildungsstellen. Für die Facharztausbildung zum Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen und zur Erlangung der Zusatzbezeichnung „Plastisch Ästhetische Operationen“ gehört natürlich, entsprechend der Weiterbildungsordnung, auch die Notwendigkeit und Bereitschaft, sich plastisch ästhetisch chirurgisch zu engagieren. Die Tätigkeit eines Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, auch in der Grund und Regelversorgung, ebenso wie in der Maximalversorgung, ist immer mit einem hohen Anteil an ästhetischer Komponente verbunden.
Die Nachsorge und Rekonvaleszenz der operierten Patienten obliegt dem Pflegepersonal und dessen Qualität spielt demnach eine große Rolle und ist mitverantwortlich für eine gute Reputation. Inwieweit herrscht Pflegenotstand in Ihrem Fachbereich? Wie steht es mit dem Verhältnis zwischen Pflegepersonal und Ärzten auf Ihren Stationen?
Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegepersonal ist für eine qualitätssichernde und optimale Patientenbehandlung von besonderer Bedeutung und hat einen hohen Stellenwert. Um im Sinne der Patienten die optimale Versorgung zu gewährleisten, werden die Visiten und Besprechungen gemeinsam bei uns in der Klinik durchgeführt. Auf diese Weise wird ein optimaler Informationsfluss, der für eine reibungslose Zusammenarbeit Voraussetzung ist, sichergestellt. Alle Planstellen der Pflege auf unserer Station sind besetzt, so dass ich einen Pflegenotstand durch nicht zu besetzende Stellen im Bereich der Pflege nicht sehen kann.
Gestatten Sie uns noch eine letzte Frage: Inwiefern spielt das eigene ästhetische Empfinden und der eigene Anspruch an ein gepflegtes Äußeres eine Rolle, um Ihren Beruf erfolgreich ausüben zu können?
Ich denke, eine Gepflegtheit und Sensibilität für Ästhetik spielt generell in der Medizin eine Rolle. Sie haben aber recht, ich denke gerade in unserem Fachbereich mit einem hohen Anteil an Gesichtschirurgie, ist ein Empfinden für Symmetrie und Ästhetik kein Nachteil. Ich denke, wir alle versuchen diesem Anspruch täglich gerecht zu werden.
Im Interview – Mark Mast
von Mark Mast
Was hat Sie damals bewogen, die Bayerische Philharmonie zu gründen. Es gab doch zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Reihe von Orchestern in München?
Als ich 1987 nach München zu Celibidache kam, habe ich das Münchner Jugendorchester gehört. Damals war ich so von dieser Musizierkultur begeistert, die ich sonst nur von Celibidache kannte, dass es ein Traum für mich war, irgendwann einmal vor diesem Orchester zu stehen. Als ich dann sechs Jahre später zum Chefdirigenten gewählt wurde, war das schon die Erfüllung eines Traums. Ab 1993 begann dann eine sehr erfolgreiche gemeinsame Zeit, wobei ich das Glück hatte, den pädagogischen Eros, den ich bei Celibidache erlebt hatte, nun selbst zu leben. Aus dieser Fülle an Ideen, aus dieser sehr kreativen Zeit, ist zunächst die Junge Münchner Philharmonie und danach die Kinderphilharmonie München entstanden. Damit war zum einen die Keimzelle gelegt für das intergenerative, generationenübergreifende Musizieren, als zum anderen für den Anspruch sowohl pädagogisch als auch künstlerisch erstklassig zu sein. Bei Celibidache war jede Probe öffentlich, es gab keine Geheimnisse, es war alles transparent, die Proben waren voll. Heute wird es als große Erfindung gepriesen, Proben öffentlich zu machen – gegen Bezahlung selbstverständlich. Ich habe fünf Jahre bei Celibidache nichts bezahlt, weil es das Credo dieses Ausnahmedirigenten war, das das wichtigste menschliche Tun das Lehren sei. Damals hatte ich dies nicht verstanden, aber diese tiefe Wahrheit ist mir jetzt ganz bewusst geworden: Wenn wir das, was wir als Essenz erkannt haben in die nächste Generation weitergeben, dann wächst und reift die Menschheit von Generation zu Generation.
Was schätzen Sie an Ihrem Lehrer Celibidache, welche seiner vielen Tugenden hat Sie am meisten begeistert?
Die größte Tugend von Celibidache war, dass er dem Musizieren und damit dem Menschsein eine derartige Tiefe gegeben hat, wie sie den Dingen zusteht. Er war immer, ich habe ihn nie anders erlebt, spontan. Bei ihm habe ich gelernt, im-Moment-zu-Sein. Diese Fähigkeit im-Moment-zu-Sein, spontan auf das zu reagieren, was man hört, erlebt, sieht: Das ist eine Lebenskernkompetenz. Und vielleicht ist dies die größte Tugend Celibidaches. Dies war jedenfalls auch die größte Herausforderung für sein Umfeld. Denn dadurch war er sehr unbequem, er hat keine Routine und keine Wiederholung, keine Repräsentationskultur geduldet. Es ging ihm immer um den persönlich-direkten Kontakt mit seinem Gegenüber.
Was dirigieren Sie am liebsten, wer ist Ihr Lieblingskomponist?
Eine schwierige Frage. Wenn ich eine Bruckner Sinfonie dirigieren darf, ist das das Schönste, was es gibt. Wenn ich eine h-Moll Messe oder Werke von Carl Orff dirigiere, ist es ein Traum. Ich stehe insofern in der Tradition der Celibidache-Schule, denn durch die spontane Begegnung mit dem Klang wird jeder Klang wertvoll. Es ist meine Aufgabe als Dirigent, die Handschrift des jeweiligen Komponisten zu lesen, zu hören und zu verstehen. So klingt auch jeder Komponist anders, ist eine andere Persönlichkeit, die es herauszuarbeiten gilt. Wenn man meine Präferenzen als Kanon definieren wollte, dann stehen Bach, Haydn, Mozart, Brahms und Bruckner für mich an erster Stelle.
Sie legen den Schwerpunkt Ihrer Arbeit immer wieder auf Komponisten aus Bayern. Allerorts wird 2013 Wagner und Verdi gehuldigt, die Bayerische Philharmonie tut das nicht. Warum? Wollen Sie bestimmte Gegenakzente zum gängigen Kulturbetrieb setzen, oder mit dieser Präferenz auf die regionalen Künstler, deren Werk und Wirkung hinweisen, weil diese Künstler samt Werke im Kunstbetrieb oft nur eine untergeordnete Rolle spielen?
Ich bin 1987 ins „Exil“ nach München gekommen. Die bayerischen Komponisten und ihre Werke sind mir im Laufe der Jahre dann hier begegnet. 1995 hatte ich den Orff-Tag wesentlich mitgestaltet, 2001 war ich Protagonist des Werner-Egk-Jahres, und 2005 engagierte ich mich nachhaltig für Karl Amadeus Hartmann. Orff, Egk, Hartmann und Richard Strauss, um nur diese zu nennen, nächstes Jahr ist Strauss-Jahr, sind aus meiner Sicht, auch aus Respekt dem Ort gegenüber, dem genius loci, diejenigen Persönlichkeiten, die für die Bayerische Philharmonie eine zentrale Rolle spielen. Auf meinen Tourneen pflege ich grundsätzlich die zu ehren, die an diesen Orten Existentielles geschaffen haben und versuche mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Durch die Auseinandersetzung mit diesen bayerischen Komponisten leisten wir Essentielles für die Rezeption dieser Komponisten, denn außer der „Carmina Burana“ kommen ihre Werke nicht im Lehrplan vor. Selbst an der Musikhochschule sind sie eher eine Randerscheinung. Bei uns hängen diese drei, Orff, Egk und Hartmann im Probenraum. Wenn sich die Bayerische Philharmonie, so unser Credo, nicht um diese Komponisten kümmert, wer soll es dann tun? Es ist unsere Selbstverpflichtung.
Ihre Orchester sind bunt gemischt, Vielsprachigkeit und Künstler aus allen Kontinenten versammeln sich bei Ihnen zur Probe, zum gemeinsamen Musizieren. Warum legen Sie den Schwerpunkt auf diese Polyphonie nicht nur der Stimmen, sondern auch der Menschen?
Andere sprechen von Globalisierung, aber für uns und für Musiker generell, ist es alltägliche Realität. Musik ist die internationale Sprache ohne Grenzen. In dieser Realität sind wird unterwegs. Diese Universalität, dass wir grenzübergreifend integrieren, ist eine Facette unserer Tätigkeit. Wir versuchen ganz gezielt, mit unserer Musik die Botschaft einer friedlichen Welt und eines harmonischen Miteinanders transparent zu machen.
Was sind Ihre Visionen für die Bayerische Philharmonie?
Zunächst sind wir sehr stolz und dankbar, was wir in den letzten 19 Jahren erreicht haben. Dies ist bemerkenswert und ein Lebenswerk zugleich. Es ist aber, ernst gesprochen, erst der Anfang. Ich wünsche mir für die Bayerische Philharmonie und für ihre Musiker, dass der Freiraum zum Musizieren und zur menschlichen Begegnung zur inspirierten friedlichen und liebevollen Begegnung führt, dass dieser Freiraum dauerhaft erhalten bleibt und institutionalisiert wird.
„Wir alle haben die Sehnsucht nach einem Miteinander und müssen den Mut haben, Utopien zu leben“
Konstantin Wecker im Interview
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Philharmonie ergeben?
Ich habe Mark Mast vor fünf Jahren kennengelernt. Und ich finde die Zusammenarbeit sehr spannend, weil er aus einer ganzen anderen Ecke kam, er war Jazzer, und hat Saxophon, Blues gespielt, ist dann zur Klassik gewechselt. Diese Lebensgeschichte finde ich toll, alles was grenzüberscheitet musikalisch überschreitend ist, interessiert mich sehr, viel mehr als diejenigen, die in ihren festen Gebieten starr bleiben. Ich war von seiner Idee überzeugt, mit jungen Musikern zu arbeiten.
Inwieweit hat sie ihr Freund und Lehrer Carl Orff und die klassische Musik beeinflußt?
Carl Orff hat mich musikalisch stark geprägt. Dies ist interessant, wenn man meine Lieder hört, und sich nicht gut wirklich gut mit Orff auskennt. Es würde keiner glauben, daß mich Orff mehr beeinflußt hat als alle anderen. Das ist ganz faszinierend – auch im Rückblick für mich selbst. Natürlich hat mich auch Schubert geprägt; insofern bin ich völlig anders als viele meiner höchstgeschätzten Kollegen sozialisiert, als Hannes Wader beispielsweise, den ich über alles liebe, der aber vom amerikanischen und der englischen Folkmusik herkommt, oder viele von der französischen Musik. Bei mir war es die Klassik, denn mein Vater war Opernsänger und hat klassisches Liedgut gesunden. Als Knabe habe ich selbst Schumann, Schubert und Verdi gesungen. Dies ist meine Herkunft. Und dann hat mich Orff mit seinen Instrumentierungen erwischt, der Orff ist für mich ein bayerischer Blues, ich selbst mache auch einen bayerischen Blues. Zwar war ich nicht Baumwollpflücken, aber den bayerischen Blues, den können Carl Orff und ich besser.
Meine Musik ist also von der Klassik und der Instrumentierung Orffs beeinflußt. Ich hatte in den 80ern, was man sich heute gar nicht vorstellen kann, ein Kammerorchester dabei, das war damals völlig unpopulär. Und dennoch hatte ich ein großes Publikum um mich sammeln können. Also, mit einem Kammerorchester, dies war für die Art, bei den Liedermachern in dieser Zeit völlig untypisch.
Ich werde nie vergessen wie ich Ende in den 70ern, als ein höchst politischer Sänger, der ich immer war, kritisch darauf angesprochen wurde, daß ich ein Cello auf der Bühne hatte. Auf den damaligen Vorwurf, das Cello sei ein bourgeoises Instrument konnte ich nur lakonisch antworten, daß dies die Gitarre eben auch sei. Hannes Wader, der mich früher nie möchte, wir haben uns erst spät lieben gelernt, hat einmal gesagt: „mir waren immer sechs Saiten einer Gitarre zu viel“, ihm hätten drei genügt, mehr war Wader nicht puritanisch genug“. Und dann kam so ein kulinarischer Bayer wie ich mit Cello daher, was vielen damals überhaupt nicht gepaßt hat.
In Ihrem Film mit Hannes Wader spürt man, daß Sie eine kraftvolle Ausstrahlung haben, woher nehmen Sie diese kraftvolle Energie
Das ist eine schöne Frage. Auf diese gibt es eine Antwort, die sich jeder selbst geben könnte, wenn er nicht einen Fehlgedanken hätte. Viele Menschen denken, Energien sind etwas, die man mit der Geburt mitbekommen hat und je älter man wird, werden diese immer weniger, ist das Faß quasi irgendwann einmal leer. Der eine kriegt mehr, der andere weniger. Energie ist etwas, was da ist, was existiert. Die einzige Möglichkeit, Energie zu bekommen, ist offen zu sein und dies zu bleiben. Man merkt es an Bekannten und Freunden, je verschossener jemand ist, desto unenergetischer ist; vielleicht ist einer gemein, vielleicht mächtig, vielleicht bösartig, das kann auch eine gewisse Energie sein, aber es ist nicht eine wirkliche energetische Ausstrahlung. Das geht nur durch Offenheit; man muß neugierig sein und den Mut haben, sich auf Neues einzulassen. Das gibt eine wahnsinnige Energie. Und bei Orff, der damals schon weit über achtzig war und kaum mehr gehen konnte, weil er körperlich ziemlich gebrechlich war, er hatte Augen, die leuchteten. Und man dachte, hier sitzt einem ein Siebzehnjähriger gegenüber. Das war diese Wachheit, die er bis zum Schluß hatte. Energie kann jeder haben und Orff hatte er sie in einem ganz besonderen Maße.
Sie beschreiben, daß Sie jeden Abend ihre Lieder neu und mit Freude interpretieren, ist das ein Ausdruck dieser Energie?
Ja natürlich. Der Austausch zwischen dem Publikum und dem, was auf der Bühne passiert, ist etwas sehr liebevolles. Man ist nicht dauernd gleicher Meinung, das muß man auch nicht sein, aber man hat die gleiche Sehnsucht. Dies ist etwas, was den Künstler so sehr mit seinem Publikum verbindet. Das macht dann wirklich Spaß.
„Sie glauben an den Menschen, das Mitgefühl, die Liebe, an das Gute im Menschen, sie glauben an eine liebevolle, gewaltfreie Gesellschaft des Miteinanders“. Was ist darunter zu verstehen?
Das ist eine Utopie. Das ist genau alles, was wir in unserer Gesellschaft nicht haben, leider. Aber wir haben komischerweise die Sehnsucht nach einem Miteinander, wir haben die Sehnsucht, daß keiner den anderen unterdrückt. Jeder von uns hat diese Sehnsucht, auch wenn wir sie nicht leben. Wir denken, wir dürfen die Sehnsucht nicht leben, weil wir sonst keine Karriere machen können, weil wir sonst in der Gesellschaft, in dieser Ellenbogengesellschaft, nicht weiterkommen. Ich meinerseits glaube, wir müssen den Mut haben, Utopien in uns leben zu wollen und auch zu dürfen. Jeder von uns hat diese Sehnsüchte. Es gibt nur ganz wenige gestörte Menschen, die der Meinung sind, auf den anderen einzutreten, wenn dieser am Boden liegt. Aber es ist eine Minderheit, die zwar immer gern hochgehoben wird, wann man sagt, daß der Mensch so sei, doch meiner Meinung nach ist er nicht so. Aber wir sind in einer Gesellschaft, die uns diese Sehnsüchte nicht erlaubt, weil sie uns vorgaukelt, daß wir dann nicht leistungsfördernd sind. Laßt uns, so denke ich, diese Sehnsucht leben. Man sollte sich keineswegs von Menschen fertigmachen lassen, die meinen, man müsse gegen den Gutmenschen schimpfen. Was ist denn das Gegenteil vom Gutmensch, der Schlechtmensch? Will ich ein Schlechtmensch sein? Ich behaupte, es ist besser ein Gutmensch als ein Schlechtmensch zu sein, schlechte Menschen hatten wir in der Nazizeit.
Im Interview – Armin Mueller-Stahl: „Ich will nur noch Dinge machen, wo ich fliegen kann“
von Armin Mueller-Stahl
Herr Mueller-Stahl, können Sie Ihre Ehrenpreise noch zählen?
Drei glaube ich
Wie ist das, wenn man einen Preis für das Lebenswerk bekommt, ist das schon ein Abgesang?
Nein, ich fühle mich nicht so, man ist auf der einen Seite geehrt, auf der anderen Seite sagt es einem, daß man etwas im Leben geleistet hat.
Herr Ministerpräsident Seehofer meinte, daß Sie eigentlich alles können – stimmt das?
Nein, mit den Ohren wackeln kann ich noch nicht, aber ich übe es.
Welche Bedeutung hat unter Ihren vielen Preisen der Bayerische Filmpreis?
Dieser Preis ist ein besonderer für mich. Ich bin sozial ein Bayer in Preußen oder ein Preuße ein Bayern. Ich wollte auch mal nach München ziehen, aber der Immobilienverkäufer, der mich durch München führte, war ein alter Nazi und die Villen, die er mir zeigte, waren so teuer, das ich davon abgesehen habe.
Selbst verstehe ich mich als Brückenbauer. Ich bin nicht nur ein Münchner, Berliner oder New Yorker. Ich bin sozusagen ein Deutscher von Geburt und ein Weltbürger aus Überzeugung. Ich nehme diesen Preis als Ehrung mit Dankbarkeit an, weil die Menschen scheinbar gemerkt haben, daß ich etwas Vernünftiges getan habe. Ich habe nicht nur gepatzt, aber ich habe auch in meinem Leben viele Mißerfolge gehabt und da sammeln sich viele Geschichten. Also in einem gelebten Leben kommt viel zusammen.
Wo waren Sie am liebsten, in welchem Land fühlen Sie sich wohl?
Ich bin sehr gern in Deutschland und gern in Kalifornien. Ich habe dort gute Freunde und liebe die Sonne, habe den Pazifik vor mir und die Rocky Mountains hinter mir. Landschaftlich fühle ich mich dort wohl. Aber immer wenn ich nach München, und ich komme beinahe jedes Jahr hierher, und sehe das Voralpenland und mit seinen Wolken am Horizont auftürmen, was gibt es etwas Schöneres?
Für welche Leistung im Leben würden Sie sich selbst einen Preis geben?
Ich würde mir gar keinen geben, ich würde anderen einen geben, aber nicht mir.
Sie sehen besonders fitt aus, was machen Sie persönlich, um so gut auszusehen?
Die Fitnessspiele ich nur. Sie können es in einem Alter nicht verhindern, auch bei denen, die wie viele Menschen so auf Gesundheit pochen und anderes meinen, es bleibt wie es ist – die Schrauben werden locker, da können sie tun, was sie wollen, ändern tut sich nichts.
Ich gehe jeden nachmittag eine Stunde spazieren, fahre Rad und gehe gelegentlich Schwimmen, aber all dies nicht mit jener Leidenschaft wie jene Leute, die versuchen, sich das ewige Leben an den Hals zu laufen. Das alles tue ich nicht. Was meine Ernährung betrifft, bin ich in guter Beratung bei meiner Frau, die Ärztin ist.
Was werden Sie demnächst drehen?
Ich habe drei Drehbücher auf dem Tisch, aber ich glaube, ich werde keines drehen, weil ich soviel gedreht habe. Jetzt will ich andere Dinge machen, Dinge, bei denen ich fliegen kann. Wenn sie filmen, sind sie immer abhängig; von Partnern, vom Wetter, vom Kameramann, vom Regisseur, vom Drehbuch, von vielen Dingen. Beim Malen oder Schreiben fliege ich, niemand kommt und sagt, diesen Satz so, diesen nicht so; Gott sei Dank haben sich das die Leute abgewöhnt!
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß führte.
Im Interview Katrin Stoll – Inhaberin des Auktionshauses NEUMEISTER in München
von Katrin Stoll
Sie führen eines der renommiertesten Auktionshäuser für Kunst in der Bundesrepublik, und sind seit 2008 alleinige Geschäftsführerin und Inhaberin. Wie kann man sich die Arbeit eines Aktionshauses vorstellen?
Ein Aktionshaus ist ein Marktplatz. Auf diesem wird die Ware „Kunst“ angeboten und zum jeweiligen Tageswert gehandelt. Dabei gibt es konjunkturelle und Zeitgeistschwankungen. Genau diese Schwankungen machen das Spannende an unserem Beruf aus, weil letztendlich immer das Kunstobjekt im Mittelpunkt steht, da es sich manchmal um nicht ganz ausrecherchierte Kunstobjekte handelt. Viele Disziplinen, wie an der Börse auch, spielen hierbei zusammen. Bei uns ist es insbesondere das Fiskalpolitische und das Geisteswissenschaftliche. Ergänzt wird dieses interdisziplinäre Arbeiten durch die Zusammenarbeit mit vielen führenden Kunstexperten in der ganzen Welt.
Arbeiten die Aktionshäuser eigentlich zusammen, oder gibt es eine starke Konkurrenz und ein gemeinsames Kooperieren ist dadurch nicht möglich?
Beides trifft zu. Selbstverständlich versucht man kollegial zu sein. An erster Stelle steht bei NEUMEISTER der Kunde und die optimale Beratung. Wenn bestimmte Kunstwerke, beispielsweise Briefmarken, an einem anderen Standort besser verkauft werden, empfehlen wir unseren Kunden dann natürlich die anderen Häuser, von denen wir wissen, dass unsere Kunden mit diesen speziellen Wünschen dort besser aufgehoben sind. Kundenbindung und Glaubwürdigkeit sind uns wichtiger als einmaliger Umsatz.
Seit Jüngstem, es war ein Kraftakt, der sich aber ausgezahlt hat, gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen den großen Auktionshäusern in München, gerade auf dem Sektor der Moderne. Wir koordinieren gemeinsam unsere Auktionstermine, damit auswärtige Kunden die Möglichkeit haben, die Vorbesichtungstermine und Auktionen direkt aufeinanderfolgend zu besuchen, so ersparen sie sich mehrfache Anreisen. Diese Leistung verstehen wir als Servicetool für unsere Kunden. Und die oft intensive Kooperation hat sich nicht nur im Hinblick auf den Kundenservice ausgezahlt.
Seit 2008 ist Rezession. Hat sich das Anlagebewusstsein in diesen unsicheren Zeiten verändert? Gibt es einen erneuten Trend, in Kunstwerke zu investieren?
In jedem Fall, nach den Entwicklungen im Immobilienbereich und beim Edelmetall sind die Kunstwerke wieder hoch gefragt. Was wir bundesweit und international allerdings feststellen, ist eine Verknappung im Angebotssektor. Viele Leute fragen sich, warum sie jetzt, bei den niedrigen Zinsen, verkaufen sollen und entscheiden sich lieber dafür, ihre Sachwerte zu behalten. Insgesamt gilt es festzustellen, dass die Rezession alle Kunsthändler getroffen hat. Andererseits werden, gerade in New York, wieder Kunstwerke zu Höchstwerten gehandelt. Bei den großen Werken bedeutender Künstler existiert derzeit hohe Investitionsbereitschaft – zumal die Kenner wissen, dass qualitätsvolle Kunstwerke in Zukunft weiter an Wert zulegen.
Welche Kunstart, Gattung, Stilrichtung und Epoche ist derzeit besonders gefragt, wo erzielt das Kunst- und Auktionshaus NEUMEISTER die besten Verkaufsergebnisse?
Es ist die Klassische Moderne, sie ist der Blue Chip. Demgegenüber hat die zeitgenössische Kunst spekulative Elemente, die nicht so gut berechenbar sind. Die Klassische Moderne hingegen, die im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege dezimiert wurde, steht hoch im Kurs. Grund ist die „Knappheit des Materials“. Dezimiert wurden die Kunstwerke durch die Aktion „Entartete Kunst“ oder wie beim „Blauen Reiter“ dadurch, dass die Künstler zudem jung verstorben sind. Preistreiber nach wie vor sind Künstler wie Grosz, Beckmann und Kirchner, die durch ihre persönlichen Biografien einen internationalen Markt haben. Ob in Amerika oder in der Schweiz – der internationale Bekanntheitsgrad ist ein preistreibendes Moment. Neben der Romantik ist der „Blaue Reiter“ der Expressionisten eine Künstlergattung, die übernational gut repräsentiert ist – deswegen sind hier auch besonders hohe Wertzuwächse zu verzeichnen.
Bei vielen Firmen, insbesondere bei großen deutschen Unternehmen, wird die NS-Vergangenheit zumeist totgeschwiegen. Sie sind einen anderen Weg gegangen und haben die Geschichte Ihres Hauses in der Naziherrschaft penibel untersuchen lassen. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich habe die Beispiele von Flick, Thyssen, Quandt, Krupp studieren dürfen. Seit der Übernahme von NEUMEISTER im August 2008, zu einer Zeit, als in Amerika die Subprime-Krise begann und auch ich mit dem neugekauften Auktionshaus von der Rezession getroffen wurde, wollte ich reinen Tisch mit der Vergangenheit machen. Die Zeit der Übernahme war schwer und ein Neuanfang – auch in Distanz zu Herrn Weinmüller – war für mich unbedingt geboten. Insofern gehörte die Provenienzforschung für mich zu einem Neuanfang dazu.
Kunst und Fälschertum sind oft nicht weit voneinander entfernt, kommt es oft vor, dass Ihnen Fälschungen – bewußt oder unbewußt – angeboten werden?
Natürlich kommt dies vor. In jedem Bereich, wo viel Geld umgesetzt wird, gibt es Trittbettfahrer, die mit unlauteren Methoden arbeiten. Dagegen setze ich, was vielleicht betriebwirtschaftlich nicht effizient ist, auf ein großes Expertenteam. Ich habe 20 Kunsthistoriker im Haus. Natürlich könnte man Auktionen auch mit weniger kunsthistorischem Potential durchführen, aber ich könnte nicht schlafen, ich hätte immer Sorge, dass ein einzelner Fall eine enorme Wirkung haben könnte. Damit würde ich die Marke ruinieren. Auch hier gilt: mir ist es wichtiger, den Wert der Firma zu wahren als auf einen einmaligen Umsatz zu spekulieren.
Die Expertisen müssen auf alle Fälle sauber sein, sobald etwas nicht eindeutig durchschaubar oder belegbar ist, woher das Kunstwerk stammt, also gewisse Eigenschaften nicht belegbar sind, nehme ich Abstand. Insofern arbeiten wir eng mit den einzelnen Archiven zusammen, diese Archive, wie zum Beispiel das Kirchner- oder Klee-Archiv haben detailgenaue Informationen, kennen die Briefwechsel, wissen über Datierungen Bescheid, haben internes Wissen, das sie nicht preisgeben, um es Fälschern nicht zu einfach zu machen. Bei Fällen, wo die Herkunft nicht klar ist, müssen wir laut einem Urteil vom Bundesgerichtshof eng mit den Fachexperten zusammenarbeiten. Letztendlich liegt es bei den Archiven über die Echtheit zu entscheiden – nicht zuletzt auch, damit wir selbst aus der Haftung herausgenommen werden. Für Kunstwerke aus dem 20. Jahrhundert gilt generell, dass sie belegbar sein müssen, wenn dies nicht der Fall ist, bieten wir diese gar nicht an.
Ist der Beruf der Auktionatorin vergleichbar mit dem Beruf des Dirigenten? Sie stehen am Pult und dirigieren den Saal.
Die Auktion hat für mich ein starkes psychologisches Element. Im Saal gibt es eine starke emotionale Situation, da auch Nachlass, Schulden und Scheidungen zu Verkäufen führen. Der Verkäufer steht also unter Umständen unter einer großen emotionalen Belastung. Dies gilt nicht nur für ihn, sondern auch für die Käufer und Marktbeobachter. Diese emotionale heterogene Stimmung im Saal zu führen und zu koordinieren, bestmöglich auszuspielen, ist die Aufgabe des Auktionators. Dabei gilt es, hochprofessionell zu bleiben und Niederlagen wegzustecken, dies macht den Reiz aus, insofern, gleichwohl ich beim produktiven Akt keine Rolle spiele, ist diese Situation mit dem eines Dirigenten vergleichbar. Allerdings hat er den Vorteil, dass er sein Orchester gut kennt, bei den Käufern und Verkäufern ist das „dirigieren“ oft nicht so leicht.
Seit wann ist es eigentlich möglich, am Telefon zu bieten?
Seit es die mobilen Telefone gibt. Aufgrund der Globalisierung sind die Leute nicht mehr vor Ort, sondern das Bieterverhalten hat sich dahingehend verändernd, das das Kaufen immer öfter telefonisch geschieht. Eine Vielzahl unserer Kunden kommt nach wie vor zur Vorbesichtigung, der Kauf aber läuft dann per Telefon. Seit unseren ersten Onlineaktionen dachten wir, dass wir die Stühle im Auktionshaus reduzieren müssten, da wir davon ausgingen, dass das Publikum weniger wird. Aber derzeit zeichnet sich ein umgekehrter Trend ab. Der Auktionssaal ist wieder voll – insbesondere mit Marktbeobachtern.
Wer ist ihre Zielgruppe
Unsere Zielgruppe sind nicht die Vorstände der Dax-Unternehmen, sondern der bürgerliche Mittelstand, das Bildungsbürgertum, Geschäftsleute und Freiberufler, die alle knallhart rechnen, weil es sich beim Auktionshaus eben um einen Börsenplatz handelt. Mit dem Zuschlag in der Auktion wissen unsere Kunden den Warenwert bezogen auf einen exakt definierten Zeitpunkt. Und eine so geringe Marge von 27 Prozent, in der noch die 19 Prozent Mehrwertsteuer eingeschlossen sind, finden Sie sonst kaum.
Beschränkt sich Ihr Umsatz auf München?
München ist der Ort mit den meisten Auktionshäusern in Deutschland, aber durch das Internet, durch die europäische Harmonisierung, haben wir enorm profitiert. Insofern ist für uns der gesamteuropäische Markt wichtig. Der Versand hat zugenommen dank Internet und Globalisierung, manchmal geht es bei uns in der Logistik schon fast wie bei Amazon zu.
Im Interview Andreas Kern
Können Sie uns die Funktions- bzw. Arbeitsweise von wikifolio.com kurz erläutern? Was ist unter Social Trading zu verstehen?
Anleger können auf wikifolio.com von der Erfahrung erfolgreicher Trader profitieren, die auf wikifolio.com ihre Handelsstrategien als, „wikifolios“, veröffentlichen. 1.900 wikifolios sind mittlerweile „investierbar“, das heißt auf ihre Wertentwicklung wurde jeweils ein wikifolio-Zertifikat der Lang & Schwarz Aktiengesellschaft aufgelegt. Diese Finanzprodukte sind mit eigener ISIN versehen bei jeder Bank und direkt über die Börse Stuttgart handelbar. Mit der Investition in ein solches wikifolio-Zertifikat partizipiert der Anleger an der Wertentwicklung des jeweiligen wikifolios und folgt automatisch den Trades, die die Trader in ihren wikifolios durchführen.
Transparenz ist dabei das oberste Gebot: Allen Besuchern von wikifolio.com wird Einblick in das Handeln der Trader gewährt. In Echtzeit werden reale Marktdaten, Kennzahlen und alle wikifolio-Trades angezeigt. Somit können sich interessierte Nutzer und potentielle Investoren jederzeit von der Qualität der Handelsideen überzeugen.
Das Thema Schwarmintelligenz spielt im Internet immer wieder eine große Rolle. Was hat diese Intelligenz mit wikifolio.com zu tun?
Am Ende des Tages liegt der Erfolg der einzelnen Strategien, aber auch ihr Gesamterfolg am Können und der Qualität der Trader. Aber es liegt auch in der Hand der Anleger, mit ihren Investitionen signalisieren, welchen Strategien Sie auch künftig eine Outperformance zutrauen.
Gerade auf wikifolio.com können Sie beobachten, wie „Hidden Champions“ – bisher unbekannte Trader, die manchmal gar nicht aus der Finanzbranche stammen gute und konstante Trading-Leistungen vorführen und sogar etablierten Finanz-Professionals als Vorbild oder Ideengeber für ihre eigenen Handelsstrategien dienen.
Ist Social Trading die Zukunft des Wertpapierhandels?
wikifolio.com leistet auf jeden Fall einen Beitrag zur Demokratisierung der Finanzbranche. Wir sehen die steigende Beliebtheit auch am steigenden Handelsvolumen. Mittlerweile sind mehrere Monate hintereinander wikifolio-Zertifikate unter den meistgehandelten Werten bei der EUWAX und kristallisieren sich gleich neben ETFs als beliebte neue und transparente Anlageklasse der Deutschen heraus.
Was muss man wissen, um bei wikifolio.com einzusteigen und warum sollten Privatanleger bei wikifolio.com einsteigen?
wikifolio.com richtet sich grundsätzlich an jene Personen, die sich bereits aktiv mit dem Kapitalmarkt beschäftigen und eine attraktive Beimischung für ihr Portfolio suchen.
Aber auch an all jene, die ihr Wissen rund um den Handel mit Aktien, ETFs oder volatileren Produkten erweitern möchten. Mit einem eigenen wikifolio oder beim Beobachten der Trader können Sie mehr lernen als bei so manchen Fortbildungs-Angeboten die im Internet feilgeboten werden.
Wodurch unterscheidet sich wikifolio.com vom klassischen Online-Trading mit Einzelaktion oder Depots?
Über die Investition in ein wikifolio-Zertifikat folgen Sie automatisch der zu Grunde liegenden Handelsidee und jedem einzelnen Trade den der Trader in seinem wikifolio durchführt. Üblicherweise fallen beim Kauf oder Verkauf von Wertpapieren Transaktionskosten an. Jeder Trader handelt in seinem wikifolio jedoch ohne explizite Transaktionskosten bei sehr engen Spreads, ganz gleich wie dynamisch seine Strategien sind. Von diesem Kostenvorteil profitieren natürlich auch die Käufer eines wikifolio-Zertifikats.
Haben Privatanleger, die mit Ihrer Social Trading Plattform arbeiten, mehr Erfolg bei der Anlage?
Das kann man so generell nicht sagen, da es auch hier auf die Auswahl der richtigen Handelsstrategien ankommt.
Aber eine Analyse der zehn zu Jahresbeginn bei Anlegern beliebtesten wikifolio-Zertifikate, also jene mit den meisten Assets under Management (AUM) hat kürzlich gezeigt, dass bei Betrachtung der Performance im Zeitraum von 1. Januar bis 31. Oktober 2014 im Vergleich zum DAX die wikifolios im Schnitt deutlich besser abschneiden.
Während der DAX eine leicht negative Performance von -0,8 Prozent aufweist, kann der Durchschnitt der Top-10-wikifolios mit 7,5 Prozent Plus mit einer deutlich besseren Wertentwicklung aufwarten. Zusätzlich war die Volatilität der wikifolios mit 0,6 Prozent dabei auch noch geringer als beim DAX mit rund 0,9 Prozent.
Welches sind denn die erfolgreichsten Trader bislang auf Ihrer Plattform und was charakterisiert diese?
Das Erfolgsgeheimnis der Plattform ist neben der Transparenz auch die Qualität und vor allem die Vielfalt der guten Trader. In der Top-wikifolio-Rangliste finden Sie Strategien professioneller Vermögensverwalter, Musterdepots großer Finanzmedien und auch private Trader, die aus den unterschiedlichsten Branchen kommen und teilweise so ihr Hobby zum Beruf machen. Mit unserer sehr benutzerfreundlichen Suche kann man sich mit wenigen Maus-Klicks einen Überblick verschaffen.
Was unterscheidet wikifolio.com von anderen Social Trading Plattformen, warum sollten Privatanleger bei Ihnen einsteigen?
Anleger können schon mit relativ kleinen Beträgen die Strategien der wikifolio-Trader nutzen. Das Listing der wikifolio-Zertifikate an der Börse Stuttgart sorgt für regulierten und transparenten Handel. Jeder kann über seine Hausbank oder Broker in wikifolio-Zertifikate investieren. Die Orders kommen anonym über die Börse Stuttgart zu wikifolio.com.
Umgekehrt sind aber alle Trades in den wikifolios öffentlich einsehbar, und wer möchte, kann jeden Schritt der Trader mitverfolgen und einfach mitlernen.
In Sachen Transparenz, breiter Handelbarkeit und fairem Gebühren-Modell gibt es so weit ich weiß weltweit kein vergleichbares Angebot.
Wie sehen Sie sich für die Zukunft aufgestellt, wo wollen Sie in fünf Jahren sein?
Alle Zeichen bei wikifolio.com stehen auf Wachstum. Neben dem kontinuierlichen Ausbau unseres Teams werden wir die Expansion in neue Märkte forcieren. Der Markteintritt in die Schweiz steht dabei ganz oben auf der Liste, weitere Länder haben wir für die kommenden Jahre bereits ins Auge gefasst. Wir werden in den nächsten Jahren dazu auch mehr als 5 Millionen Euro in die Weiterentwicklung der technischen Plattform investieren.
Wie agieren Sie als Privatperson auf wikifolio.com?
Ich habe ein eigenes wikifolio, beschäftige mich damit aber nicht so intensiv wie andere Trader. In meinem Online Broker Depot habe ich etwa 20 wikifolio-Zertifikate als Ergänzung. Mit meinem privaten Vermögen verfolge ich dabei eine einfache Strategie: Ist der Markt gerade sehr günstige Bewertet, partizipiere ich eher passiv und langfristig mit ETFs an der Entwicklung. Wenn ich von keinem Aufwärtstrend ausgehe, kaufe ich verstärkt wikifolio-Zertifikate und kann damit auch in volatilen Marktphasen profitieren.
Fragen Stefan Groß
Im Interview die Fernsehdirektorin des Bayerischen Rundfunks – Bettina Reitz
von Bettina Reitz
Frau Reitz, was macht einen guten Film aus?
Ein Filmemacher muss sich überlegen, was er erzählen und dann, wie er es erzählen will. Und diese W-Fragen, die wir schon in der Schule bei Erzählungen gelernt und fragen mussten, sind auch essentiell für einen guten und in sich stimmigen Film, unabhängig, ob in der Kultur, im Krimi oder in der Komödie.
Inwieweit hat eine Fernsehdirektorin einen Einfluss auf die Veränderung im Fernsehen?
Veränderungen sind immer in einem Austausch mit der Fernsehdirektion zu sehen. Was ich grundsätzlich nicht mache, ist meine Kreativität und Vorstellung als Vorgabe zu dirigieren. Die Verantwortung liegt auch bei den Programmbereichen und Redaktionen. Als Fernsehdirektorin arbeitet man nicht wie ein Manager großer Firmen, wo übergeordnete Strukturen nach unten verteilt werden; vielmehr geht es darum, Kreativität frei zu setzen und die Lust am Veränderungsprozess gemeinsam zu formulieren. Das Motto lautet daher bei mir eher: Kreativität statt Verordnung.So wird erst einmal versucht Defizite im Programm im wechselseitigen Gespräch zu beheben; es handelt sich also um einen gegenseitigen Diskurs. Es geht uns meist um sanfte Schritte, neue Formate dem Publikum zu vermitteln, ohne dieses zu erschrecken. Aber wir müssen uns auch mit Blick auf die neuen Medien Veränderungsprozessen stellen, die radikaler sein dürfen und auch müssen.
Film und Fernsehen haben eine gesellschaftliche Verantwortung, wo liegen derzeit die Schwerpunkte?
Das Fernsehen ist immer noch eines der wichtigsten Leitmedien, wenn nicht sogar das Wichtigste in Deutschland – schon allein aufgrund der Vielfalt der Angebote und der Konzentration bzw. Verweildauer. Es gibt keine gleichwertige Bindungsmöglichkeit an Zuschauer oder Zuhörer wie starke TV-Angebote. TV deckt gemäß unserem Auftrag alles an Informationen, Kultur und Unterhaltung ab, das man benötigt, um aktuell auf dem Laufenden zu sein bzw. gut unterhalten zu werden. Die Vielfalt der Programmangebote ist groß. Wo ich aber Nachholbedarf sehe, ist unser Dialog mit der Jugend – eine der wichtigsten Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen. Dies gilt nicht nur für die jungen Menschen als Zuschauer, sondern genauso für die Förderung junger Talente. Die Frage, die sich mir dabei stellt, ist: Haben wir die Vielschichtigkeit der Talente so im Blick, oder ist es nur die ganz kurzlebige Leistungsschau, die über Talente entscheidet, wie sie in der heutigen Leistungsgesellschaft zu funktionieren haben? Hier stört mich, dass wir oft nur nach Punkten und Rankings entscheiden; wer ins Raster passt, erhält seine Chance, wer nicht, wird einfach zur Seite gestellt. So fallen sehr viele Talente durch den Rost, weil ihnen das knallharte Film- und Mediengeschäft nicht den Raum und insbesondere die Freiheit lässt, sich zu entwickeln, ihre kreativen Möglichkeiten entfalten zu können und uns Programmverantwortliche zu überraschen.
Die gesellschaftliche Verantwortung des Fernsehens sehe ich also auch in der Bereitschaft, bei aller Budgetknappheit und liebgewonnene Gewohnheiten den Zuschauer herauszufordern, in Umsetzung wie in der Thematik unseres Programms.
Wie richten Sie den BR auf ein jüngeres Publikum aus?
Ein jüngeres Publikum können wir noch durch Events gewinnen. Wir versuchen, Sendestrecken zu bauen, durch die wir auch jüngere Menschen erreichen und dadurch Verlässlichkeit erzielen. In den letzten Jahren hat sich beim BR gezeigt, dass neben Fiktion insbesondere große Faschingssendungen auch von Jüngeren gern gesehen werden. Bei Formaten mit diesem Inhalt haben wir bereits einen Bereich, in denen die Jugend nachwächst und damit zu einer festen Größe wird. Mit „quer“ und „Kabarett“ bedienen wir schon jetzt ein jüngeres Klientel.
Verstärkt setzen wir in Zukunft auf Angebote mit Live-Events und auf eine noch engere Zusammenarbeit mit „Bayern 3“ und „Puls“, die ein jüngeres Publikum ansprechen. Zum einen bedarf es also tatsächlich jüngerer Inhalte, zum anderen müssen wir aber auch die jungen Leute irgendwo erreichen und z.B. über ein attraktives Webangebot auch auf die linearen Angebote lenken. Hier ist eine enge Abstimmung von Radio, Internet und Fernsehen gefragt. Wenn es uns künftig gelingt, an zwei oder drei Abenden dieses Publikum mit z.B. fiktionalen Programmen an uns zu binden, wäre das für den BR und mich schon ein Etappensieg auf dem Weg, jüngere Menschen zum linearen Fernsehen zurückzuholen. Im Januar hat das bei der Ausstrahlung von „Türkisch für Anfänger“ hervorragend geklappt.
Zugleich bin ich mir aber bewusst, dass die jüngere Generation nicht mehr gewonnen werden kann, wenn wir uns nicht auf die Seh- und Benutzergewohnheiten des jungen Publikums einstellen. Dies bedeutet für uns, dass wir hier nur mithalten können, wenn unsere Programme sowohl im Netz als auch bei den Abspielgeräten präsent sind. Über die Mediathek müssen wir zeigen, was wir an originellen und qualitativen Sendungen haben, da es der Jugend am Ende egal ist, ob sie unsere Inhalte auf einem klassischen Fernbedienungsknopf oder mobil finden. (Die Jugend hat noch nie viel ferngesehen und ist heute zuerst mobil und im Netz unterwegs!) Ich persönlich wünschte mir mehr Reihen wie aktuell „Hubert und Staller“ oder „München 7“, oder am besten eine Serie, die noch jüngere Menschen anspricht. Generell brauchen wir Sendungen, die generationsübergreifend funktionieren und starke Bindungen erzielen.
Was bedeutet Trimedialität, der Bayerische Rundfunk setzt verstärkt darauf?
Der Bayerische Rundfunk setzt auf die enge redaktionelle und technische Zusammenarbeit zwischen Radio, Fernsehen und Online, weil die Trimedialität genau da ansetzt, wo Grenzen zwischen diesen Formaten zu überwinden sind. Was wir versuchen, ist Ressourcen zu heben, dass also die Themen nicht von den einzelnen Kollegen jeweils einzeln aufgesetzt werden, wobei dreimal aneinander vorbeigearbeitet wird, sondern dann die Recherchen zusammengeführt werden. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel, da die meisten Bereiche im BR getrennt „gewachsen“ sind: in Fernsehen, Hörfunk und Online. Nicht der Ausspielweg oder die einzelne Sendung steht im Vordergrund, sondern das Thema. Das stellt hohe Anforderungen an Arbeitsweise und Kultur aller Gewerke im BR. Der Vorteil bei der trimedialen Zusammenarbeit besteht darin, eine breitere Wissensbasis zu ermöglichen, neue kreative Angebote zu schaffen und Themen in unterschiedlichen Formen und aus verschiedenen Blickwinkeln zu setzen, die dann auf den jeweils besten Ausspielwegen einem breiteren Publikum zur Verfügung gestellt werden können. Wichtig dabei: Es muss auch weiterhin im BR eine breite Meinungsvielfalt geben.
Und es wird nach wie vor Inhalte wie das fiktionale Programm geben, die immer noch in ihren klassischen Redaktionshoheiten angesiedelt bleiben. Ein Unikat eines Fernseh-,Kinofilms oder Hörspiels wird auch dann noch ein Unikat bleiben. Aktuell gehen wir davon aus, dass diese Unikate als eigenständige Werke neben der trimedialen Aktualität überleben werden.
Wie sieht das Fernsehen der Zukunft aus? Haben Sie Angst vor den Onlineangeboten durch das Internet, durch YouTube, wo jeder sein eigener Programmdirektor ist?
Angst ist ein schlechter Begleiter. Ich denke, Neugierigsein und mit Abenteuerlust diesen Prozessen beizuwohnen, ist die richtige Haltung. Ich glaube, wir werden noch lange die Programmdirektoren mit ihren Planungseinheiten brauchen, denn nicht jeder Mensch will immer sein eigener Programmdirektor sein. Aber künftig wird diese Arbeit verstärkt von Maschinen übernommen, die unsere Interessensprofile auswerten. In Zukunft wird diese Programmmaschine dann spezielle Angebote für ihre speziellen Interessen und Schwerpunkte suchen. Aber Protagonisten und originelle oder wichtige Inhalte, die die Zuschauer lieben oder ansprechen, müssen gefunden und entwickelt werden – das können die Suchsysteme noch nicht.
Wie genau das Mischverhältnis sein wird zwischen den noch klassisch vorbereiteten Angeboten und dem, was über einen globalisierten internationalen Markt über uns hereinbrechen wird, ist eine spannende Frage. Es steht aber jetzt schon fest, dass wir eine junge Generation haben, die international geprägt ist – insbesondere amerikanische Serien sind sehr beliebt. Aber es zeigt sich auch, dass eine Vielzahl der jungen Menschen andererseits stark regional geprägt ist, es gibt ein ausgesprochenes Heimatgefühl. Je globaler sie auf der einen Seite aktiv sind und agieren, umso mehr finden sie in ihrer Heimat ein Stück Sicherheit. Dies beobachten wir bei unseren Programmangeboten. Und hier ist es wichtig, dass wir uns in Zukunft anders aufstellen.
Generell müssen das Fernsehen und der Rundfunk der Zukunft neue Events generieren, bei denen die Menschen zusammenkommen und gleichzeitig aus diesen Events auch Programmangebote erstellen. Darin sehe ich auf der einen Seite eine Brücke zur Heimat, eine Brücke, die eine Programmsicherheit gerade für regionale Anbieter garantiert. Auf der anderen Seite sind jüngere Menschen auch große Programmabenteurer. Dadurch wird sich der Markt noch weiter global öffnen und in eine Konkurrenz zur Regionalität treten. Welcher Inhalt wird gesucht und setzt sich wo und wie durch? Diesen neuen Herausforderungen sehe ich mit Spannung entgegen.
Herzlichen Dank für das Interview, das Dr. Dr. Stefan Groß führte.
Das Interview entstand auf dem Bayerischen Filmpreis 2014.
Im Interview: Dr. Holger Enßlin – Vorstand bei Sky Deutschland AG
von Holger Enßlin
Mit über 3,8 Mio. Abonnenten und einem Umsatz von mehr als 1,6 Mrd. Euro ist Sky Deutschland der führende Pay-TV-Anbieter in der Bundesrepublik und in Österreich. Das im MDAX gelistete Börsenunternehmen bietet Abonnementfernsehen und On-Demand-Services für Privat- und Geschäftskunden an. Sky hat mittlerweile mehr als 70 exklusive TV-Sender im Angebot, die meisten darunter im hochauflösenden HD-Format. Live-Sport, Spielfilme, Serien, Kinderprogramme, Dokumentationen sowie Sky Sport News HD, der einzige 24-Stunden-Sportnachrichtensender Deutschlands und Österreichs, gehören zum Spektrum. Durch den Festplattenreceiver Sky+ ist ein zeitversetztes Fernsehen möglich; und durch die Videothek Sky Anytime können hunderte, ständig wechselnde Titel abgerufen werden. Und mit dem Online-Fernsehen Sky Go sind die Programme über Mobilgeräte und den PC zu empfangen.
1. Herr Enßlin:Rupert Murdoch will einen europäischen Pay-TV-Riesen schaffen und seine Pay-TV-Sender Sky Deutschland und Sky Italia unter dem von ihm kontrollierten Konzern British Sky Broadcasting Group Plc (BSkyB) bündeln. Nun hält der zweitgrößte Aktionär von Sky Deutschland, Odey Asset Management LLP, der mit 8 % an Sky Deutschland beteiligt ist, das Angebot von BSkyB, 6,75 Euro je Aktie zu bezahlen, für zu niedrig. Wie geht es jetzt weiter?
Holger Enßlin: Im Rahmen der von Ihnen angesprochenen, beabsichtigten Transaktion hat BSkyB mit 21st Century Fox vereinbart, deren Beteiligung an Sky Deutschland zu erwerben – nach Ausübung von Umtauschrechten sind das 57,4 Prozent – und verkündet, ein freiwilliges Barübernahmeangebot für die ausstehenden 100% der Sky Deutschland Aktien zu einem Preis von €6,75 je Aktie abzugeben. Zur Finanzierung der Transaktion hat BSkyB unter anderem eine Kapitalerhöhung durchgeführt, an der 21st Century Fox im Rahmen des Bezugsrechtsangebotes teilnahm. Dadurch erwarb 21st Century Fox zusätzliche Aktien im Wert von ca. €673 Millionen, um den Anteil von 21st Century Fox an BSkyB in Höhe von 39,1% zu erhalten.
Der Vorstand und Aufsichtsrat von Sky Deutschland werden das Angebot von BSkyB prüfen und sich dabei von Finanz- und Rechtsberatern unterstützen lassen. Nach Veröffentlichung und Prüfung des öffentlichen Angebots werden Vorstand und Aufsichtsrat eine Stellungnahme nach Deutschem Recht abgeben.
2. Ende Juli hatte BSkyB zugestimmt, den 57- prozentigen Anteil von Murdoch an Sky Deutschland für 2,9 Mrd. Pfund (3,7 Mrd. Euro) in bar zu übernehmen. Was haben wir darunter zu verstehen, ist das Geld nun für weitere Investitionen frei?
Siehe Frage 1
3. Was ändert sich für die Kunden von Sky Deutschland durch diese mediale Transaktion, wie britisch wird der Bezahlsender?
Holger Enßlin: Unabhängig von der beabsichtigten Transaktion kann ich Ihnen versichern, dass unsere Kunden auch weiterhin ein Fernsehangebot erhalten, das in Deutschland und Österreich hinsichtlich Vielfalt, Qualität und Exklusivität seinesgleichen sucht.
4. Öffentlich-rechtliches Fernsehen erfüllt oft die Qualitätsstandards der Kunden nicht, was bietet Sky perspektivisch, um noch mehr Kunden vom qualitativen Bezahlfernsehen zu überzeugen?
Holger Enßlin: Wir unterscheiden uns von herkömmlichen TV-Anbietern vor allem in drei Punkten: unserem Programm-Portfolio, das exklusive und hochwertige Inhalte wie beispielsweise die Bundesliga live oder HBO-Serien wie „Game of Thrones“ umfasst, wegweisenden Innovationen wie unserem Online-Fernsehen Sky Go, und einem hervorragenden, vielfach ausgezeichneten Kundenservice. Wenn es uns gelingt, in diesen drei Bereichen unsere Marktführerschaft weiter auszubauen, werden wir auch auf Kundenseite weiter stark wachsen.
5. Sky wird immer beliebter, wie erklären Sie, dass jetzt die Kündigungsrate auf den tiefsten Stand der Unternehmensgeschichte gesunken ist? Dennoch ist ein Abo für viele Kunden mit über 31 Euro im Monat eine finanzielle Herausforderung, gibt es Überlegungen, die Abopreise zu senken?
Holger Enßlin: Unsere Kündigungsquote ist im letzten Quartal auf den historischen Tiefststand von 7,7 Prozent gesunken. Das ist ein Wert, der auch im internationalen Vergleich Maßstäbe setzt. Und er belegt, wie zufrieden unsere Kunden mit unserem Angebot sind. Auch unsere 24-Monats-Verträge, die inzwischen von etwa 80 Prozent aller Neukunden bevorzugt werden, tragen sicher dazu bei, dass sich die Kündigungsquote so erfreulich entwickelt hat.
Übrigens: Durchschnittlich geben Sky Kunden heute EUR 34,59 im Monat für ihr Abonnement aus. Der Anteil an Kunden, die mehr als 50 Euro im Monat für Sky zahlen, hat sich seit 2010 von 1 auf 16 Prozent gesteigert. Das zeigt, dass unsere Kunden durchaus bereit sind, für ein qualitativ hochwertiges Produkt einen angemessenen Preis zu bezahlen.
6. Wie erfolgreich wäre Sky ohne die Exklusivübertragungsrechte der Fußball-Bundesliga und der UEFA Champions League? 2017 endet der Vertrag mit der DFL – stehen Sie schon in neuen Verhandlungen?
Wir haben jetzt gerade mal die erste Saison der laufenden Rechteperiode für die Bundesliga und die 2. Bundesliga beendet und halten die Übertragungsrechte noch weitere drei Jahre bis einschließlich der Saison 2016/17. Mit der DFL stehen wir grundsätzlich in engem Austausch. Es ist aber noch zu früh, um über Details des kommenden Rechtvergabeprozesses zu sprechen.
Davon abgesehen: Live-Fußball, insbesondere die Bundesliga und die Champions League (hier haben wir uns die Übertragungsrechte bis einschließlich 2017/18 gesichert), ist sicherlich ein zentraler Bestandteil unseres Programmportfolios. Aber Sky bietet noch viel mehr: topaktuelle Filme, Serien meist direkt nach US-Start, Dokumentationen, Kindersendungen – und natürlich noch viel mehr Live-Sport von der Formel 1 über Tennis, Golf, etc. Es ist diese enorme Vielfalt unseres Programms, die Sky einzigartig macht.
7. Das Internet-TV ist auf dem Vormarsch, mit SkyGo haben Sie eine Plattform geschaffen, die in diesem Segment erfolgreich agiert. Wird das nicht-lineare Fernsehen das lineare in Zukunft ablösen oder zu einem Nebensegment machen?
Wir sind in beiden Segmenten sehr gut aufgestellt, denn für uns ist es wichtig, unseren Kunden die Möglichkeit zu geben, selbst zu wählen, wie, wo und wann sie Sky sehen wollen. Insbesondere die Entwicklung unseres Online-TV-Angebots Sky Go macht uns derzeit viel Freude: Im vergangenen Quartal zählten wir über 28 Millionen Kunden-Logins – eine Steigerung um mehr als 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aber auch für klassisches lineares Fernsehen wird es weiterhin einen Markt geben, denn beide Arten von Fernsehen existieren nebeneinander. Denken Sie nur mal an die großen Live-Events wie die Spitzenspiele der Bundesliga und der Champions League.
8. Sky hat in den letzten 22 Jahren 4,5 Milliarden Euro Verlust gemacht, dennoch blicken Sie optimistisch in die Zukunft – was ist das Erfolgsrezept?
Ganz einfach: Wir haben das richtige Geschäftsmodell. Die Entwicklung von Sky seit der Neustrukturierung unseres Businesses im Jahr 2009 belegt das eindeutig. 2013 haben wir erstmals ein Geschäftsjahr operativ mit Gewinn abgeschlossen. Wir rechnen damit, am Ende dieses Kalenderjahres über 4 Millionen Kunden zu haben. Wer hätte uns das vor fünf Jahren zugetraut?
9. Immer wieder engagiert sich Sky als Partner, so beim neuen Filmfestspiel in Potsdam, ist Sponsor bei gigantischen Sportereignissen. Aber das Unternehmen engagiert sich auch sozial, beispielsweie über die Sky Stiftung. Wie läßt sich die Firmenphilosophie von Sky Deutschland kurz umschreiben? Warum diese vielen Engagements – spielt hier auch eine ethische Komponente mit hinein?
Holger Enßlin: Neben wirtschaftlichem Wachstum ist die soziale Verantwortung ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses von Sky. Als Medienunternehmen mit einer breiten öffentlichen Wahrnehmung engagieren wir uns auf verschiedenen Ebenen – für Kinder, für die Umwelt, für die Medienbranche, und auch für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ich bin selbst Vater, daher liegt mir unsere Sky Stiftung, zu deren Vorstandsteam ich gehöre, besonders am Herzen: Sie setzt sich seit Jahren dafür ein, benachteiligte Kinder sowie Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Kulturen für ein sportlich aktives Leben zu begeistern.
10. Für viele Fernsehanstalten wird es immer wichtiger, ein junges Publikum zu gewinnen, welche Strategien fährt Sky, um jüngere Menschen auf dem heißumkämpften Markt langfristig als Kunden zu gewinnen?
Unsere Kunden sind heute schon deutlich jünger als die Zuschauer der großen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanbieter. Das Durchschnittsalter unserer Neukunden ist im vergangenen Jahr auf 35 Jahre gesunken. Dem jungen Publikum gefällt offensichtlich die Wahlfreiheit, die sie mit Sky beim Konsum ihres Lieblingsprogramms genießen. Sky Go und die Online Videothek Snap by Sky sind mit Sicherheit maßgebliche Faktoren, die auch in Zukunft junge Menschen für Sky begeistern werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß führte
Im Interview – der Geschäftsführer von ASTRA Deutschland, Wolfgang Elsäßer
Um zu Hause überhaupt Fernsehen zu können bedarf es ja nicht nur der Programmacher und der Sendeanstalten, die für den Content verantwortlich sind, sondern auch jemand, der für die Übertragung verantwortlich ist. Dafür sorgt Astra mit seinen Satelliten.
von Wolfgang Elsäßer
25 Jahre Astra, „herzlichen Glückwunsch“ in der Retrospektive: Wie mühsam war der Weg zum Satelliten-Fernsehen, wo lagen die größten Hürden?
Wenn man ein Unternehmen gründet und gegen staatlich finanzierte Konkurrenz antritt, kannman das wohl getrost als Hürde bezeichnen. Mit TV Sat gab es inDeutschland bereits einen Satelliten für TV-Übertragungen, der wurde von der damaligen Deutschen Bundespost betrieben. Der transportierte aber gerade mal vier Programme. Dann kam Astra ¬– mit einem innovativen Konzept, viel unternehmerischem Mut und einem starken Kundenfokus. Das erste große operative Highlight der jungen Firma war sicher der erfolgreiche Launch von Astra 1A im Jahr 1988. Das war gleich ein Paukenschlag im Markt. Natürlich braucht man gerade am Anfang auch eine Portion Glück für den notwendigen Rückenwind. Bei uns war das ohne Zweifel, dass Astra 1A seine Sonnensegel ausklappte und – funktionierte! Relativ schnell haben wir die wichtigen Sender auf diesem Transponderbekommen,RTL, Pro Sieben beispielsweise, so dass wir mit diesem attraktiven Angebot viele Haushalte erreichen konnten. Historisch gesehen war sicher auch der Fall der Berliner Mauer ein Meilenstein. Neben dem Start von Astra im englischen Markt, mit Rupert Murdoch, haben wir nämlich durch die Wiedervereinigung bei der Erschließung des deutschen Markts gleich einen Quantensprung gemacht. Die Leute waren hungrig nach Satellitenempfang.
Wer transportiert die Satelliten? Werden die von den Amerikanern hochgeschossen?
Erst seit kurzem. Wir haben bis dato den Ariane Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch Guyana, und den für Protonraketen in Baikonur, Kasachstan, benutzt. Dann kam Elon Musk, der Gründer von PayPal und Tesla mit seiner neuen Firma Space X. Die wirbelt gerade gehörig die Branche durcheinander, weil Musk Satelliten von Cape Canaveral aus viel günstiger ins All bringt. Ende 2013 waren wir die ersten, die mit einer Falcon-Rakete von Space X einen TV-Satelliten in eine geostationäre Umlaufbahn gebracht haben. Das heißt, die Satelliten stehen in rund 36.000 Kilometer Höhe quasi stationär über ihrer Ausleuchtzone auf der Erde. Sonst müsste man täglich morgens die Schüssel anders drehen als abends.
Wie viele Programme werden über Astra ausgestrahlt?
Unsere Muttergesellschaft SES ist mittlerweile der größte Satellitenbetreiber der Erde. Wir haben über 50 Satelliten und können damit technisch gesehen 99% der Landfläche der Erde abdecken. Insgesamt überträgt SES weltweit über 6.200 Fernsehprogramme. In Europa sind es ca. 900 über Astra 19,2 Ost, davon 300 deutschsprachige Sender und von denen werden wiederum ca. 90 in HDTV, also hochauflösender Qualität, ausgestrahlt.
Wie viele Satelliten braucht man dafür, reicht nicht einer?
Nein, für die Übertragung der vielen Sender kämen wir mit nur einem Satelliten nicht weit. Deswegen haben wir auf 19,2 Grad Ost, das ist die Position auf die alle Satellitenschüsseln Deutschlands ausgerichtet sind, vier Satelliten co-positioniert. Damit haben wir ausreichend Bandbreite für die Übertragung und einen Sicherheitspuffer. Stellen Sie sich einmal vor, während dem WM-Finale fällt plötzlich das Bild aus und es gibt keinen Plan B. Insgesamt haben wir eine Sendesicherheit von über 99,9 Prozent, das ist schon sehr hoch. Also rein rechnerisch fallen wir vielleicht ein paar Sekunden übers Jahr aus, aber das merkt der Zuschauer nicht.
Wie lange hält ein Satellit?
Die durchschnittliche Lebensdauer beträgt 14-15 Jahre. Ein Satellit, auch wenn er weit von der Erde entfernt ist, unterliegt in der Schwerelosigkeit immer noch bestimmten physikalischen Einwirkungen wie Erdanziehungskraft oder auch durch Sonnenwinde. Ein Satellit wird permanent gesteuert, damit er in seiner Position bleibt und sich nicht wegdreht. Dafür hat er Treibstofftanks an Board. Diese sind irgendwann leer, wenn man genügend Manöver geflogen hat. Dann werden die Satelliten mit dem letzten Rest auf eine etwas höhere Position verbracht, quasi eine Art Ruhestätte. Der Weltraumschrott, über den immer wieder berichtet wird, der entsteht aber viel erdnaher. Besonders betroffen ist die Höhe von 800 Kilometern, das ist die bevorzugte Flugbahn der Aufklärungssatelliten. Die internationale Raumstation ISS fliegt zwischen 350 und 400 Kilometern, aber auch die musste schon mehrmals Objekten ausweichen, die größer als ein Zentimeter sind.
Was kostet es an Vorleistungen, damit ein Satellit ins All startet?
Das ganze Thema ist generell ziemlich aufwendig, allein für den Bau des Satelliten kann man bis zu drei Jahre veranschlagen. Auch der Transport ins All ist ein technologischer höchst anspruchsvoller Prozess. Insgesamt kommt für den Launch eines neuen Astra Satelliten inklusive Bau, Raketenstart und Versicherung ein Betrag im dreistelligen Millionen-Euro-Bereich zusammen.
Wie kann man sich ganz konkret das Zusammenspiel zwischen Satelliten einerseits und dem ausgestrahlten Programmen andererseits vorstellen?
Die Sendesignale der Fernsehsender gehen über so genannte Uplink-Stationen hoch zu den Astra-Satelliten. Die Kollegen bei SES in Luxemburg haben eine, bei uns in München-Unterföhring steht ebenfalls eine Satellitenbodenstation. Die wird zum Beispiel von Sky Deutschland genutzt, Fernsehsender wie die ARD betreiben ihre eigenen Uplinks. Kommt das Signal oben beim Satelliten an, macht der eigentlich nichts anderes als das Signal zu verstärken und über einem gewissen Gebiet wieder abzustrahlen – aus dem Richtstrahl 36.000 Kilometer nach oben wird quasi eine TV-Dusche aus 36.000 Kilometer Höhe nach unten. So dauert beispielsweise die Ausstrahlung der Tagesschau vom Sender bis zum Satellitenreceiver zu Hause nicht einmal eine Sekunde. In weiten Teilen Zentraleuropas kann man das Signal mit einer 60cm Antenne empfangen.
18 Millionen TV-Haushalte nutzen derzeit Satelliten-Fernsehen in Deutschland. Sind Sie mit diesen Zahlen zufrieden?
Ja und nein. Vor 10 Jahren gab es erst 14 Millionen Sat-Haushalte, gerade in den letzten 3 Jahren konnten wir signifikant zulegen. 18 Millionen sind für uns schon ein toller Erfolg. Aber wir wollen natürlich weiter zulegen und mittelfristig die Marke von 20 Millionen knacken. Ich glaube hierfür sind wir ganz gut aufgestellt, wir bieten dem Zuschauer maximale Fernsehfreiheit in bester Qualität zu den geringsten Kosten. Bei uns bezahlen Sie keine monatlichen Gebühren, beim Kabelfernsehen sind Sie mit 20 Euro im Monat dabei. Und Sie bekommen noch die Hardware vorgeschrieben, bei uns können Sie jeden Fernseher und Receiver verwenden, den Sie möchten. Außerdem bekommen Sie bei Astra 30 HD-Sender frei Haus – und wenn Sie HD+ oder Sky dazu buchen wollen, bekommen Sie auch wirklich das komplette TV-Angebot. Auf den Punkt kann man das vielleicht mit „Mehr, besser, günstiger – und fairer“ bringen. Unser Angebot gibt es so weder im Kabel, noch beim Internetfernsehen, und schon gar nicht über DVB-T. Satellitenfernsehen ist klar das qualitativ bessere Fernsehen. Nicht nur Privatkunden, auch die Wohnungswirtschaft interessiert sich sehr stark für das Thema Satellitenempfang, weil man mittlerweile mit der Glasfasertechnik über eine Satellitenschüssel in neuen wie bestehenden Wohnanlagen tausende Haushalte ohne Qualitätsverlust versorgen kann.
Das digitale Fernsehen hat in relativ kurzer Zeit einen Siegeszug angetreten, aber auch das Fernsehen im Internet wird immer beliebter. Nach wie vor verbringen die Deutschen die meiste Zeit noch vor dem Fernsehen, doch in absehbarer Zeit könnte sich das durch das Internetfernsehen vielleicht ändern. Sehen Sie hier eine Gefahr, dass immer mehr Kunden ins Internet abwandern, ist IPTV im Kommen?
Ich glaube, die Fernsehgewohnheiten der Menschen werden sich sukzessive ändern, aber wir reden hier über eine Evolution, keine Revolution. Dass kann am besten bei sich selbst bemerken. Entspannung, Abschalten, Live-Events, Spitzensport – das sind nur einige Beispiele für die Stärken des linearen Fernsehens. Die werden auch Bestand haben. Für die nicht-linearen Inhalte eignet sich dagegen das Internet. Aber genauso, wie das gute alte laufende TV-Programm jetzt auch abseits der Fernseher auf Tablets oder Smartphones konsumiert wird, gilt das umgekehrt für non-lineare Inhalte. Auch Inhalte auf Abruf werden auf dem großen Bildschirm geschaut. Für das Thema hybrides Fernsehen gibt es einen Standard, genannt „Hybrid Broadcasting Broadband TV“, abgekürzt HbbTV. Fast alle Fernseher, die sie heute kaufen können, sind damit ausgerüstet. Diesen Standard haben wir gemeinsam mit der Industrie ins Leben gerufen, damit der Endkunde zwischen der linearen und nicht-linearen Welt hin und her schalten kann – und zum Beispiel zusätzlich zum laufenden Programm die Mediatheken der Sender abrufen kann. Unsere Schwester HD PLUS bietet zum Beispiel den Zugriff auf die Mediatheken privater Sender mit dem Service HD+ Replay. Kurz: Das Internet sehe ich nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Wir glauben, dass sich die Nutzung von bewegten Bildern nicht dramatisch vom Satelliten ins Internet verlagert. Es wird eine Co-Existenz geben, und da sehen wir unsere Chance, neue Geschäftsmodelle für Fernsehsender anzubieten.
Herr Elsäßer, Sie kritisieren, dass „Millionen von deutschen TV-Haushalten[…] ohne Not die Möglichkeiten ihres modernen HD-Flachbildschirmes, teils aus Unwissenheit, möglicherweise auch aus unbegründeter Sorge vor Technik oder Kosten“, erschenken. Was kann man Ihrer Meinung nach daran ändern?
Von den 18 Millionen Satelliten-Haushalten nutzt tatsächlich erst etwas mehr als die Hälfte HD. Die andere Hälfte war während der Fußballweltmeisterschaft wahrscheinlich beim Public Viewing. Wenn man so ein Spektakel nicht in HD genießt, ist das aus meiner Sicht – vorsichtig formuliert – eine verpasste Chance. Wir werben seit Jahren dafür, bei einer Neuanschaffung oder Ersatzkäufen gleich in HD-Equipment zu investieren, um das Potenzial moderner Flachbildschirme auch wirklich zu nutzen. Durch die WM hat es hier einen ordentlichen Schub gegeben und ich hoffe, dass sich die positive Entwicklung fortsetzt.
Wo ist man da im Preissegment?
Receiver gibt es heute von einfachem 30-Euro-Modell bis hin zum Spitzenreceiver um die 500 Euro mit allen Schikanen inklusiver großer Festplatte. Dabei sind die Preisunterschiede zwischen einem SD und einem HD Receiver marginal, oft sind das keine 10 Euro mehr. Am besten sollte man sich einen HD+ Receiver kaufen. Mit dem kann man nicht nur die Privatsender, sondern auch alle über Astra frei empfangbaren HD-Sender sehen. Zukunftssicher sind auch Sky Receiver, mir denen kann man alle Programme empfangen.
Fernsehen noch intensiver erleben – mit Ultra-HD ist das bereits möglich. Was verbessert sich durch die neue Technik für den Zuschauer, was ist an weiteren qualitativen Veränderungen geplant?
Grundsätzlich ist bei der Einführung von neuen Technologien wichtig, dass es eine Standardisierung der Produkte gibt. Dann haben Hersteller und Kunden Investitionssicherheit und es entsteht ein Markt für neue Geräte – und damit technische Reichweite. Dann können die Sender entsprechende Angebote in den Markt bringen. Wir haben dies sehr erfolgreich von analog zu digital und von Standard Digital (SD) zu HDTV gemanagt. Das hat einige Jahre gedauert und ähnlich wird das beim neuen Thema Ultra HD verlaufen. Ultra HD bietet eine viermal höhere Auflösung als HD, das ist quasi wie aus dem Fenster schauen. Die Leute kaufen sich immer größere Bildschirme, und wenn man relativ nahe davor sitzt, sieht man auf einem HD Bild Pixel. Das ist bei Ultra HD nicht der Fall. Perspektivisch werden wir weitere Verbesserungen bekommen, etwas bei der Farbdarstellung oder durch erheblich bessere Kontrastwerte. Das Thema Ultra HD wird von der gesamten Branche nachhaltig und mit Weitblick entwickelt. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass Ultra HD über kurz oder lang HD als Standard ablösen wird.
Was wünschen Sie sich für Astra für die nächsten 10 Jahre?
Wir wünschen uns, dass es bald möglichst viele Ultra HD Programme gibt. Von Sky, von den privaten, aber auch den öffentlich rechtlich Sendern. Und dass wir weiter unsere Reichweite steigern und unseren Kollegen vom Kabel und der terrestrischen Verbreitung noch ein paar Haushalte abluchsen können.
Das Interview führte Dr. Dr. Stefan Groß
„Wenn das Christentum im alten Europa eine Zukunft haben will, denke ich, kann es das nur ökumenisch haben, da gibt es keine Alternative dazu.“
Im Interview Walter Kardinal Kasper
von Karl Kardinal Kasper
2013 gab es eine Initiative zur Ökumene von Spitzenpolitikern, mit Herrn Norbert Lammert, Herrn Richard von Weizsäcker. Wie steht es mit der Ökumene jetzt?
Die Ökumene hat mich seit vielen Jahren beschäftigt. Aus Württemberg stammend ist mir die Ökumene in die Wiege gelegt. Aber für mich ist es durch die Arbeit in Rom selbstverständlich, daß die Ökumene weltweit, mit den Orthodoxen beispielsweise, funktionieren muß, Deutschland ist da nur ein Land unter vielen. Wie diese Ökumene funktioniert, ist das Thema der Stunde und nicht nur etwas, das innerkirchlich von Bedeutung ist. Gerade diese globale Ökumene bleibt ein äußert interessantes Feld, insbesondere politisch.
Vieles ist in den letzten Jahren in der Ökumene geschehen, aber viele Differenzen gibt es noch in den Köpfen und den Herzen. Ich bin in dieser Sache sehr zuversichtlich.
Das Grundproblem ist: alle wollen die Einheit, aber ein evangelisches und katholisches Kirchenverständnis versteht unter Einheit nicht dasselbe, das Ziel der Ökumene ist also gar nicht so einfach zu bestimmen. Das bedeutet nicht, daß es Zwischenlösungen gibt, aber die muß man auf Gemeindeebene lösen.
Mit Papst Franziskus haben wir eine neue Chance für die Ökumene, denn er hat mit allen Konfessionen gute Kontakte und auch ökumenisch sehr viel vor, die zeigt sich bereits sehr deutlich nach einem Jahr seines Pontifikats.
Er hat als Konzept etwas, das ich nur aus der lutherischen Kirche her kannte, in sein Denken aufgenommen, die versöhnte Verschiedenheit. Dies hat er schon in seinem Dialog mit den jüdischen Rabbis geäußert – und hier sehe ich einen Aufbruchs- und Wachstumsprozeß, der nicht nur dazu dient, der Kirche zu dienen, sondern auch den Menschen, um ihr Glück zu finden.
Wenn das Christentum im alten Europa eine Zukunft haben will, denke ich, kann es das nur ökumenisch haben, da gibt es keine Alternative dazu. Aber jede Kirche sollte auch ihre Hausaugaben machen. Wenn der Papst jetzt damit beginnt, die synodale Struktur stärker zu betonten, so kommt das den evangelischen Christen und den Orthodoxen ebenso zugute, da braucht man keinen Dialog führen, dadurch wächst man bereits enger zusammen.
Ökumene ist nicht nur ein Teil der theologischen Arbeit – Christsein heute, in der Moderne, war für mich von Anfang an immer ein Thema. Ich habe über den Philosophen Schelling, eine moderne Philosophie, habilitiert, kurzum:mir war es immer wichtig, das moderne Denken von innen her zu verstehen.
Heute ist es die große Aufgabe, Christein im heute, keine neue Kirche zu erschaffen, die kann man nicht neu erfinden, aber eine erneuerte Kirche mit einem neuen Gesicht zu prägen, die sich denProblemen der Menschen stellt. Es muß wichtig sein und bleiben, was den Menschen unmittelbar angeht. Der Glaube kann in einer pluralistischen Welt nur überlegen, wenn man sich den Schicksalen der einzelnen Menschen annimmt. Nach einem Jahr Franziskus hat sich gezeigt, daß die katholische Kirche mit ihm einen Überraschungscoup gelandet hat.
Gerade die Armut in der südamerikanischen Welt ist es, die dieser Papst sehr gut kennt und dadurch Brücken zu den anderen Konfessionen schlagen kann; diese, seine menschliche Art des Brückenbauens wird von allen Religionen in Südamerika sehr geschätzt. Daß er so denkt, gesamtmenschlich denkt, ist ein außerordentliches Zeichen an alle anderen Konfessionen und darin sehe ich eine Stärke für das konfessionelle Zusammenwachsen, getreu dem Motto: Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit.
Gibt es mehr Zentralismus seit dem II. Vatikanischen Konzil?
Das wir ein Zentrum mit Rom haben, ist ein Geschenk, aber dies meint nicht Zentralismus. Wenn man aber glaubt, man kann alles von Rom aus regieren, dafür ist die Welt zu verschieden. Auch hierfür geht der jetzige Papst mit gutem Beispiel voran, weil er darauf Wert legt, daß regionale Entscheidungen auch von den regionalen Bischöfen getroffen werden können. Aber in den zentralen grundlegenden Fragen muß man an einem Strick ziehen, was ich als eigentliche Stärke der katholischen Kirche begreife und was man nicht aufgeben kann.
Postmetaphysische Ethiken gab es viele. In Ihrer neuen Publikation sprechen Sie auch auf Levinas und auf Derrida und die Freundschaft an. Jetzt haben Sie ein neues Buch mit dem Titel „Barmherzigkeit“ vorgelegt, eine neue Ethik für das 21. Jahrhundert möglicherweise? Was zeichnet den Begriff der Barmherzigkeit aus und wie ist dieser universalisierbar?
Ich habe im Buch versucht zu zeigen, daß es Ansätze zu diesem Begriff in allen großen Religionen gibt, bei den Hindus, den Buddhisten und im Islam, wo jede Sure mit einer Preisung der Barmherzigkeit anfängt. Barmherzigkeit ist eine urmenschliche Erwartung, derart, daß der andere mir als ein barmherziger Mensch begegnet. Barmherzigkeit bedeutet ja, einen neuen Anfang geschenkt zu bekommen –dies ist die Grundbotschaft des Alten Testaments. Aber auch im Gleichnis vom Verlorenen Sohn, bzw. vom barmherzigen Vater im Evangelium nach Lukas sehen wir, daß Gott ein barmherziger ist, eine großartige Idee finde ich.
Die Barmherzigkeit schließt die soziale Gerechtigkeit nicht aus. Wir merken es in unserem sozialen System, wenn wir alles nur verrechtlichen wollen, wird alles sehr kompliziert, man braucht im Rechtssystem auch Barmherzigkeit, die auf die einzelne Person zugeschnitten ist, sie ist also vonnöten, wo das Recht nicht mehr greift, oder eine Person nur als Sache oder Fall behandelt wird. Barmherzigkeit kann man nicht auf den Staat reduzieren, sondern wir sind es, die die Barmherzigkeit leben müssen.
Ich denke auch, daß es politisch unheimlich wichtig ist, barmherzig zu sein. Dies gilt selbstverständlich auch für die Kirche, die vielen Menschen oft als unbarmherzig erscheint. Sie muß Barmherzigkeit walten lassen, und dies ist – meiner Meinung nach – einer ihrer wichtigsten Imperative.
Ich selbst hatte meine Schwierigkeiten mit dem Begriff der Barmherzigkeit, selbst als Professor, aber nach langer Recherche und gründlichem Bedenken ist es mir schließlich gelungen, dieses Buch zu schreiben. Und Glück hatte ich darüber hinaus, daß der jetzige Papst dieses Buch – quasi für mich – beworben hat, weil er von der Wichtigkeit der Barmherzigkeit völlig überzeugt ist. Und er weiß, weil er selbst aus Lateinamerika kommt, wie wichtig Barmherzigkeit ist, insbesondere für die Menschen in den Armenvierteln der Welt, in den Slums, die für viele, weil sie arm sind, keinen Wert haben. Ohne Barmherzigkeit gäbe es im dortigen Neokapitalismus keine Hilfe. Wichtig ist und bleibt die seelische Barmherzigkeit, und interessant ist, wenn sie die Gerichtspredigt Jesu lesen, nach welchen Kriterien wir am Schluß Rechenschaft geben müssen. Dann sieht man wie wichtig es ist, barmherzig zu sein, andere Not und Elend gelindert zu haben.
Wo sehen Sie die größte Gefahr oder die Herausforderung für die Kirche im 21. Jahrhundert?
Ich möchte die Antwort auf die westliche Welt beschränken, in den anderen Kulturen ist das sehr unterschiedlich. Im Westen sehe ich die größte Gefahr in der Gleichgültigkeit, wo alles beliebig ist, wo jeder macht, was er will. Menschen sollten wieder mehr Ideale haben, die muß man zwar nicht teilen, aber darüber kann man wenigstens streiten, was zumindest einen sinnvollen Dialog möglich werden läßt. Bei der derzeitigen Gleichgültigkeit, dieser „Wurstigkeit“ kann man mit Glaubensverkündigungen nicht kommen, weil alles relativ ist. Karl Rahner, einer der größten Theologen der vorangegangen Generation, hat einmal gesagt, ein Atheist ist ein pastoraler Glücksfall. Zwar bestreitet dieser, daß Gott existiert, aber ihm ist es immerhin ein Anliegen, Gott zu negieren, mit ihm kann man wenigstens streiten. Mit einem, der gar nicht glaubt, mit dem kann man gar nicht diskutieren.
Die Gleichgültigkeit im Wesen scheint mir wie eine geistig-seelische Wüste, wo man von einem Event zum nächsten jagt. Alles ist dann wieder nichtig und man jagt zum nächsten. Religion hingegen hat was mit Faszination zu tun. Es ist eine Definition von Religion, daß noch etwas anderes, das noch mehr da ist. Daran krankt der Westen momentan, dem es vielleicht zu gut geht, es soll auch keinem schlecht gehen, aber das genügt nicht. Da sehe ich eine Schwierigkeit, die ich immer in der alten DDR gesehen habe, die ich oft im tiefsten Sozialismus bereist habe. Dort gibt es Menschen, die gar keinen Sinn mehr für die Frage haben. Hier ist es eine Aufgabe der Kirche zu provozieren, die Frage, die letzten Fragen zu stellen, wozu bin ich eigentlich da, was ist der Sinn meines Lebens, was heißt es glücklich zu leben, das ist ja nicht nur Essen und Trinken, und hier da fehlt es – nicht nur in der ehemaligen DDR.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß führte.
„Wir alle haben die Sehnsucht nach einem Miteinander und müssen den Mut haben, Utopien zu leben“ – Konstantin Wecker im Interview
von Konstantin Wecker
Herr Wecker: Inwieweit haben Sie ihr Freund und Lehrer Carl Orff und die klassische Musik beeinflußt?
Carl Orff hat mich musikalisch stark geprägt. Dies ist interessant, wenn man meine Lieder hört, und sich nicht gut wirklich gut mit Orff auskennt. Es würde keiner glauben, daß mich Orff mehr beeinflußt hat als alle anderen. Das ist ganz faszinierend – auch im Rückblick für mich selbst. Natürlich hat mich auch Schubert geprägt; insofern bin ich völlig anders als viele meiner höchstgeschätzten Kollegen sozialisiert, als Hannes Wader beispielsweise, den ich über alles liebe, der aber vom amerikanischen und der englischen Folkmusik herkommt, oder viele von der französischen Musik. Bei mir war es die Klassik, denn mein Vater war Opernsänger und hat klassisches Liedgut gesunden. Als Knabe habe ich selbst Schumann, Schubert und Verdi gesungen. Dies ist meine Herkunft. Und dann hat mich Orff mit seinen Instrumentierungen erwischt, der Orff ist für mich ein bayerischer Blues, ich selbst mache auch einen bayerischen Blues. Zwar war ich nicht Baumwollpflücken, aber den bayerischen Blues, den können Carl Orff und ich besser.
Meine Musik ist also von der Klassikund der Instrumentierung Orffs beeinflußt. Ich hatte in den 80ern, was man sich heute gar nicht vorstellen kann, ein Kammerorchester dabei, das war damals völlig unpopulär. Und dennoch hatte ich ein großes Publikum um mich sammeln können. Also, mit einem Kammerorchester, dies war für die Art, bei den Liedermachern in dieser Zeit völlig untypisch.
Ich werde nie vergessen wie ich Ende de 70er, als ein höchst politischer Sänger, der ich immer war, kritisch darauf angesprochen wurde, daß ich ein Cello auf der Bühne hatte. Auf den damaligen Vorwurf, das Cello sei ein bourgeoises Instrument konnte ich nur lakonisch antworten, daß dies die Gitarre eben auch sei. Hannes Wader, der mich früher nie möchte, wir haben uns erst spät lieben gelernt, hat einmal gesagt: „mir waren immer sechs Saiten einer Gitarre zu viel“, ihm hätten drei genügt, mehr war Wader nicht puritanisch genug“. Und dann kam so ein kulinarischer Bayer wie ich mit Cello daher, was vielen damals überhaupt nicht gepaßt hat.
In Ihrem Film mit Hannes Wader spürt man, daß Sie eine kraftvolle Ausstrahlung haben, woher nehmen Sie diese kraftvolle Energie?
Das ist eine schöne Frage. Auf diese gibt es eine Antwort, die sich jeder selbst geben könnte, wenn er nicht einen Fehlgedanken hätte. Viele Menschen denken, Energien sind etwas, die man mit der Geburt mitbekommen hat und je älter man wird, werden diese immer weniger, ist das Faß quasi irgendwann einmal leer.Der eine kriegt mehr, der andere weniger. Energie ist etwas, was da ist, was existiert. Die einzige Möglichkeit, Energie zu bekommen, ist offen zu sein und dies zu bleiben. Man merkt es an Bekannten und Freunden, je verschossener jemand ist, desto unenergetischer ist; vielleicht ist einer gemein, vielleicht mächtig, vielleicht bösartig, das kann auch eine gewisse Energie sein, aber es ist nicht eine wirkliche energetische Ausstrahlung. Das geht nur durch Offenheit; man muß neugierig sein und den Mut haben, sich auf Neues einzulassen. Das gibt eine wahnsinnige Energie. Und bei Orff, der damals schon weit über achtzig war und kaum mehr gehen konnte, weil er körperlich ziemlich gebrechlich war, er hatte Augen, die leuchteten. Und man dachte, hier sitzt einem ein Siebzehnjähriger gegenüber. Das war diese Wachheit, die er bis zum Schluß hatte. Energie kann jeder haben und Orff hatte er sie in einem ganz besonderen Maße.
Sie beschreiben, daß Sie jeden Abend ihre Lieder neu und mit Freude interpretieren, ist das ein Ausdruck dieser Energie?
Ja natürlich. Der Austausch zwischen dem Publikum und dem, was auf der Bühne passiert, ist etwas sehr liebevolles. Man ist nicht dauernd gleicher Meinung, das muß man auch nicht sein, aber man hat die gleiche Sehnsucht. Dies ist etwas, was den Künstler so sehr mit seinem Publikum verbindet. Das macht dann wirklich Spaß.
„Sie glauben an den Menschen, das Mitgefühl, die Liebe, an das Gute im Menschen, sie glauben an eine liebevolle, gewaltfreie Gesellschaft des Miteinanders“. Was ist darunter zu verstehen?
Das ist eine Utopie. Das ist genau alles, was wir in unserer Gesellschaft nicht haben, leider. Aber wir haben komischerweise die Sehnsucht nach einem Miteinander, wir haben die Sehnsucht, daß keiner den anderen unterdrückt. Jeder von uns hat diese Sehnsucht, auch wenn wir sie nicht leben. Wir denken, wir dürfen die Sehnsucht nicht leben, weil wir sonst keine Karriere machen können, weil wir sonst in der Gesellschaft, in dieser Ellenbogengesellschaft, nicht weiterkommen. Ich meinerseits glaube, wir müssen den Mut haben, Utopien in uns leben zu wollen und auch zu dürfen. Jeder von uns hat diese Sehnsüchte. Es gibt nur ganz wenige gestörte Menschen, die der Meinung sind, auf den anderen einzutreten, wenn dieser am Boden liegt. Aber es ist eine Minderheit, die zwar immer gern hochgehoben wird, wann man sagt, daß der Mensch so sei, doch meiner Meinung nach ist er nicht so. Aber wir sind in einer Gesellschaft, die uns diese Sehnsüchte nicht erlaubt, weil sie uns vorgaukelt, daß wir dann nicht leistungsfördernd sind. Laßt uns, so denke ich, diese Sehnsucht leben. Man sollte sich keineswegs von Menschen fertigmachen lassen, die meinen, man müsse gegen den Gutmenschen schimpfen. Was ist denn das Gegenteil vom Gutmensch, der Schlechtmensch? Will ich ein Schlechtmensch sein? Ich behaupte, es ist besser ein Gutmensch als ein Schlechtmensch zu sein, schlechte Menschen hatten wir in der Nazizeit.
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Philharmonie ergeben?
Ich habe Mark Mast vor fünf Jahren kennengelernt. Und ich finde die Zusammenarbeit sehr spannend, weil er aus einer ganzen anderen Ecke kam, er war Jazzer, und hat Saxophon, Blues gespielt, ist dann zur Klassik gewechselt. Diese Lebensgeschichte finde ich toll, alles was grenzüberscheitet musikalisch überschreitend ist, interessiert mich sehr, viel mehr als diejenigen, die in ihren festen Gebieten starr bleiben. Ich war von seiner Idee überzeugt, mit jungen Musikern zu arbeiten.
Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel
von Karl-Josef Kuschel
„Von Gott kann man nicht sprechen, wenn man nicht weiß, was Sprache ist“, was ist damit gemeint?
Zunächst einmal ist das ein Zitat des großen Lyrikers Günther Eich aus seiner Büchner-Preis- Rede Ende der 50er Jahre. Und der Satz hat noch eine Fortsetzung. Dann wird deutlich, was damit gemeint ist: Tut man es dennoch, sagt Eich, also spricht man von Gott, ohne zu wissen, was Sprache leistet, was Sprache möglich und unmöglich macht, dann missbraucht man seinen Namen und erniedrigt ihn zur Propagandaformel. Das heißt: Günther Eich will darauf hinweisen, dass Sprache große Möglichkeiten hat – aber auch große Gefahren in sich birgt. Nämlich die der Versteinerung, der Objektivierung, der Verdinglichung. Und wenn man „Gott“ wie ein Ding, wie eine Sache behandelt, dann bleibt er nicht mehr der lebendige Gott, der sich aller Sprache entzieht. Es ist eine Warnung davor, dass „Gott“, den wir den Unnennbaren, den Unbegreiflichen, den Unverfügbaren nennen, in wohlfeile Formeln aufgelöst wird. Sprache hat diese Gefahr in sich – also die der Verdinglichung, der Verzweckung, des propagandistischen Missbrauchs, was im „Fall“ der Gottesrede besonders gefährlich ist.
Warum brauchen wir globale ethische Standards, Sie sprechen von einem Weltgewissen, um zu überleben?
Globale ethische Standards braucht man, weil wir in einer immer stärker zusammenwachsenden Weltgesellschaft leben – sowohl ökonomisch wie ökologisch wie finanziell. Wenn Sie an Fragen wie die des Weltklimas denken, der Weltmigrationsströme, der Weltverbrechen wie Drogenhandel, Waffenhandel etc., dann wissen Sie, was ich meine. Wir leben in einer zunehmend kommunikativ vernetzten Weltgesellschaft. Wie soll man da überleben, wenn man nicht elementare ethische Standards miteinander teilt? Wenn nicht das Gebot, du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen, nicht morden, du sollst Sexualität nicht missbrauchen, um nur diese vier zu nennen, wenn die nicht überall geteilt werden? In einer immer stärker zusammenwachsenden W eltwirtschaft zum Beispiel kann man nicht interagieren, kann man kein Vertrauen, kann man keine geschäftlichen Beziehungen aufbauen ohne ein Minimum an Vertrauen, an Zuverlässigkeit, an Ehrlichkeit. Auch der Welthandel mit ausländischen Partnern beispielsweise würde ja sofort zusammenbrechen, wenn man das Gefühl hätte, man wird vom anderen nur übervorteilt, man wird angelogen, man wird betrogen, übers Ohr gehauen. Verträge wären dann das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Mit anderen Worten: die eine Welt- Gesellschaft braucht ein Welt-Ethos, das heißt universal, überall geltende ethische Standards – zumindest in elementaren Bereichen, unbeschadet kultureller oder religiöser Unterschiede. In speziellen Bereichen, sagen wir bei Geburtenkontrolle, Abtreibung, Sterbehilfe oder vielen anderen konkreten ethischen Fragen, wird es sicher keinen Konsens geben. Aber die Weltreligionen können bei diesen elementaren ethischen Standards so etwas wie ein Weltgewissen sein, damit die Weltgesellschaft zusammengehalten wird und nicht auseinander driftet.
Was können wir Christen von den anderen Religionen lernen, wo sehen Sie Nachholbedarf?
Lassen Sie mich ihre abstrakte Frage gleich „herunterbrechen“: Was habe ich von Menschen anderen Glaubens gelernt? Ich habe vor allen mit vielen jüdischen Kolleginnen und Kollegen, aber auch muslimischen, zusammengearbeitet und unendlich viel von ihnen gelernt. Ich habe zunächst einmal gelernt, dass der jeweils Andere nicht nur der anders Glaubende, sondern auch der Andersglaubende ist. Daraus folgt: Glauben an Werte, an etwas Göttliches, etwas Heiliges ist kein Privat- oder Exklusivbesitz einer Religion. Dass es überall auf der Welt
Menschen gibt, die sich religiös oder spirituell orientieren, heißt ja umgekehrt: Man ist als Christ nicht alleine in der einen Weltgesellschaft. Man lernt die Pluralität religiöser Ausdrucksformen kennen und auch schätzen. Man weiß sich verbunden mit Menschen, die ähnlichen Idealen folgen. Natürlich in ihrer eigenen Sprache, kulturbedingt, in ihren eigenen Ausdrucksformen, in ihren eigenen Riten und mit ihren eigenen Festen. Aber ich war immer beglückt, zum Beispiel an Festen des Judentums teilnehmen zu können oder von Muslimen eingeladen worden zu sein zum Fastenbrechen am Ende des Ramadan oder zum Opferfest. Weil ich merkte: Ich teile als Christi dieselben Ideale, das gelebte Leben in eine „göttliche Ordnung“ einzubetten. Gelernt habe ich auch, dass ich als Christ mit Juden die Hebräische Bibel und mit Muslimen viele Überlieferungen teile, die der Koran ausdrücklich „bestätigt“: Überlieferungen von Adam, Abraham und Moses bis hin zu Jesus und Maria.
Wahrheit ist immer wieder das große Thema, bei dem sich die Religionen streiten. Wie können sich die großen Religionen noch mehr annähern?
Zunächst einmal ist zu sagen: Religionen vertreten Wahrheitsansprüche gegeneinander. Das darf man nicht verharmlosen, nicht bagatellisieren. Ein Jude wird sich immer orientieren an der Tora, ausgelegt in Mischna und Talmud. Christen werden sich immer an Botschaft und Person Jesu Christi orientieren, der für sie der definitive Interpret Gottes ist. So wie sich ein Muslim für sein Leben und Sterben am Koran orientiert als dem für ihn definitiven „Wort Gottes“. Ich nenne das die theologische Axiomatik, und sie macht ja auch eine Religion zur „Religion“. Die entscheidende Frage aber ist: Gibt es unter Respektierung dieser Wahrheitsansprüche in jeder der genannten Religionen auch Raum für den Glauben der Anderen? Diese Frage ist Jahrhunderte lang ausgeblendet worden; man hat seine eigene Wahrheit zum Exklusivbesitz gemacht. Man hat sich oft genug polemisch abgegrenzt gegen „die Anderen“. Man hat sie entweder als Defizitäre oder als Ungläubige oder als Unorthodoxe bezeichnet. Mein christliches Wahrheitsgewissen in Orientierung an der Botschaft Jesu gibt „den Anderen“, den Nichtchristen und auch den Nichtgläubigen, den Menschen guten Willens, die ihrem Gewissen folgen, Raum vor Gott. Dem Matthäus-Evangelium zufolge (Kap. 25) werden Christen ja am Ende, wenn Christus wiederkommt zum Weltgericht, nicht gefragt: Warst du in der richtigen Kirche, hast du die richtige Religion zelebriert, hast du nach der richtigen Dogmatik geglaubt? Sie werden nach dem Werken der Barmherzigkeit gefragt: Was hast du dem Geringsten meiner Brüder getan? Für einen interreligiösen Dialog heißt das, bereit zu sein, sich für den Anderen zu öffnen, auf den anderen zuzugehen, sich um ihn zu kümmern. Wie tut man das am besten? Indem man seine Überlieferungen studiert. Indem man versucht, sich in den Wahrheitsanspruch des Anderen hinein zu versetzen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die schöne Formel gebraucht: Ziel des interreligiösen Dialogs ist das bessere wechselseitige Verstehen untereinander. Was ja nicht heißt, dass ich meine Religion aufgebe, dass ich konvertiere. Aber ich muss die mich bemühen, die Andersheit des Anderen besser zu verstehen. Das sagt mir mein christliches Wahrheitsgewissen, das ist für mich ein Teil der Nachfolge Christi: Mich in die Schuhe des anderen zu stellen, den Weg des anderen versuchen nachzuvollziehen, um so immer genauer die Andersheit des Anderen verstehen zu können.
Vor welchen großen Herausforderungen steht die Kirche im 21. Jahrhundert?
Wenn Sie die katholische Kirche meinen, gibt es seit dem Konzil eine große Agenda, die nach wie vor der Einlösung harrt. Das ist auf der einen Seite die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus der Moderne. Millionen von Menschen fühlen sich religiös oder kirchlich nicht mehr gebunden. Haben ihre Vorbehalte, haben ihre traumatischen Erfahrungen mit Kirche gemacht. Wie gehen wir also mit Menschen um, die explizit jede religiöse oder auch kirchlich-institutionelle Verbindung zurückweisen, oft aus guten sachlichen oder persönlichen
Gründen? Mit diesen Menschen muss Kirche im Gespräch bleiben. Das andere ist die innerchristliche Ökumene. Nach wie vor haben die Kirchen es nicht vermocht, die Kirchenspaltung und damit die Exkommunikation auf Ortsebene abzuschaffen. 2017 ist nicht mehr lange hin, das Jahr des 500 jährigen Jubiläum der Reformation. Will die katholische Kirche so weiter machen, indem sie immer noch den protestantischen Kirchen das volle Kirchensein abspricht? Sie sei nicht die wirkliche Kirche Christi, sondern irgendeine defizitäre Form, eine „kirchliche Gemeinschaft“? Will man also die Kirchenspaltung nach wie aufrechterhalten und den Überlegenheitsanspruch der katholischen Kirche immer noch verteidigen? Millionen von Menschen in allen Kirchen warten darauf, dass die Kirchenleitungen endlich zu Lösungen kommen und das umsetzen, was die theologische Forschung seit dem Konzil längst erhoben hat: Die kirchentrennenden Differenzen sind beseitigt und die noch verbleibenden Differenzen sind nicht mehr kirchentrennend. Doch diese Ergebnisse sind nicht rezipiert. Wir könnten längst eine Abschaffung der Kirchenspaltung durchführen, wenn man die theologischen Ergebnisse ernst nähme und umsetzte. Und das dritte große Feld ist der Dialog mit den Weltreligionen, ausgehend von der Tatsache, dass wir in einer religiös pluralen Weltgesellschaft leben, in der auch die anderen Religionen mächtigen Einfluss haben. Vor allem der Islam. Rein statistisch sind Christentum und Islam die einzigen Religionen, die den Namen Weltreligionen verdienen. Jeder hat ungefähr 1 Milliarde nomineller Anhänger, jede ist weltweit verbreitet. Der interreligiöse Dialog steht vor großen Herausforderungen, weil der Weltfrieden nicht zuletzt vom Religionsfrieden abhängt. Und dieser hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft zum Dialog ab.
Kunst als Paradigma von Harmonie und Versöhnung. Welche Rolle kommt der Kunst im interkulturellen Diskurs zu?
Kunst ist heute Weltkunst. Das ist ein wichtiges Faktum. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht so absehbar. Zwar haben sich europäische Künstler wie Picasso von Künsten aus Asien oder Ozeanien beeinflussen lassen, sie haben Impulse außereuropäische Kulturen aufgenommen. Ein Emil Nolde ist in den Südpazifik gereist, ein Paul Gauguin hat in Ozeanien gearbeitet. Heute aber haben wir eine ganz neue globale Kunstsituation. Wir haben Literatur als Weltliteratur. Ganz selbstverständlich rezipieren wir heute Autoren aus Afrika oder Südafrika: eine Nadine Gordimer, einen Wole Soyinka. Ganz Europa hat getrauert, als ein großer Südamerikaner neulich starb: Garcia Marquez. Wir rezipieren ganz selbstverständlich auch Autoren und Autorinnen aus Nordamerika. Die letzte Nobelpreisträgerin, Alice Munro, war eine Kanadierin. Die Grenzen sind längst durchlässig geworden. Kunst in Form von Weltliteratur, Weltmusik und Weltkunst kann Horizonte eröffnen, Grenzen sprengen und Grundfragen, die in der Kunst zum Ausdruck kommen, als Menschheitsfragen bewusst machen. Sie kann den interkulturellen Dialog befördern. Anders gesagt: Die internationalisierte Kunst, die Weltkunst, die wir jetzt erleben, kann zum Anstoß werden, Grundfragen des Menschen neu zu thematisieren. Die Fragen des Menschen nach dem Woher und dem Wohin seines Lebens, nach dem Sinn seiner Arbeit und seines Daseins, nach den Konflikten, denen er ausgesetzt ist, und nach der Hoffnung, die Menschen miteinander teilen. Insofern ist Kunst ein wichtiges Instrument, ein wichtiges Medium der Kommunikationsfähigkeit zwischen Menschen verschiedener Kulturen.
Im Interview der Verleger und Medienunternehmer Eduard Kastner
von Eduard Kastner
Herr Kastner, wir leben in einer multimedialen Welt, die Nutzung des Internets steigt kontinuierlich, das Fernsehsehen bleibt stabil, aber die Bundesbürger lesen immer weniger. Braucht es noch Bücher oder ist das Medium überholt?
Es kommt natürlich darauf an, ob Sie das auf Print-Medien beziehen. Erwiesenermaßen wird mehr gelesen, gerade über die elektronischen Medien. Es steigt auch die Motivation dadurch, mehr „Print“ zu lesen: wegen der persönlichen Wichtigkeit des Gelesenen oder den variierenden Umständen des Lesens. Elektronische Medien bekommen so den Teaser-Status, um danach – bei Bedeutung – die Contents in Print zu „verewigen“.
Der große Trend im Internet sind derzeit Medienportale mit kurzen Videobotschaften, sehen Sie darin mehr als einen Zeitgeist?
Es ist Teil der „Arbeitsteilung“: schnelle Information per E-Medium, Nacharbeitung per Print. Ob dabei immer Video-Botschaften an Bord sind, bezweifle ich. Sie sind eher aufwendig herzustellen, aber wünschenswert, weil sie viel mehr Informationen enthalten. Es war immer Ziel aller Medien, wichtige Inhalte in sehr kompakter Weise schnell zu verbreiten. Wo bleibt da noch Platz für „Zeitgeist“. Natürlich zwingt uns das Internet dazu um so mehr. Aber damit engt sich das Internet ein, wird zum „Vorabkanal“. Will es das? Womöglich wird es nicht gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Mobile-Darstellung kommt diesem Trend entgegen und schafft damit Platz für umfangreiche Hintergrundinformationen – das muss nicht nur Print bedeuten. Es sind Hybrid-Formen bei uns bereits tägliche Praxis.
Glauben Sie, dass das E-Book die Lesegewohnheiten verändert?
Jedes neue Medium verändert die Lesegewohnheiten. Es fragt sich nur, wohin. Das E-Book ermutigt, schnell in neue Inhalte einzutauchen, sie zu testen. Ob ein typischer E-Book-Nutzer in den Urlaub noch Print-Bücher mitnehmen will, bezweifle ich. Dazwischen liegt die tägliche Wahrheit.
Sie scheinen mit Ihrem Angebot, insbesondere auf dem Schulbuchsektor ein krisenfreies Segment zu bedienen, ist dem so?
Natürlich sind Anweisungen an den Pädagogen dann krisenfest, wenn sie allein und nur in Print angeboten werden. Aber wie lange ist dies noch Realität? Wir leben von der Tradition, von Gewohnheiten. Allerdings ist der Raum der elektronischen Medien derzeit noch sehr eng. Echt gearbeitet wird mit Print. Die elektronischen Medien dienen der Präsentation in der Klasse. In 10 Jahren wird dies anders aussehen.
Warum ist es schwerer, den Lesern beizubringen, dass sie für Journalismus auch im Internet bezahlen müssen?
Es ist nicht nur schwerer, schlichtweg sehr schwer. Wir zögern noch, für unsere sehr breiten Dienste (z. B. www.hallertau.info) etwas zu verlangen. Dabei haben wir kaum Gegenfinanzierung über Werbung. Diese Form der Meinungsvielfalt fällt bei uns unter demokratischen Luxus, den wir bieten, weil die Printmedien uns (noch) den finanziellen Spielraum geben. Andere werden schneller gezwungen sein, etwas zu verlangen – oder die journalistische Qualität auf Facebook-Niveau abzusenken. Es kann nur nichts verlangt werden, wenn es (fast) nichts kostet. So kann es nur Qualitätsjournalismus geben, wenn dafür über ein Abo etc. gezahlt wird. Doch der User entscheidet, welche Qualität er akzeptiert. Hier gibt es Verwerfungen zwischen Internet und Print.
Was verstehen Sie unter „Druckkultur“?
Das Wort besteht aus zwei Teilen: „druck“, weil wir das können und wir darin eine starke Position einnehmen und „Kultur“, die wir bewusst pflegen via Ausstellungen, Konzerte und vieles andere. Diese Form der „Kultur“ braucht immer irgendwie „druck“. Unsere Einladungen sind so aufwändig, dass sie elektronisch nicht gänzlich erfassbar sind, der Kick fehlte. Wir zeigen damit, dass „Kultur“ in gedruckter Form mehr bietet als elektronische Animation. Die „druckKultur“ behandelt aber viele andere Themen rund um Medien, Innovationen, Konjunturprognose u.v.m.. Sie bildet unsere/meine Welt ab und zeigt weit über „Print“ hinaus. Die Grundlagen kommen aber aus dem „druck“, wie wir ihn seit 115 Jahren auf den Markt bringen. Druck ist ein Kulturgut der Zukunft.
Wie könnte Ihrer Meinung nach die Zukunft der Printmedien aussehen?
Sie meinen, wie die Printmedien sich entwickeln? Davon abzukoppeln ist die Frage ihrer Herstellung und damit, wie sie physisch aussehen. Bleiben wir bei der Entwicklung der Printmedien. Generell wird immer ein gewisser Prozentsatz der Kommunikation die Papierform wählen: wenn etwas wichtig ist, besondere Aufmerksamkeit erreichen soll, Vertrauen ins Spiel gebracht wird oder gewisse Traditionen erfüllt werden müssen. Bei der Verpackung wird Papier/Pappe zunehmen. Hinzu kommt das veränderte Verhalten zukünftiger Generationen: die elektronischen Medien sind noch so jung, das sich bei ihnen noch sehr viel Neues ergeben wird. Das alles wird Print einschränken/verändern. Neue Medien werden entstehen. Das Buch wird sich auf Edelbände oder Billigware zurückziehen (müssen). Zeitungen verlieren in der heutigen Form ihre Berechtigung. Sie überleben als Hintergrundinformation, Unterhaltungsmedium etc. mit Wochenrhythmus. Fachzeitschriften wandern ähnlich ins Netz. Hinzu kommt die Möglichkeit jedes Haushalts- Arbeitsplatzes, sich das Medium in Papier selbst auszudrucken. Hier stehen wir also erst am Anfang. Es ist aber nur zu logisch. Dabei werden neue Formate entstehen.
Sie erweitern in Zeiten der Krise ihr Verlagshaus, wo sehen Sie die Potentiale der nächsten Jahre?
Weil Zeitschriften jetzt noch Print sind, nehmen wir so viele auf wie möglich. Auch bei Edelbüchern strengen wir uns an. Wir versuchen, kurz- und mittelfristig so viel Print wie möglich in unsere Eigenregie aufzunehmen. Noch mehr werden wir Verpackungen ausbauen. Wenn die neue Drucktechnik des Rollendigitaldruckes am Markt sich installiert, müssen wir voll dabei sein.
Wie sieht das Druckhaus der Zukunft aus? Empfehlen Sie wie ein die Banken bei Anlagen ein gemischtes Portfolio, hier nun eins aus Internet und Print?
Das Druckhaus der Zukunft ist eine reine industrielle Installation. Vorne wird eine Rolle Papier reingeschoben, seitlich kommen die Umschläge o.ä. hinzu (online oder offline) und hinten verlässt ein fertiges Produkt die Anlage, postalisch bereits aufbereitet. Lediglich im Verpackungsdruck u.ä. bleibt die bisherige Technik noch sehr lange. Wegen des Portfolios brauchen Sie die anderen Medien, d.h. das Drucken ist nur eine Ausgabeform. Mehr Mehrwert wird in der jetzigen „Vorstufe“ erzeugt ähnlich vielfältig wie in der Molekularbiologie. Gedruckt kann z.B. auch als 3D in Kunststoff werden.
Was haben wir unter Software-Engineering und Softwarearchitektur?
Die Software ist nur der größere Schlüssel zur Produktion in der „Vorstufe“. Auch hier wird sich noch viel ändern. Viele Nutzen der Zukunft werden immateriell ausgegeben, quasi als App. Die Software der Zukunft gleicht mehr einem großen Organismus.
Welche Potentiale sehen Sie im digitalen Bilddruck?
Die digitale Drucktechnik, konkret als Rollendigitaldruck mit Ink-Jet-Technik, steht vor dem qualitativen Durchbruch. Es wird sich ein „schöneres“ Druckbild ergeben als in Offset. Die Tinte wird nicht teurer sein als jetzt die Druckfarbe.
Herr Kastner, müssen wir uns von der „Weltmacht Papier“ verabschieden? All unser Wissen, unsere Werte, unsere Kunst verdanken wir dem gedruckten Wort und den Bildern auf Papier, das Abendland war immer eine Schriftkultur!
Sicherlich wird Papier seine Weltmacht verlieren wie z.B. Spanien einst die Welt regierte. Doch es gibt im heutigen Spanien noch viel Lebensqualität. Das Kostbarste wird immer materiell bleiben wie z.B. Kunstwerke, Urkunden, Geldscheine etc.. So ist der Mensch angelegt. Im Netz gibt es keine Sicherheit noch Geborgenheit. Papier wird es immer geben – nur eben relativ weniger.
Die Produzentin von „Türkisch für Anfänger“ und „Fack ju Göhte“ – Lena Schömann – im Interview
von Lena Schömann
Frau Schömann, herzlichen Glückwunsch zu „Fack ju Göhte“!
Danke
Was macht eigentlich eine Produzentin? Was für konkrete Aufgaben hat man da zu erfüllen?
Als Produzentin hat man den gesamtinhaltlichen Bezug vor Augen, also die Gesamtverantwortung und muss sich um das gesamte Projekt kümmern. Dies betrifft die Finanzierung, die Zusammenstellung des Teams, des Autors und des Regisseurs. Man ist bei der Drehbuchentwicklung dabei und während der Dreharbeiten. Dabei gilt es, den roten Faden nicht zu verlieren – insbesondere natürlich im Blick auf das Budget. Bis hin zur letzten Sekunde des Films ist höchste Aufmerksamkeit geboten. Die Arbeit geht zudem über den Kinostart hinaus, aktuell zum Beispiel arbeiten wir gemeinsam mit der Highlight an der DVD zum Film.
In kürzester Zeit sind Sie nach „Türkisch für Anfänger“ für einen zweiten Kinohit maßgeblich mitverantwortlich. Komödien sind derzeit gefragt. Gibt es ein Erfolgsrezept?
Ich glaube, dass man im Filmgeschäft generell nicht mit Erfolg rechnen kann oder sich diesen logisch erklären kann. Wenn dem so wäre, würde man ja tatsächlich nur erfolgreiche Filme produzieren. Wichtig ist, dass man sich die größte Mühe gibt und die Zuschauer dies auch merken, dann hat man schon sehr viel erreicht. Erfolg läßt sich aber grundsätzlich nicht planen. Was mir – bei allen Filmprojekten – aber geholfen hat, ist die Reflexion darüber, für welche Zielgruppe der Film bestimmt ist, wie man ihn vermarkten kann, kurzum ein Innehalten zu Beginn.
Wie steht es um den Humor in Deutschland? Haben die Deutschen einen ausgeprägten Humor?
Ich glaube schon. Wenn man sich beispielsweise die Top 10 der erfolgreichsten deutschen Kinofilme in den letzten Jahren ansieht, so sind das immer Komödien gewesen. Die Deutschen sind ein Volk, die meiner Ansicht nach, gern zum Lachen ins Kino gehen. Dies zeigt sich, dass deutsche Komödien sehr gefragt sind. Aktuell spiegelt sich dies bei „Vaterfreuden“ von Matthias Schweighöfer wider.
Finden Sie, daß Humor, oder Komödien, von verschiedenen Kulturen unterschiedlich aufgenommen werden? Mit anderen Worten, ist Humor kulturspezifisch?
Ja, auch das glaube ich. Wobei es Ausnahmen gibt, wie zum Beispiel bei „Ziemlich beste Freunde“; dies war ja nicht nur eine Komödie, sondern eher eine Dramedy. Aber dieser französische Film hat nicht nur in Deutschland, sondern weltweit die Kinos gefüllt. Aber der kulturspezifische Hintergrund ist natürlich ein großes Thema. Eine erfolgreiche deutsche Komödie muss nicht zwangsläufig auch in Österreich und in der Schweiz funktionieren. Schon hier zeigt sich, dass der Humor unterschiedlich ist. Glücklicherweise haben wir mit „Fack ju Göhte“ einen Film, der auch in diesen Ländern gut angenommen wird.
Halten Sie Komödien für ein schwierigeres oder komplizierteres Genre als das Drama?
Generell gelten Komödien ja immer als das schwierigste Genre überhaupt. Meiner Überzeugung nach ist der Autor entscheidend. Bora Dagtekin ist sicherlich der derzeit beste Komödienautor in Deutschland. Er schreibt einfach wahnsinnig intelligente und pointierte Dialoge, die oft auch laut und politisch unkorrekt sind. Dann gibt es einige Set-Pieces, die voll mit Screwball-Elementen und emotionalen Themen gefüllt sind. So gibt es bei „Fack ju Göhte“ neben lauten Lachern auch dramatische Momente, die die Komödie dann wiederum warmherzig und charmant machen.
Sie waren bereits als Studentin in der Stoffentwicklung und als Producerin tätig. Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit mit der Rat Pack Filmproduktion ergeben?
Ich habe meine ersten Schritte in der Stoffentwicklung zusammen mit Christian Becker gemacht, dem Geschäftsführer der Rat Pack Film. Von der Pike auf bin ich so in das Filmgeschäft hineingewachsen, zuerst in der Stoffentwicklungsabteilung.
Dadurch, dass Martin Moszkowicz von der Constantin Film, den Autor Bora Dagtekin an die Constantin Film gebunden hat und die Rat Pack Filmproduktion wiederum eine Tochterfirma der Constantin Film ist, hatte sich diese Konstellation schon für „Türkisch für Anfänger“ und nun mit „Fack ju Göhte“ gut ergeben.
In wie weit waren Sie an der Stoffentwicklung von „Fack ju Göhte“ beteiligt? Was hat Sie motiviert?
Wenn Bora und ich einen Film zusammen machen, dann ist das immer eine sehr enge und intensive Zusammenarbeit. Wir ergänzen uns sehr gut als Team und arbeiten auch in der Stoffentwicklungsphase schon sehr eng zusammen. Das finde ich auch sehr wichtig, weil das den Grundstein für das Projekt legt und weil das Drehbuch immer der wichtigste Part, das wichtigste Bauelement, für einen Film ist. Bereits während der Entstehungsphase des Drehbuches hatte ich mich somit schon einbringen können und wir haben die Zeit sehr intensiv am Drehbuch gearbeitet. Aber Bora ist ganz klar der Autor und witzigerweise kommen wir beide ausLehrerfamilien.
Hatten Sie als Lehrertochter einen besonderen Blickwinkel für das Thema?
Ja, klar. Neben dem Komödienaspekt wollten wir ja eine Story um eine Problemklasse machen. Dabei sollte ein Bezug zu den aktuellen bildungspolitischen Themen, wie Burn-out bei Lehrern, pädagogische Überforderung im Lehrerzimmer oder grenzwertiges Verhalten von Jugendlichen, hergestellt werden. Immer zugespitzt auf tagesaktuelle Brisanzthemen sollte die Komödie eine zeitgemäße Ebene erhalten. Uns war es dabei wichtig, dass der Beruf des Lehrers nicht durch den Kakao gezogen wird, sondern dass man neben all dem Spaß auch spürt, dass Deutschland ein Land der Bildungsoffensive ist und dass Lehrer auch nicht nur die faulen Säcke sind, wie sie so oft auch betitelt werden, sondern dass die meisten sehr engagiert sind und sich für ihre Schüler aufreiben. Ich glaube – all dies hat damit zu tun, diese Sensibilität für das Thema, dass ich aus einer Lehrerfamilie komme und deswegen das hehre Ziel hatte, mit „Fack ju Göhte“ einen Film zu schaffen, in dem Lehrer zwar komische Abenteuer erleben, aber wo auch die Liebe zum Beruf deutlich spürbar ist und wo man dann augenzwinkernd zeigen kann, womit die Lehrer zu kämpfen haben.
Gibt es eine Komödie, die Sie gesehen haben, die Sie besonders geprägt oder Ihren Stil beeinflusst hat? Welche und in welcher Hinsicht?
Ich habe sehr viele Lieblingskomödien, weil ich mir generell viele Komödien anschaue. Komödien, die mich bei „Fack ju Göhte“ mit beeinflusst haben, waren „Bridesmaids“ („Brautalarm“) und „Bad Teacher“. An „Bridesmaids“ hat mich der politisch unkorrekte Humor fasziniert, der mir auch bei „We’re the Millers“ („Wir sind die Millers“) sehr gut gefallen hat. Generell mag ich die typisch amerikanischen Komödien, die die Grenzen ein wenig überschreiten.
Waren Sie am Set während der Dreharbeiten von „Fack ju Göhte“? Wie war das Set-Life?
Ja, ich war jeden Tag am Set. Es war eine sehr anstrengende Arbeit, denn wir hatten ein großes, motiviertes, fleißiges Team. Aber wir haben auch wahnsinnig viel gelacht. Auf die neue DVD von „Fack ju Göhte“ werden wir etwa 20-30 Minuten Outtakes mit draufpacken. Nicht nur am Set und bei den Schauspielern wurde viel gelacht, sondern auch Bora Dagtekin hatte hinter seiner Videokombo jede Menge Spaß. Das Schönste im Rückblick ist es aber, wenn man sieht, dass sich die gemeinsame Arbeit gelohnt hat und die Zuschauer zufrieden sind. Dann kann man gemeinsam in Erinnerungen schwelgen und über harte oder anstrengende Drehtage zusammen schmunzeln.
Wie erklären Sie sich den großen Erfolg von „Fack ju Göhte“?
Meiner Meinung nach ist das nicht erklärbar. Im Nachhinein ist es aber, so denke ich, eine Mischung aus vielem. Wir waren mit dem richtigen Thema zur richtigen Zeit am Markt. Die Schulkomödie war stets ein großes deutsches Komödiengenre, aber in den letzten zehn Jahren hat es keine Schulkomödie mehr gegeben. Mit „Fack ju Göhte“ ist es uns gelungen, das Genre wieder zum Leben zu erwecken und in das kommerzielle deutsche Kino hineinzutragen. Ich glaube, dass eine ganze Teenager Generation auf so einen Schul-Film gewartet hat. Letztendlich aber muss alles stimmen, es muss ein guter Film sein, und in unserem Fall hatten wir ein großartiges Drehbuch von Bora Dagtekin, wunderbare Schauspieler wie Elyas M’Barek und Karoline Herfurth, Katja Riemann und Uschi Glas, ein sehr fleißiges Team, das mit großer Leidenschaft gearbeitet hat. Wenn man das Glück hat, dass diese ganzen Faktoren zusammentreffen, kann ein Erfolgsprodukt entstehen.
Welcher ist Ihr persönlicher Lieblingsmoment in „Fack ju Göhte“?
Das ist sehr schwierig, weil ich sehr viele Lieblingsmomente oder Lieblingsszenen habe und derzeit noch gar keinen Abstand zum Film, was immer so ist, wenn man lange und intensiv an einem Projekt gearbeitet hat. Später sieht man alles etwas anders. Ich würde mir wünschen, dass ich irgendwann „Fack ju Göhte“ als ganz „normalen“ Kinofilm anschauen kann und mir dann – in Distanz – meine objektive Meinung dazu bilden könnte. Im Augenblick fasziniert mich eine bestimmte Musik in einer bestimmten Szene, weil ich genau weiß, wie schwierig der Weg dahin war. Oder ich erinnere mich an einen Drehtag an dem wir eine spezielle Szene gedreht haben und welche Hürden damit verbunden waren. Schön ist, dass ich immer wieder lachen muss, obwohl ich den Film über 80 Mal gesehen habe. Vielleicht können Sie mich das in drei Jahren noch mal fragen und dann kann ich die Frage beantworten.
Ist „Fack ju Göhte 2“ in Planung?
Wir arbeiten gerade an einem zweiten Teil. Wir haben noch kein Drehbuch, sondern beginnen gerade mit der Planung und überlegen uns, wann es mit dem Dreh losgehen kann.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Sophie Adell und Dr. Dr. Stefan Groß führten.
„Für das Menschsein finde ich vieles im ‚Faust‘.“- Im Interview: Der Bankier Friedrich von Metzler
von Stefan Groß
Sie führten und führen noch eines der renommiertesten privaten Bankhäuser in der Bundesrepublik, was motiviert Sie sich täglich zu engagieren, woher nehmen Sie ihre Kraft, sind es familiäre, geschichtliche, religiöse Aspekte, die Sie prägen?
Ich führe nicht allein, wir sind ein Team von neun Partnern mit flachen Hierarchien. Die zweite, dritte, vierte Ebene ist hier unternehmerisch sehr tätig. Insofern sind wir wirklich teammäßig aufgestellt. Mich motiviert immer wieder, dass unsere Vorfahren die Bank über mehr als 300 Jahre durch alle Gefährdungen und problematischen Zeiten unabhängig gebracht haben. Wir mussten nie gestützt werden, unser Geschäft wurde immer so geführt, dass wir auch in schwierigsten Zeiten – und auch unsere Kunden – überlebt haben.
Meine Maxime ist es, die Kunden so zu beraten, dass diese auch für schwierige Zeiten vorbereitet und richtig aufgestellt sind. Und das begreife ich als eine gestalterische und interessante Tätigkeit. Darüber hinaus belebt die Internationalität unser Geschäft und dadurch die täglichen Abläufe.
Wie wichtig ist der Begriff der Verantwortung in ihrem Beruf?
Sehr wichtig. Aber ich glaube, der ist in jedem Beruf wichtig. Man hat Verantwortung für Mitarbeiter, man hat Verantwortung für Kunden. Produzierende Unternehmen haben auch noch die Verantwortung für das Produkt, dass das gut ist. Das haben wir nicht, bei uns dreht es sich nur um Menschen, Mitarbeiter und Kunden.
Was bedeutet für Sie als Banker die Tugend der Geduld?
Wir haben zum Beispiel keine Teams, die bewertet werden, wie viele Provisionseinnahmen sie über einen gewissen Zeitraum erwirtschaften, sondern wir beurteilen unsere Mitarbeiter nur nach langfristiger Kundenzufriedenheit. Der Kunde muss uns auch schon länger kennen, um dann das Vertrauen zu entwickeln, dass er sich wirklich auf uns verlassen kann. Vermögenserhalt über Generationen, oder eine strategische Vermögensmehrung durch geduldige Anlagepolitik kann immer nur langfristig sein.
Berthold Brecht hatte in seiner „Die Dreigroschenoper“ einmal formuliert: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was sagen Sie dazu?
Das ist schön formuliert, aber nicht passend für uns. Vor 340 Jahren ist unsere Bank gegründet worden und was ich zurückverfolgen kann, hat sie sich immer gut und loyal gegenüber den Kunden und Mitarbeitern gegenüber verhalten. Wir sind in diesem langen Zeitraum nie in eine spekulative Schieflage geraten. Man kennt das ja aus Holland: Tulpenspekulation. London: South East Company Bubble. Paris John Law. Das gab es in Frankfurt nie.
Lothar Späth hat einmal in einem Interview betont, dass sich Banken, Wirtschaft und Ethik ausschließen, stimmt das?
Überhaupt nicht. Wenn wir hier einen Mitarbeiter für uns gewinnen wollen, dann achten wir sehr auf seinen Charakter und seine Wertevorstellung. Wir holen nicht nur jemanden herein, derbei uns Geschäfte machen soll, sondern es muss die richtige Wertebasis dabei sein. Und das hat sich sehr bewährt. Bereits mein Vater hat immer gesagt, wenn er gefragt wurde, auf wen achtest du, wenn du jemanden einstellt und für die Bank gewinnen willst, dann sagte er: „Auf die drei großen Cs. Und das ist: Charakter, Charakter, Charakter.“
Sie sind ein Verfechter der europäischen Einheit und des Euro! Wie geht es Ihrer Meinung weiter mit Europa?
Ich bin für den Euro, weil ich hoffe, dass der Euro Europa näher zusammenbringt. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland immer für Europa gezahlt, weil es für uns so wichtig ist, in Europa integriert zu sein. Die Ursprungsgeschichte des Euro war klar, denn eine Währung muss stark sein, damit die Industrie in dem Land international, global wettbewerbsfähig wird oder bleibt. Leider wurden die verschiedenen Länderrisiken nicht bedacht, die sich im Zins niederschlagen müssen. Dies hat zu einer Ausgaben-Expansion in den verschiedenen Ländern geführt, die jetzt drückend sind.
Haben wir in Sachen Finanzkrise das Schlimmste hinter uns bzw. das Beste noch vor uns?
Ich warte da einfach mal ab. Ich finde es sehr gut, wie unsere Bundesregierung versucht, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen und ich sehe auch große Bemühungen in den südeuropäischen Ländern, um Reformen durchzubringen. Ich bin da zuversichtlich für die Zukunft.
Wir im Haus haben uns immer gefragt, war wir für Europa tun können und ein Projekt mit dem Goethe-Institut gestartet, mit dem wir junge Südeuropäer nach Frankfurt holen. Von diesen konnten wir die Mehrheit in einen guten Job vermitteln und sie sind jetzt in der Lage, ihre Familien in ihren Heimatländern finanziell zu unterstützen. Dieses Europa-Jugend-Projekt liegt mir am meisten am Herzen.
Sie sind ein ausgewiesener Kunstkenner und Mäzen, gibt es eine bestimme Gattung oder Kunstrichtung, Epoche, der Sie sich mit Leib und Seele verschrieben haben?
Sie überschätzen mich in meinem Kunstverstand. Übrigens bin ich auch nicht sehr musikalisch, aber ich bin froh, wenn sich gute Dinge für die Menschen hier in Frankfurt entwickeln. Aber wenn sie sich über zeitgenössische Kunst mit der Familie Metzler unterhalten wollen, dann sehen sie eine begeisterte Sylvia Metzler, meine Frau, die sich intensiv darum kümmert.
Sie reisen gern. Ein Bild zeigt Sie vor Ihrem Schreibtisch mit einer Vielzahl von Koffern, die ihre eigene Geschichte haben. Was fasziniert sie an Japan und China oder an anderen Ländern?
Mich fasziniert natürlich die Art, wie andere Länder, wie andere Völker leben. Was ja überall etwas anders als in Deutschland ist. Ich bin gleich nach der Außenhandelskaufmannslehre nach London, New York und Paris geschickt worden, weil mein Vater immer sagte, du sollst das Ausland kennen lernen, denn in diesen Kapitalmärkten kannst du unser zukünftiges Geschäft lernen. Dieser Rat war sehr gut und ich bin ihm mit Begeisterung in jungen Jahren gefolgt. Auch heute noch faszinieren mich Länder wie die USA, Japan und China.
Gibt es ein besonderes Buch, einen besonderen Denker, dem sie nachhaltig viel verdanken, wo Sie vielleicht sagen würden, dies ist eine Quelle meines Lebens?
Für das Menschsein finde ich vieles im „Faust“.
Sie sind protestantisch, es gibt eine protestantische Arbeitsethik und -moral? Spielt das religiöse Moment bei Ihnen eine zentrale Rolle?
Ich finde es großartig, wie die Würde des Menschen durch das Christentum herausgearbeitet wurde, insbesondere, dass wir heute doch mit unseren Mitmenschen ganz anders umgehen, als dies noch in den vergangenen Jahrhunderten der Fall war. Das hat das Christentum maßgeblich mitbestimmt und herausgearbeitet – darüber bin ich sehr glücklich.
„Ich lebe, ich atme und ich bin Sixt. 24 Stunden, 365 Tage im Jahr“ – Im Interview Regine Sixt
- Frau Sixt, Sie sind Markenbotschafterin einer der führenden Autovermietungen der Welt. Können Sie uns Ihr Tätigkeitsfeld näher skizzieren?
Ich lebe, ich atme und ich bin Sixt. 24 Stunden, 365 Tage im Jahr. Für mich ist das die schönste Aufgabe der Welt. Als Verantwortliche für das International Marketing von Sixt liegt mir unsere Marke enorm am Herzen. Das beginnt bei den Menschen am Counter, die so etwas wie die Visitenkarte des Unternehmens sind: Die Uniformen designe ich seit Jahren selbst – und passe sie den regionalen Besonderheiten an. So sind unsere Mitarbeiter an der Côte d’Azur anders gekleidet als in den arabischen Ländern. Das setzt sich fort bei dem markanten Design unserer Stationen und setzt sich fort in unseren vielen Kommunikationsmaßnahmen. Wir erstellen nun allein vier eigene Zeitschriften. Sixt ist eine Marke, die weltweit in mehr als 100 Ländern einen gigantischen Wiedererkennungswert hat.
- Im Jahr 1912 hat Martin Sixt in München das Unternehmen „Sixt Autofahrten und Selbstfahrer“ als erste Autovermietung Deutschlands gegründet. Wie waren die ersten Jahre für Sie im Unternehmen, in das Sie im Jahr 1976 eingetreten sind? Maßgeblich unter Ihrer Führung begann seit 1991 die internationale Expansion der Firma. Vor welchen Schwierigkeiten standen Sie persönlich, von Beruf sind Sie ja Diplom-Dolmetscherin?
Ich sehe nie Schwierigkeiten, höchstens Herausforderungen. Als ich bei Sixt begann, hatten wir eine Flotte von 800 Fahrzeugen und träumten davon, dass es eines Tages 3.000 sein werden. Heute sind es 225.000. Wir haben in unserer Familie einfach dieses ganz bestimmte Sixt-Gen. Das bedeutet für mich: Man muss als Unternehmer jeden Tag aufs Neue das Richtige unternehmen. Und man muss jeden Tag von Neuem handeln. Nur so kommt man weiter.
- Welche unternehmerische Philosophie prägt Sie? Ihr Mann, Erich Sixt, der heutige Vorstandsvorsitzende, hatte 1969, in dritter Generation, die Leitung des Unternehmens übernommen. Geld, so hieß es in einem Interview, sei nicht die eigentliche Triebfeder, sondern ihm geht es eher um Selbstbestätigung, um die Fähigkeit auszuloten, wie man weiter kommt – gleich einem Bergsteiger. Was motiviert Sie, immer wieder für die Firma aktiv zu werden?
Es geht doch darum, aus seinem Leben und seinen Möglichkeiten das Bestmögliche zu machen. Wir haben die große Vision, ganz an die Spitze unserer Branche zu kommen. Diese Vision werden unsere Söhne Alexander und Konstantin Sixt – nun beide auch Vorstände unseres börsennotierten Unternehmens – mit ganzer Kraft fortführen. Man muss wie ein Bergsteiger große Ziele haben, viele, viele Schritte setzen und Risiken überwinden, um diese Ziele auch zu erreichen. Geht nicht – das gibt’s nicht bei uns!
- Was denken Sie, ist das Geheimnis Ihres Erfolges? Wie schaffen Sie es, Menschen zu motivieren, immer wieder neue Netzwerke zu knüpfen?
Ich motiviere andere ganz automatisch, weil ich selbst motiviert und begeistert bin. Unsere Welt ist doch so ein sensationeller Ort – da gibt es so vieles zu entdecken und zu bewegen! So viele wunderbare Menschen kreuzen jeden Tag meinen Weg. Ich gehe mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt – und da erlebe ich jeden Tag aufs Neue phantastische Dinge und Begegnungen.
- Sie zählen zu den wichtigsten und einflußreichsten Frauen Deutschlands. Wie gelingt es Ihnen immer wieder, das Unternehmen auf Wachstumskurs zu halten?
Es gibt doch nur eines: Always up! Stehenbleiben gilt nicht. Wenn man das Unternehmen mit innovativen Ideen und Premium-Services vorantreibt, kann es doch nur nach oben gehen. Sicherlich ist auch die Rollenverteilung in unserer Familie perfekt für unsere Erfolgsstory.
- Nach dem Zweiten Weltkrieg hat ihr Unternehmen einen Neustart begonnen – zunächst als Taxi-Flotte für amerikanische Truppen. In Zukunft will Sixt wieder in eines Ihrer ursprünglichen Kerngeschäfte einsteigen und den Limousinenservice „myDriver“ weiter kräftig ausbauen. Taxiunternehmer sehen darin einen unfairen Wettbewerb. Wie beurteilen Sie das?
Wir bieten unseren Kunden überzeugende Produkte und hochwertige Services, die genau ihren Bedarf treffen. Alternative Angebote wie myDriver zwingen Wettbewerber eher dazu, sich mit Themen wie Qualität und Service auseinander zu setzen. Überregulierung dagegen schadet nur der Wirtschaft. Das Ziel muss eher ein Wettbewerb zugunsten der Kunden sein.
- „myDriver“ grenzt sich start vom Uber ab. Uber betreibt eine App, wodurch es möglich ist, Fahrten mit einem Chauffeurdienst, aber auch mit privaten Fahrern zu buchen. Was unterscheidet Uber von „My Driver“?
Unsere Qualität, unser Service, unsere Verlässlichkeit, unsere Erfahrung. Qualität hat sich noch immer durchgesetzt. Für uns ist es unvorstellbar, dass Kunden zum Beispiel von Fahrern chauffiert werden, die keinen Beförderungsschein besitzen.
- Innovatives Denken, Kreativität und Flexibilität haben Ihr Unternehmen groß gemacht. 2011 hat Sixt seine Dienstleistungen auf den Bereich Premium-Carsharing erweitert und mit BMW das Joint Venture DriveNow gegründet. Was haben wir demnächst aus Ihrem Haus zu erwarten?
Mobilität befindet sich in einem stetigen Wandel. Die Bedürfnisse der Kunden verändern sich permanent – und wir entwickeln dafür die idealen Lösungen. DriveNow zum Beispiel trägt konsequent dem Mobilitätsbedarf der Menschen in den Großstädten und Metropolen Rechnung. Wir arbeiten bereits heute an der Mobilität der Zukunft. Sie können sicher sein, dass wir rechtzeitig darüber sprechen werden.
- Wie sehen Sie, Frau Sixt, den Konzern im Jahr 2020 aufgestellt? Sie sind nun verdientermaßen im Februar in den Vorstand berufen worden. Mittlerweile in der vierten Generation haben Ihre Söhne Alexander Sixt (Leitung der Konzernentwicklung) und Konstantin Sixt (Leitung des Internetgeschäfts) das Familienunternehmen personell stark gestärkt!
Unsere Söhne haben in den vergangenen mehrfach neue Impulse für die Entwicklung unseres Unternehmens gesetzt. Man nehme nur das Carsharing oder den Online- und Mobile-Bereich. Sie sind nun in den Vorstand berufen worden und gehen mit großem Elan, aber auch mit großer Weitsicht und Disziplin an ihre Aufgaben.
- Sie führen ein „Leben im Sauseschritt“. Familie, das Unternehmen, ihre sozialen Verpflichtungen und ihre diplomatischen Verpflichtungen als Honorargeneralkonsulin von Barbados, wie schaffen Sie es immer wieder, sich dieser enormen Arbeitsbelastung zu stellen? Was machen Sie am liebsten, wenn Sie gerade mal nicht für die Firma tätig sind?
Sixt ist nicht nur meine Arbeit, sondern mein Leben. Mein Werk. Und auch wenn ich zum Beispiel im Tegernseer Tal auf einem Berg stehe und in die Weite blicke, denke ich gleichzeitig an Sixt. Ich weiß: Nicht nur der Ausblick ist wundervoll – auch die Zukunft unseres Unternehmens. Denn wir haben schon den nächsten Gipfel fest im Blick.
„Tränchen Trocknen“ – die Regine Sixt Kinderhilfe Stiftung
Interview mit Regine Sixt
- Frau Sixt, wie kamen Sie ursprünglich auf die Idee, die Kinderhilfe Stiftung „Tränchen Trocknen“ ins Leben zu rufen?
Ganz einfach: Ich komme ja viel in der Welt herum. Und ich habe sehr viel Not und Elend gesehen, unter denen die Jüngsten in der Gesellschaft am schwersten leiden. Deshalb entschied ich mich, etwas zu unternehmen. Wenn ich etwas anpacke, dann richtig. Das Motto „Tränchen trocknen“ entstand in einer Kinderkrebsstation, als ich ein weinendes Mädchen auf den Arm nahm und fragte, was ich denn für sie tun könne. Die Antwort der Kleinen: „Trockne mir doch meine Tränen!“
- Was sind die Ziele der Kinderhilfe Stiftung „Tränchen Trocknen“?
Möglichst vielen Kindern zu helfen. Und zwar in den vier Bereichen: Gesundheit, Bildung, Nothilfe und Fürsorge. Jedes Kind hat ein Recht darauf, gut beschützt und umsorgt aufzuwachsen und Perspektiven auf ein normales Leben zu haben. Außerdem geht es darum, eine ganz konkrete Möglichkeit anzubieten sich zu engagieren. Nehmen wir das Beispiel meiner Damenwiesn: Die Veranstaltung auf dem Münchner Oktoberfest ist eine feste Institution und vereint mehr als 1.000 wunderbare Frauen aus verschiedensten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Und sie alle unterstützen unsere Kinderhilfe nach Leibeskräften.
- „Tränchen Trocknen“ ist eine weltweit aktive Kinderhilfe. In wie vielen Ländern ist Ihre Kinderhilfe „Tränchen Trocknen“ derzeit aktiv?
Wir erfahren Unterstützung aus mehr als 105 Ländern weltweit, in denen Sixt präsent ist. Bislang haben wir mehr als 40 internationale Projekte mit aufgebaut, gefördert oder umgesetzt. Das sind– außer bei der Nothilfe in aktuellen Krisenfällen – alles Projekte, die langfristig angelegt sind. Derzeit treiben wir rund 20 Projekte voran. Das ist eine ganze Menge, wenn man bedenkt, wie herausfordernd es heute ist, schon ein einziges Projekt unter stets schwierigen lokalen Bedingungen dauerhaft zum Erfolg zu führen.
- Mit „Tränchen Trocknen“ werden sehr unterschiedliche Projekte in verschiedenen Ländern unterstützt. Wie entscheiden Sie sich für die konkreten Projekte, welche Sie mit Ihrer Stiftung unterstützen möchten?
Natürlich werden ständig neue Projekte an uns herangetragen. Wenn wir uns konkret entscheiden, muss das Projekt zumindest einer der vier genannten Kategorien entsprechen. Dann spielt eine Rolle, wie professionell das Projekt gemanagt ist, ob sich vor Ort Mitarbeiter von uns darum kümmern können und ob sich idealerweise auch Partnerorganisationen engagieren, zu denen wir bereits eine enge und langjährige Verbindung haben.
- Was motivierte Sie, eine weltweite Kinderhilfe aufzubauen, im Gegensatz zu einer Kinderstiftung, die ausschließlich in Deutschland Hilfe leistet?
Die Welt von Sixt reicht weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Wenn Sie vom Flugzeug aus auf die Welt hinabblicken, sehen Sie keine Grenzen. Es gibt überall Kinder, die auf Hilfe warten. Gerade in den armen Ländern der Erde, wo die Not am größten ist. Den Kindern dort Perspektiven zu eröffnen, gerade auch durch Bildung, dass sie aus eigener Kraft eine gute Existenz aufbauen können, das ist unser Ziel.
- Sie leiten sowohl Ihre Kinderhilfe Stiftung als auch den Sixt Konzern. Inwieweit arbeitet Ihre Stiftung „Tränchen Trocknen“ mit dem Sixt-Konzern zusammen?
Unsere Kinderhilfe Stiftung ist mittlerweile auch ein zentraler Pfeiler unseres offiziellen Corporate Social Responsibility Programms bei Sixt. Meine beiden Söhne Alexander und Konstantin sind Mitglieder im Vorstand der Kinderhilfe Stiftung – und sie sind seit Beginn des Jahres ja auch Vorständsmitglieder der Sixt SE. Das bedeutet, dass wir die Kinderhilfe Stiftung mit der gleichen Professionalität und Entschlossenheit vorantreiben wie den börsennotierten Konzern.
- Was ist Corporate Social Responsibility?
Es beschreibt die soziale Verantwortung, die jedes Unternehmen den Menschen und der Umwelt gegenüber hat. „Giving back to society“ ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Wir haben mit viel Disziplin und harter Arbeit in nun mehr als 100 Jahren dieses Unternehmen aufgebaut bis zur heutigen globalen Bedeutung. Da ist es für mich selbstverständlich, im sozialen Bereich engagiert zu sein. Denn es braucht nicht nur offizielle Institutionen, die sich engagieren, sondern viele einzelne Menschen, die ihr Möglichstes beitragen zu einer guten Zukunft.
- In Deutschland besteht ein soziales Netz, welches stabiler ist als in den meisten anderen Ländern. Hat das einen Einfluss auf die Corporate Social Responsibility der deutschen Unternehmen? Wie schätzen Sie die Corporate Social Responsibility der Konzerne in Deutschland ein, im Vergleich zu der CSR in anderen Industrienationen?
Aus meiner Sicht hat traditionell die USA die längste Erfahrung mit diesem Thema. Das sehen wir auch deshalb, weil Sixt in den Vereinigten Staaten zügig expandiert und wir mit amerikanischen Unternehmen jahrzehntelange Kooperationen pflegen. Ich selbst habe zum Beispiel meine erste Airline-Kooperation am Beginn meiner Karriere bei Sixt vor Ort in New York mit PanAm abgeschlossen. In den USA gehört es zum guten Ton, dass wohlhabende Unternehmer auch als Philanthropen auftreten. Denken Sie nur an die vielen hochkarätigen Charity-Dinner. Aber Deutschland holt auf und verankert das Thema immer besser in den einzelnen Unternehmensstrategien. Zudem arbeiten wir auch im Fundraising arbeiten international. Wir hatten zum Beispiel wiederholt Charity-Dinner mit den Spitzen der französischen Gesellschaft in Paris und veranstalten ähnliche Events in vielen verschiedenen Ländern.
- Manchmal werden Stiftungen dafür kritisiert, daß zu viele der Spendeneinnahmen für die Verwaltung ausgegeben werden und zu wenige der Erlöse direkt bei den Hilfsbedürftigen ankommen. Wie ist das Verhältnis von Verwaltungsaufwand zur direkten Hilfe der Betroffenen bei Ihrer Kinderstiftung „Tränchen Trocknen“? Wie kann man einen hohen Verwaltungsaufwand bei Hilfsorganisationen umgehen?
Sie brauchen heute Profis, um eine Stiftung erfolgreich zu führen, das ist ganz klar. Alles andere wäre unverantwortlich. Aber ich kann Ihnen versichern: Unsere CSR-Abteilung ist ein Posten in unserem Budget wie andere Abteilungen auch. Von den Spendengeldern, die wir auf verschiedensten Veranstaltungen generieren, geht jeder Cent direkt in unsere Projekte. Getragen wird das Engagement aber auch von unseren vielen Mitarbeitern, die ehrenamtlich für die gute Sache kämpfen.
- Frau Sixt, Sie sind in verschiedenen Bereichen eine äußerst erfolgreiche Frau – wie machen Sie es möglich, sich um so vieles gleichzeitig zu kümmern?
Man sagt uns Frauen ja gerne nach, dass wir Spezialistinnen für Multi-Tasking sind. Ich liebe es ganz einfach, vieles zu bewegen. Da schaut man nicht auf die Uhr. Das ist mein Leben, so soll es sein. Wer große Ziele hat, für die er brennt – im Sozialen genauso wie im Business -, der kann heute mehr bewegen denn je zuvor. Es geht einfach darum, die Chancen zu nutzen. Und die Welt ist doch voller Chancen. Packen wir’s an!
Im Interview Staatsministerin Monika Hohlmeier
- Welche Charaktereigenschaft haben Sie an Ihrem Vater besonders geschätzt? War er ein strenger Vater?
Mein Vater war streng, aber nur dann wenn es um die Einhaltung der grundlegenden Verpflichtungen seiner Kinder ging. Dazu zählten: Erstens: Man ist nicht bösartig gegenüber einem anderen. Zweitens: Man hat sich vernünftig zu benehmen. Meinem Vater ging es immer um grundlegende Fragen wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Offenheit – dies hat er von uns erwartet. Respekt vor den eigenen Eltern gehörte auch dazu. Nur bei diesen Dingen war er wirklich streng. Wenn es um die Schule ging, war er zumeist relativ locker und manche Faulheitsanwandlungen in bestimmten Fächern trugen meine Mutter und er mit Fassung.
Er hat uns immer wieder klar gesagt: „der Herrgott hat euch Fähigkeiten mitgegeben. Setzt diese für euch und andere ein, damit alle davon profitieren. Dafür hat er sie euch mitgegeben. Begabungen und Fähigkeiten zu haben ist ein Geschenk, es bedeutet aber auch Veranwortung.“ Im Hause Strauß herrschte eine grundsätzlich christliche Einstellung, die auf eben diese Tugenden Wert legte. Im selben Atemzug haben wir sehr viel Vertrauen entgegengebracht bekommen, sehr viel persönliche Freiheit genossen – wir durften entscheiden, was wir mit unserer Freizeit machen wollen, an welche Schule wir gehen, wer unsere Freunde sind und vieles andere mehr. Er hat uns nie in die Politik gedrängt, aber natürlich sind wir in einem politischen Haushalt aufgewachsen und waren deshalb einfach politisch interessiert. Er hat uns nie als Portal für die Medien benutzt, sondern, wenn jemals ein Foto von uns gemacht werden sollte, hat er uns immer vorher gefragt, ob wir das überhaupt wünschen. Da fühlten wir uns nie unter Druck gesetzt. Auch bei dem sehr bekannten Wahlkampfplakat aus dem Jahre 1980 in der letzten Phase des Bundeskanzlerwahlkampfs war ich gerade mal 18 Jahre. Er verpflichtete den verblüfften Edmund Stoiber, bei mir persönlich anzurufen, ob ich willens sei, auf diesem Plakat zu erscheinen. Wir mussten also nicht für die Öffentlichkeit funktionieren.
Immer wieder haben wir interessante Dinge kennengelernt, die kein anderer Mensch, und schon gar nicht in unserem Alter, kennenlernen durfte. Aus diesem Grund muss ich zwar sagen, dass ich eine andere Kindheit als üblich verbracht habe, aber ich hatte eine gute Kindheit und super Eltern. Mein Vater hat sich trotz seiner knappen Zeit, für uns interessiert. Er hat mich mit meiner Mutter in Trainingslagern der Leichtathletik besucht, Geburtstage für uns reserviert, Ferien mit uns verbracht, uns viele Stunden für offene Gespräche und Diskussionen geschenkt, er hat unsere Freunde akzeptiert wie sie waren, ob schwarz, rot oder grün, langhaarig oder kurzhaarig, dick oder dünn, arm oder reich – das war meinem Vater egal, solange er den Eindruck hatte, dass es ehrliche und faire Freunde waren. Und ansonsten war in diesen Fragen ohnehin die Mama mehr zuständig als der Papa, weil diese schlichtweg mehr da war.
- 25 Jahre Mauerfall: Ihr Vater hat die Deutsche Einheit immer gewollt, der Gedanke vom vereinigten Deutschland hatte ihn existentiell geprägt und motiviert! Würde er sich über die Entwicklung in Deutschland nach 25 Jahren Mauerfall freuen?
Er würde sich freuen, dass die Mauer gefallen ist. Er würde traurig sein darüber, dass wir die eine oder andere Chance auch vergeben haben. Mein Vater wäre einer gewesen, der sicherlich noch wesentlich mehr Druck auf die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder ausgeübt hätte. Er hätte ganz sicher die wirtschaftliche Entwicklung vom Mittelstand stärker gefördert. Auch wie die Abwicklung von Unternehmen über die Treuhandanstalt damals von statten ging, hätte er kritisch hinterfragt.
Generell muss man natürlich sagen, so ein Experiment wie die Wiedervereinigung, war einmalig in der Geschichte; er hätte sich darüber gefreut, dass dieser Fall der Mauer so friedlich und ohne Blutvergießen stattgefunden hat. Gerade vor dem Hintergrund des ausgehandelten Milliardenkredits Anfang der 80er sagte er zu mir, „Monika, die politischen Verhältnisse in Russland sind noch nicht so weit. Es würde heute ein großes Blutvergießen geben, die Panzer würden ausrücken und Menschen würden sterben, aber die Einheit Deutschlands wird kommen. Die Sowjetunion ist pleite. Nur mit Waffen kann man Menschen nicht zum Stillhalten zwingen. Eines Tages ist es so weit! Eines Tages wird der Moment günstig sein. Bis dahin müssen wir die DDR wirtschaftlich so weit an uns gebunden haben, dass ein Übergang keine zu schweren Brüche verursacht.“ Er hat Recht behalten.
Was ihm im heutigen Deutschland nicht gefallen würde, ist das völlig inkonsequente Umgehen mit der ehemaligen SED, heute PDS. Dass es immer noch einige ewig gestrige gibt, die behaupten, die DDR sei kein totalitärer Staat gewesen, hätte ihn politisch zutiefst irritiert. Wahrscheinlich hätte er den Bundespräsidenten Gauck deutlich bei seiner Meinung unterstützt, in der typischen rhetorischen Art und Weise eines Franz Josef Strauß.
- Die Geschichte vergißt nichts, so heißt es: Wo ist Ihrem Vater Ihrer Meinung nach am meisten Unrecht zuteil geworden? Beim roten „Stoppt-Strauß“ oder beim Vorwurf des „kriegslüsternen Unmenschen“, wie Sie in einem Text einmal formulieren?
Dieses „Stoppt-Strauß“ hängt ja zusammen mit dem Bild des macht- und kriegslüsternen völlig unkontrollierten Franz Josef Strauß. Damit ist ihm wirklich Unrecht getan worden und es hat ihn tief verletzt. Der „Spiegel“ trug dafür die Hauptverantwortung, „Stern“ und „Süddeutsche“ folgten willig. Es gab Momente, in denen mein Vater unter der Last der ihm unterstellten Bosheit beinahe zusammenbrach. Die Kraft, die er aufbringen musste, um seine wahren politischen Auffassungen zu verteidigen, war fast unmenschlich. Dass sich der Spiegel hierzu mittlerweile einer teilweise kritischen Selbstbetrachtung unterzogen hat, respektiere ich.
Mein Vater war jemand, der mit seinem herausragenden Intellekt und seinem umfassenden Wissen, Wahrheit ungeschminkt ausgesprochen hat. Dafür wurde von den einen geliebt, von den anderen, deren Ideale er als unrealistisch zerriss, zutiefst gehass. Wer „Paradieswelten“ des Sozialismus zerpflückte, dem wurde nicht verziehen. Hier trafen wirklich Welten aufeinander. Heute würde ich sagen: man hat diesem Franz Josef Strauß am meisten mit diesem Zerrbild des „kriegslüsternen Dämons“ Unrecht getan.
Mein Vater war vom Zweiten Weltkrieg geprägt und liebte deshalb den Frieden, von der Willkür des totalitären Systems der NSDAP angewidert, er war von Jugend an ein Nazihasser. In diesem Punkt wurde von interessierter Seite versucht, ihn als Nazifreund zu diffamieren! Er war das exakte Gegenteil. Aber damit wollte man ihn dämonisieren und eben als diesen kriegslüsternen Franz Josef Strauß darzustellen.
Ich habe einen anderen Menschen erlebt, einen den der Kalte Krieg bewegte und der dafür Sorge tragen wollte, dass in Europa nie wieder ein Krieg geführt werden kann. Seine ganzen Bestrebungen in der Außen- und Verteidigungspolitik galten diesem Ziel. Er blieb, trotz aller Probleme, treuer Verbündeter der Amerikaner, die für ihn Garant der Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands und Europas waren. Und die Freundschaft zu Frankreich lag ihm zutiefst am Herzen. Ich kenne keine Sommerferien, in denen wir nicht mit französischen Regierungsmitgliedern, mit den politischen Spitzen Frankreichs in einer Runde saßen; er hat die Ferien dazu genutzt die persönlichen Kontakte zu vertiefen, weil er fest davon überzeugt war, dass dieses Europa sich nur dann in Frieden weiterentwickeln kann, wenn Deutschland und Frankreich Seite an Seite an der Spitze dieses Europas gehen.
- Wie haben Sie persönliche Anfeindungen, die Ihrem Vater ungerechterweise widerfahren sind als Kind verarbeitet?
Zeitweilig war es nicht so einfach, das räume ich ehrlich ein. Wir haben eine andere Kindheit gehabt. Mich hat dieses Bild geprägt, welches meine Situation als Kind am besten trifft: wir waren die Zebras unter dem Ponyhaufen. Die Tochter von Franz Josef Strauß war immer etwas anderes. Da unsere Eltern aber hinter uns standen, konnten wir damit recht gut umgehen. Wir mussten keine Rolle spielen. Erst später hat mich der Druck von außen belastet, ich hatte Depressionen. Ich lernte, mit meinen Ängsten umzugehen, mein Leben zu leben, mich von außen nicht erdrücken zu lassen. Diese Fähigkeit kommt mir heute zugute. Und auch die Kraft, die von meiner sensiblen Mutter ausging, hat mich gestärkt – gerade in Zeiten, wo die Anfeindungen gegenüber meinem Vater am schlimmsten waren, und wo wir alle massiv angefeindet wurden. Die Feindseligkeiten, die Stahlkugeln, Steine, Pfirsiche und Eierwürfe – bis zu den tatsächlich terroristischen Plänen, unsere Familie zu vernichten – all das haben wir gemeinsam durchgestanden. Ich werde immer wieder gefragt, wie es war mit dieser Bedrohung zu leben. Meine Antwort darauf: Ich musste mein Leben als das annehmen was es war. Ich danke meinen Sicherheitsbeamten bis zum heutigen Tag, dass mit als renitentem Teenager so liebenswürdig und menschlich fein umgegangen sind – und dass sie gemeinsam mit uns Kindern das Beste aus einer Situation gemacht haben, die keiner ändern konnte.
Aber so wie es schwierige Umstände, so sehr gab faszinierende: Großveranstaltungen mit zwanzig- dreißigtausend begeisterter Anhänger zu erleben, ist etwas, das mir in Erinnerung geblieben ist. Wir Kinder durften große Staatsoberhäupter und Königshäuser kennenlernen, das waren einmalige Erlebnisse, die ich nicht vergessen habe und die mich viel gelehrt haben.
Wir Kinder hatten eine Jugend der Gegensätze und mussten lernen, damit umzugehen. Immer wieder war es unsere Mutter, die uns nahegelegte, dass wir uns nichts auf den Namen Strauß einbilden sollten, dass wir bescheiden sein und unseren eigenen Weg gehen sollten. Unsere Eltern halfen uns, mit den oft unfairen Anfeindungen umzugehen: damit also, dass es Menschen gab, die uns nur deshalb mieden, weil wir Strauß hießen, Klischees über uns verbreitet wurden, Eltern ihren Kindern verboten, Umgang mit uns zu pflegen. So haben wir gelernt, vom Vater gleichermaßen wie von der Mutter, keinen Vorurteilen aufzuliegen, die Menschen genau kennenzulernen, bevor man über diese urteilt, keinen Gerüchten zu folgen, sondern uns selbständig ein Urteil, eine Meinung zu bilden. Vielleicht bin ich dadurch ein wenig rebellisch geworden, ein Widerspruchsgeist, zeitweilig auch ein Dickkopf, eine Anhängerin von Fairness. Aber vielleicht war das in der Situation unserer Familie auch gar nicht anders möglich.
- Was hat Ihrem Vater sein ganzes Leben lang vorangetrieben, was könnte man als sein Credo bezeichnen?
Sein Credo – dies ist etwas, das ihn mit dem heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck eint – ist der Gedanke der Freiheit. Eine wichtige Maxime war ihm – auch hier mit Gauck vereint – der Gedanke von der Sozialen Marktwirtschaft. Eine Marktwirtschaft darf um keinen Preis unkontrolliert auf Kosten der Mehrheit von Menschen im Lande ausgetragen werden, wo sich einige wenige bereichern. Einer Globalisierung in Form von Oligarchentum und skrupelloser Finanzmarktzockerei würde er sich entgegenstellen. Grundpfeiler waren für ihn Frieden, Freiheit, Soziale Marktwirtschaft und der demokratische Rechtsstaat. Aber Gerechtigkeit bedeutete für ihn nicht die sozialistisch falsch verstandene Gleichmacherei, sondern die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit der Menschen und ein auf fairen Grundregeln beruhende Gesellschaftsordnung. Er war sich bewusst, dass es keine 100%ige Gerechtigkeit geben kann, kein Paradies auf Erden. Die vier Grundpfeiler sind zu den primären Maßstäben seines politischen Handelns geworden.
Beim Thema Frieden war es sicherlich die Einigung Europas mit dem Ziel die Mauer zu Fall zu bringen, den Eisernen Vorhang der Trennung Deutschlands und Europas einzureißen. Sein Gesellschaftsbild beruhte nicht auf zentralistischen Einheitsvorgaben, sondern auf der Entwicklung einer vielfältigen, den sozialen Grundsätzen verpflichteten Wirtschaft, die nicht nur aus riesigen Industriekonglomeraten besteht, sondern aus einer Vielfalt kleiner, mittlerer und großer Unternehmen, die unter vernünftigen politischen Rahmenbedingungen den wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand im gegenseitigen Wettbewerb stärken. Er wollte, dass alle Menschen aus unterschiedlichen Schichten eine Chance haben, ihre Fähigkeiten und Talente zu beweisen. Er favorisierte ein Schulsystem, welches den unterschiedlichen Fähigkeiten des Menschen Rechnung tragen sollte. Dafür hat mein Vater das Bild der „bayerischen Blumenwiese“ geprägt, das im Gegensatz zum streng getrimmten englischen Einheitsrasen stand. „Da gibt es eine Vielfalt von Blumen, Gräsern und Farben, deren Reichtum gerade nicht in der Gleichheit besteht.“ Er war fest davon überzeugt, dass Menschen durch ihre individuellen Fähigkeiten, wenn man ihnen einen guten politischen Grundrahmen bietet, in überraschender Weise scheinbar riesige Herausforderungen meistern können. Indoktrination, Bevormundung, Reglementierungswut, ideologische Schranken und Gleichmacherei (darum hat er immer gegen Bürokratie gekämpft) lähmen und frustrieren. Wir sind heute in einem Zeitalter, in dem wir uns sehr gründlich mal Gedanken machen sollten, ob das Übermaß an Bürokratie, das in Deutschland entwickelt wird, und zwar von allen und von jedermann, tatsächlich das richtige ist.
- Im Rückblick: Auf welche der vielen Leistungen, die Franz Josef Strauß für die Bundesrepublik und als Ministerpräsident für Bayern errungen hat, sind Sie besonders stolz?
Die Entwicklung Bayerns von einem agrar-geprägten armen Land zu einem modernen Industriestandort von Weltruf, der Tradition und Moderne symbiotisch verbindet. In der EU gilt das Unternehmen Airbus immer noch als ein Markstein für eine kluge von der Politik unterstützte wirtschaftliche Wunderleistung, das seine positiven Wirkungen in vielen europäischen Ländern hinterlässt.
Trotz der hohen politischen Verantwortung ist er Mensch geblieben und hat sich nicht verbiegen lassen. Das ist eine seiner größten Leistungen. Geschätzt habe ich immer, dass er seine Überzeugungen nie dem Zeitgeist und der Opportunität des Zeitgeistes geopfert hat. Eine Zeit lang war es beispielsweise opportun, die DDR und das DDR System nicht anzugreifen, schön zu reden. Er blieb bei seiner Überzeugung, war unbequem, ging ungewöhnliche Wege – wie damals bei seinem Besuch bei Mao Tse Tung oder als er de facto Albanien „wiederentdeckt“ hat. Er hat immer wieder versucht, scheinbar unveränderliche Dinge zu verändern, stets von Neuem auszuloten, ob nicht doch Unmögliches möglich gemacht werden kann. Manchmal wurde ihm dies vorgeworfen, weil er sich oft auf einem gefährlichen Terrain bewegte. Davor habe ich nach wie vor den höchsten Respekt. Er hatte den Mut, etwas zu riskieren und keine Angst, Fehler zu machen. Nur der, der nichts macht, macht auch keine Fehler.
- Gab es einen Lieblingsschriftsteller?
Rainer Maria Rilke war sein Lieblingsschriftsteller, den er auch immer neben dem Bett liegen hatte. Rilke, dessen Werke ja oft nachdenklich und in gewisser Weise auch schwierig sind, er war ein treuer Wegbegleiter meines Vaters.
- Was sollten Politiker nach Meinung von Franz Josef Strauß auf keinen Fall tun?
Mein Vater war ein Mensch mit Licht und mit Schatten – dazu stand er ja auch, dazu stehe ich bis heute.
Ich glaube, ein Politiker braucht die Fähigkeit zur Selbstreflektion. Hybris, Abgehobenheit, ideologische Verblendung, alles, was dazu geeignet ist, ganze Staaten ins Unglück zu stürzen, davor müssen Politiker sich hüten. Wie bekannt konnte mein Vater manchmal ziemlich wütend werden, einzelne Wutausbrüche sind legendär, dennoch würde ich es niemandem zur Nachahmung empfehlen, weil beide Seiten darunter leiden und Feindschaften geboren werden.
Das Wichtigste habe ich vorher schon formuliert: Allwissenheit, Allmächtigkeit haben wir Menschen nicht. Gerade Politiker sollten sich hier in Bescheidenheit üben. Alles, was totalitär und ideologisch ist, hat er abgelehnt. Durch ihn haben wir Kinder Geschichtsunterricht bekommen. Dieser bestand in der Grundaussage darin: wehre dich gegen alles Totalitäre, wehre dich gegen alles, was glaubt die Perfektheit, das Paradies auf Erden schaffen zu können, wehre dich gegen jeden und laufe niemanden nach, der vorgibt der Beste, der Tollste, der Perfekteste, der Unantastbare und der Hundertprozentige mit dem vollkommenen Wohlfühlrezept zu sein. Misstraue jedem und allen, die in diese Richtung gehen. Das habe ich mir gemerkt.
- Was kann unsere heutige Jugend von Franz Josef Strauß lernen?
Den Mut zur Zukunft. Nicht alles ängstlich zu betrachten, sondern einfach auf diese Zukunft zuzugehen. In Deutschland sind viele inzwischen sehr ängstlich geworden.
- Thüringen steht vor der Wahl rot regiert zu werden! Was würde Ihr Vater zu dieser Entwicklung im vereinigten Deutschland sagen?
Also entsetzt ist gar kein Ausdruck dafür. Dass wir in Deutschland nicht gelernt, oder es auch zugelassen haben, dass die paradiesischen Verheißungen der versammelten Linken irgendwo wieder Fuß fassen können, würde ihn entsetzen. Denn überall dort wo Links und Linksaußen regierten, müssen Jahre später die Schulden wieder zurückbezahlt werden. Deutschland wird sich wundern, wie Thüringen mit der Zeit Schritt für Schritt abwärts marschieren wird. Das ist wirklich bedauerlich und dass man auch heute noch mit so utopistischen Ideen antreten kann, zeigt auch die Schwäche der SPD. Die SPD hat in den neuen Ländern weitgehend versagt. Meinen Vater und mich würde die Toleranz und die Leichtgläubigkeit gegenüber den Kommunisten wundern.
Im Interview – Dietmar Müller-Elmau
Die Welt zu Gast auf Schloss Elmau: Was beschäftigt den Schloßherrn vor dem Gipfel? Die Verantwortung ist enorm, bereuen Sie es in einer stillen Stunde?
Ich beschäftige mich vor allem mit der Perfektionierung des nach zweijähriger Bauzeit erst kurz vor Ostern neu eröffneten Schloss Elmau Retreat, das neben dem vor 8 Jahren in neuer Großzügigkeit wiederaufgebauten Schloss auch Residenz der Staats- und Regierungschefs sein wird.
Was erwarten Sie sich – politisch gesehen – vom Gipfel? Sie sind im Geist der politischen Theologie groß geworden?
Ich hoffe, dass sich die Teilnehmer auf eine gemeinsame Politik zum besseren Schutz von Umwelt und Freiheit verständigen können. Ich bin glücklicherweise nicht im Geist einer politischen Theologie, sondern der offenen Gesellschaft groß geworden, in der Fragen des Politischen pragmatisch verhandelt und nicht mit Argumenten des Glaubens, der Moral oder der Herkunft beantwortet werden, die per se nicht verhandelbar sind. Ich habe mich dann aber in der Beschäftigung mit deutscher Geschichte vor allem mit der Ideengeschichte und politischen Relevanz gegensätzlicher Ideale von Freiheit in protestantischen Religionskulturen in Deutschland und Amerika auseinandergesetzt.
Perspektivwechsel: Der neue Kurs oder die neue Firmenphilosophie von Schloss Elmau unter Ihrer Leitung legt die Maxime zugrunde: Nicht Freiheit vom Ich, sondern Urlaub des Ich, was haben wir darunter zu verstehen?
Freiheit vom Ich ist ein metaphysisches oder religiöses, die Freiheit des Ich ein politisches Ideal, dass die Freiheit des anderen als Grenze der eigenen respektiert. Ich möchte Gästen von Schloss Elmau in ihrer Freizeit vor allem größtmögliche Freiheit bieten, gleichgültig was jeder darunter für sich verstehen mag.
Ein Blick zurück: Die Elmau war, wie Sie es auch in Ihrem neuen Buch „Schloss Elmau, Eine deutsche Geschichte“ beschreiben, die Heimat Ihrer Jugend, aber nicht die Heimat Ihres intellektuellen Ich: Sind Sie auf Schloss Elmau angekommen?
Heute ist Schloss Elmau für mich vielleicht eines der schönsten, sicher aber das zur Zeit interessanteste und außergewöhnlichste Hotel der Welt, in dem ich am liebsten meine Ferien mit meiner Familie oder Freunden oder allein verbringen möchte. Ankommen werde ich wohl nirgendwo je richtig, da ich immer weitergehen, neues entdecken und entwickeln möchte. Mit der Fertigstellung des Schloss Elmau Retreat eröffnen sich für Schloss Elmau völlig neue Perspektiven. Der G7 Gipfel ist hoffentlich nur der Anfang und nicht das Ende einer beinahe 100 jährigen Transformationsgeschichte.
Statt Konsens, sind Sie ein Verfechter des Dissens, der Polyperspektivität, internationalen Globalität und des transatlantischen Denkens bzw. Dialoges, man könnte auch sagen, der postmodernen Differenz. Elmau hat sich innerlich renoviert und sich vom alten Konzept Ihres Großvaters, das Sie als zu eng empfunden haben, distanziert. Es geht in Ihrem neuen Konzept nicht mehr um die Auflösung des Ich, die Ich-Vergessenheit und Aufhebung des Ich, sondern um ein kräftiges, bejahendes, existentielles Ich; Sie betonen: Ohne Vielfalt keine Freiheit und unterstreichen immer wieder das Ideal der offenen Gesellschaft: Haben Sie nicht Angst, das zuviel Freiheit letztendlich das traditionelle Wertegerüst auflöst? Wird Elmau ein Ort der Zivilisationskritik bleiben?
Schloss Elmau wird in Zukunft hoffentlich nie wieder ein Ort der Ablehnung der Freiheit des Ich, sondern der Bejahung und permanenten Erweiterung der Freiheit und Kreativität des Ich bleiben. Gerade weil es das perfekte Hotel ebenso wenig geben wird, wie perfekte Menschen oder eine perfekte Welt und Politik, muss man alles eingedenk menschlicher Unzulänglichkeit immer wieder kritisch hinterfragen und versuchen ständig zu verbessern.
Ihr Haus ist eine Bastion des Protestantismus, auch wenn Sie immer wieder die protestantische Homogenität kritisieren und das katholische Farbenspiel von Licht und Schatten, das Ihnen mehr am Herzen liegt betonen. Welche Rolle spielt die Religion für Sie im 21. Jahrhundert? Sie sprechen oft vom Mangel an säkularer Vernunft!
Schloss Elmau hat für mich keine eindeutige Identität, das Hotel ist wie seine Gäste und Mitarbeiter voll von Widersprüchen, Komplexität und Kompromissen gegensätzlicher Interessen. Die einzige Konstante ist die Unstimmigkeit. Schloss Elmau ist für mich ein urbanes Hotel in unberührter Natur, ein Ort der Freiheit und des Fremdenverkehrs, des ständigen Kommens und Gehens, der Vermischung, Inspiration, Erholung und Bewegung.
Ohne Transzendenzbezug kann es meiner Ansicht nach keine Freiheit geben, welche die Freiheit des anderen als Grenze der eigenen respektiert und keine Rechtsgemeinschaft geben, welche unterschiedliche Wertegemeinschaften als Teil der offenen Gesellschaft akzeptiert. Säkulare Vernunft bewahrt den Glauben an das Jenseits vor seiner Verweltlichung und Entzauberung im Diesseits ebenso wie Politik vor religiöser, metaphysischer oder ästhetischer Überhöhung und nicht mehr hinterfragbarer Letztbegründung.
Ein Gipfel ohne Putin. Fehlt da nicht was? Ihnen ist Kultur wichtig, insbesondere eine intellektuelle Streitkultur, im Zustand der Harmonie sehen Sie ja eher etwas Stagnierendes:
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Putin die Freiheit der offenen Gesellschaften des Westen nicht als Bedrohung seiner Macht, sondern als Grundlage von Wohlstand und Sicherheit auch für Russland sehen und deshalb Mitglied des Gipfels der wirtschaftlich stärksten Nationen der freien Welt sein könnte. Ich fürchte allerdings, dass Russland am liebsten nur Mitglied eines G2 Gipfels mit der USA sein möchte, um Regeln für nicht souveräne Staaten setzen zu können, an die man sich als vermeintlich souveräne, weil militärisch überlegene Weltmacht selber nicht halten muss. Da dieser Platz aber bereits von China besetzt und Amerika nicht bereit ist Europa aufzugeben, versucht Putin Deutschland auf seine Seite zu ziehen um Europa zu spalten und damit Russland gegenüber der USA und China zu stärken. Der G7 Gipfel bietet dagegen vielleicht auch eine Möglichkeit die Westbindung Deutschlands und damit die Einigung Europas zu vertiefen.
Der Sohn von Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Mein Vater ist wie ein Fahrrad, wenn es steht, fällt es um.“ Was machen Sie in Ihrer Freizeit?
Ich habe nicht genug Kraft zum Nichtstun und bin daher ständig in Bewegung, auf Reisen, beim Lesen und Bauen und mangels Zeit leider immer weniger beim Wandern, Skifahren oder Bergsteigen.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung von Schloss Elmau nach dem Gipfel. Dem 5-Sterne-Ressort Heiligendamm hat der G 8 Gipfel – nachhaltig gesehen – ja nicht zum merkantilen Erfolg geholfen?
Ein Hotel das vor dem Gipfel nicht nachhaltig erfolgreich war, wird es auch nach dem Gipfel nicht sein können. Bisher hat der Erfolg von Schloss Elmau die Erwartungen übertroffen. Dafür gibt es aber keine Garantie. Jedes Investment ist mit Risiko verbunden. Ich befürchte immer das Schlimmste und versuche stets mein Bestes zu geben, damit es nicht eintritt.
Gipfel dieser Art haben ja nicht nur Freunde, von den Protestbewegungen einmal zu schweigen. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung, schlägt Ihnen Unmut oder Neid entgegen?
Die große Mehrheit der Bürger und alle maßgebenden Politiker der Region stehen dem Gipfel positiv gegenüber. Alle, auch die Gegner profitieren vom Gipfel, sei es durch Zuschüsse zur Verbesserung der Infrastruktur oder das erhöhte Interesse der Medien. Schloss Elmau bereichert die Region kulturell und wirtschaftlich. Über 90% der Aufträge für den Wiederaufbau von Schloss Elmau und den Neubau des Schloss Elmau Retreat wurden an Firmen und Handwerker in Oberbayern vergeben. Mit Ausnahme der lokalen Presse überwiegt die Anerkennung den Neid bei weitem.
Haben Sie Angst vor möglichen Eskalationen, man denke an die letzten Ereignisse in Frankfurt gegen die Europäische Zentralbank, obwohl es ein gut fundiertes Sicherheitskonzept gibt?
Ich habe keine Angst vor Eskalationen, auch wenn gewaltbereite Feinde der Freiheit in der offenen Gesellschaft alles dransetzen werden, den Gipfel zu sabotieren und das Symbol G7 zu beschädigen.
Wie überzeugen Sie kritische Stimmen, die durch den G 7 Gipfel ihre landschaftliche Idylle und Heimat gefährdet sehen?
Bisher ist die Idylle von Schloss Elmau nicht im Geringsten nachhaltig beschädigt worden. Naturschutz ist für Schloss Elmau Existenzgrundlage. Daher bin ich froh, dass das Tal komplett abgeschirmt wird. Natürlich besteht berechtigte Sorge, dass gewaltbereite Demonstranten, die nicht für irgendwelche erkennbaren Inhalte demonstrieren, sondern den Gipfel nur sabotieren und damit vor allem die Aufmerksamkeit der Medien auf sich lenken wollen, Wiesen und Wälder in den umliegenden Gemeinden beschädigen. Ich bin jedoch optimistisch, dass die bayerische Polizei dies weitestgehend verhindern, wenn nicht gar unmöglich machen wird.
Eine Architektur steht – ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt es – für ein erneuertes Denken, für einen Aufbruch. Sie haben mit dem Neubau auf der Elmau, einem „neuen Hotel im Hotel“, wie Sie es nennen, eine neue Architektur geschaffen. 17 identische Suiten – eine Vielzahl neuer Zimmer, Sie sprechen dabei vom Ideal der offenen Gesellschaft“. Anders gefragt: Welche Philosophie steckt dahinter?
Ich wollte reisenden Ästheten, Künstlern mit oder ohne Familie in Schloss Elmau zur optimalen Erholung nicht nur eine große Vielfalt unterschiedlicher Zimmer und Suiten, Restaurants, Spas, Lounges, kultureller Veranstaltungen und Alternativen zum Nichtstun, sondern last not least auch die Freiheit der Wahl zwischen zwei verschiedenen Hotels in einem bieten.
Welche Rolle übernimmt Ihre Frau innerhalb des Hotelbetriebes, bzw. beim G 7 Gipfel?
Sie leitet die inzwischen bereits legendären Schloss Elmau Edutainment Wochen für Kinder und Jugendliche mit Debating Clubs, Workshops für Wissenschaft und Technik, Literaturwerkstatt, Schachakademie, Fussballcamps, TV und Film Workshops usw., die von renommierten Pädagogen durchgeführt werden.
Obamas Pantoffeln, bayerischer Charme und landestypische Spezialitäten. Was bietet der Gourmet Müller-Elmau seinen hochkarätigen Gästen, welcher Wein beispielsweise wird den Staatschefs serviert?
Was auch immer die Kanzlerin als Hausherrin und Gastgeberin ihren Gästen anbieten möchte.
Ihr Hotel ist für erlesene Exklusivität Deutschlandweit bekannt, aber auch für die Ruhe und Abgeschiedenheit in einer wunderbaren Umgebung. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat diesen Ort bewußt ausgesucht. Welche Highlights sind für die prominenten Gäste geplant?
Selbst wenn ich es wüsste, könnte ich es Ihnen nicht sagen.
Interview Django Asül
- Wie würden Sie den typischen Bayern beschreiben, was schätzen Sie an diesem Menschenschlag, was nicht?
Durch die Größe Bayerns findet natürlich viel Alltagsleben fernab von Großstädten wie München oder dem Ballungsgebiet Nürnberg-Fürth-Erlangen statt. Ich selber bin quasi ein Kind der Provinz und habe eigentlich diese Mischung aus Direktheit und Entschleunigung immer geschätzt. Für mich ist der Bayer daher in erster Linie kein grundsätzlicher Vertreter von Jubel, Trubel, Heiterkeit, sondern er muss schon seinen Grund haben, um sich mal richtig zu freuen oder aus sich raus zu gehen. Das ist natürlich rein mein subjektiver Eindruck. Aber ich mag genau diese Züge. Auf der anderen Seite mögen andere die Überschaubarkeit der Provinz auf Dauer langweilig finden. Für mich persönlich war es als Kind ein gewisser Schutz und ist heute ein Hort der Gemütlichkeit. Das, was also viele am sogenannten typischen bayerischen Leben nicht so toll finden, weil es auch mit sozialer Kontrolle zu tun hat, gefällt mir besonders gut.
Ich mag es, wenn ich am Marktplatz sitze oder im Tennisklub bin und seit 40 Jahren die gleichen Leute treffe. Wer dauernd Neues und Action erleben will, muss natürlich in die Stadt. Wobei das Stadtleben eigentlich überall relativ ähnlich ist. Egal ob man in München oder in Hannover ist. Als großes Plus hat Bayern natürlich neben dem Mia san mia die wunderbare Landschaft.
- Als „niederbayerische Türke aus Hengersberg“ haben Sie Karriere gemacht: Durch Ihre türkischen Wurzeln dienen Ihnen oft als Folie für einen befremdeten Blick auf die deutsche Wirklichkeit. Ist das nur ein Klischee, oder ist der türkische Humor einfach besser?
Wie türkischer Humor ausschaut, kann ich gar nicht so genau beurteilen. Meine Sozialisation war von Geburt an zu mindestens 80 Prozent von niederbayerischen Aborigines geprägt. Noch im Vorschulalter war ich jeden Sonntag am Stammtisch. Der ganze Ort war eine Art Laufstall für mich. Ob beim Bäcker, Metzger oder Bodenleger:
Ich konnte überall ein und aus gehen und habe daher das sogenannte türkische Leben nur in der Türkei im Sommerurlaub mitgekriegt. Was wiederum ein ziemlicher Kulturschock war Jahr für Jahr. Ich habe natürlich auch ein bisschen Einblick in die ganze Gastarbeiterszenerie damals gekriegt, wenn ich mit meinem Vater mal zur Fabrik fuhr, um meine Mama abzuholen. Aber da meine Eltern auch von Anfang an sehr viel mit den Einheimischen zu tun hatten, blieb der türkische Alltag für mich eher etwas Exotisches. Das hat sich bis heute nicht geändert.
- Ihr Tourkalender ist voll. Wie erklären Sie beispielsweise Berlinern, Hamburgern oder ihrem Publikum in der ganzen Bundesrepublik Ihre Herkunft aus Deggendorf, Ihre bayerische Verwobenheit, Bodenständigkeit und Ihre tiefe Heimatverbundenheit?
Mir geht es nicht darum, explizit meine Umstände zu erklären.
Sondern ich bringe einfach schräge Situationen auf die Bühne. Das kann Erlebtes oder Beobachtetes sein. Wobei ich eigentlich auch von Anfang an sehr stark mit dem Bayerischen statt mit dem Türkischen in Verbindung gebracht wurde von Garmisch bis Kiel. Was natürlich auch an meinem nicht gerade sanften niederbayerischen Akzent liegt. Generell interessiert die Menschen im gesamten Sprachraum scheinbar das Bayerische, weil nur damit nicht nur eine Sprache, sondern auch eine Mentalität in Verbindung gebracht wird. Und da die bayerische Gesellschaft von der Staatsregierung über den Stammtisch bis hin zum FC Bayern immer wieder Stoff liefert, bin ich keine Ausnahme unter den bayerischen Kollegen. Da gibt es etliche, die seit Jahren bundesweit auf Tournee nicht vor leeren Rängen spielen. Die Heimatverbundenheit erklärt sich in den Geschichten. Das muss ich nicht explizit betonen.
- Was reizt Sie am politischen Kabarett? Seit 2008 sind Sie Stammredner beim alljährlichen Maibockanstich, Neben dem Nockherberg ist der Maibockanstich mittlerweile eine feste Institution für Bayerns Politiker.
Mich reizt auf jeden Fall die Riesengaudi im Hofbräusaal. Bei mir haben ja alle Parteien und Politiker sehr schnell gemerkt, dass ich gegen sie überhaupt nichts habe und somit auch nicht zur Abrechnung ans Pult schreite. Die bayerische Politik gibt immer wieder viel Stoff her. Und gerade die Herrschenden haben nicht nur ein dickes Fell, sondern auch einen sehr soliden Humor. Die teilen gern aus. Und drum stecken sie auch gern ein bei diversen Bieranstichen. Das hat wohl viel mit der bayerischen Lebensart zu tun. Einen Starkbieranstich in Leverkusen kann man sich jedenfalls nicht vorstellen. Und einen hochdeutsch sprechenden Derblecker auch nicht.
- Sind Sie ein politischer Mensch, oder interessiert Sie Politik nur als Vorlage um Kabarett zu machen?
Politik hat wie auch Wirtschaft viel mit Ursache und Wirkung zu tun.
So gesehen interessieren mich diverse Prozesse und die mal kurzen, mal langen Dienstwege zur vermeintlichen Lösung schon. Ich habe als kleines Kind schon gelernt, mich relativ breit zu interessieren. So gesehen finde ich es schon spannend zu beobachten, welche Auswirkungen beispielsweise ein Mindestlohn im Alltag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat.
- Wer provoziert muss auch einstecken können! Wie gehen Sie mit Kritik um?
Ganz wichtig ist immer: Wer kritisiert und mit welcher Intention?
Meine härtesten Kritiker sind Leute, die mich schon lange und sehr gut kennen. Und die auch vom Kabarett Ahnung haben. Da wäre ich schlecht beraten, deren Kritik zu ignorieren.
- Politiker werden ja nicht gern kritisiert, im Kabarett jedoch ist das möglich! Gibt es Personen, die Sie bewußt im Programm ausklammern?
Mir geht es in erster Linie mal um Unterhaltung. Und wenn irgendwelche Personen sich besonders viel Mühe geben, um satirisch verarbeitet zu werden, muss das eben honoriert werden. Aber mich interessiert definitiv nicht jedes Thema und auch nicht jede Person.
Aber da ich ja neben dem normalen Bühnenprogramm auch jedes Jahr einen Jahresrückblick mache, tauchen darin zu meiner Überraschung schon mal Leute auf, die in meinem jeweiligen Standard-Bühnenprogramm sicher nichts verloren hätten. Ein Jahresrückblick ist da schon ein sehr bunter Querschnitt vom abgelaufenen Jahr.
- Wer interessiert Sie als politische Persönlichkeit am meisten, mit wem können Sie sich am besten identifizieren?
Als Maibockredner interessieren mich natürlich die bayerischen Spitzenleute am meisten. Identifizieren kann mich allerdings mit keinem von denen. Was nicht heißen muss, dass man sich nicht gut versteht. Gerade von Leuten wie Seehofer, Söder, Pronold oder Aiwanger kann ich aus Erfahrung sagen: Die haben alle einen guten Humor und freuen sich, von mir entsprechend berücksichtigt zu werden.
- Nichts ist ernster als Humor! Wünschen Sie sich, dass die kritischen Töne, die Sie anschlagen – auch tatsächlich zu einer Veränderung im politischen Alltag führen?
So wie ich nicht erwarte, dass sich Politiker in meine Arbeit einmischen, dürfen auch die Politiker erwarten, dass ich mich nicht in deren Belange einmische. Wobei das explizit meine Meinung ist. Andere Kollegen mögen das anders sehen. Zumal mir auch durchaus bewusst ist:
So manche Entscheidung, die da gefällt wird, hat nicht unbedingt einen substanziellen, sondern eher parteitaktischen Hintergrund. Und ganz
ehrlich: Mein Publikum will von mir nicht die Bühnenversion von Zeitungskommentaren vorgesetzt kriegen, sondern zwei Stunden Hochamüsantes, ohne dabei das Hirn ausschalten zu müssen.
- Sie sind seit 20 Jahren sehr erfolgreich im Geschäft – gibt es eigentlich ein Leben neben der Satire?
Auf alle Fälle. Diverse Stammtische, Cafés und auch der Tennisklub können durchaus bestätigen, dass es bei mir in Hengersberg ein enorm festgefahrenes und unterhaltsames Leben gibt.
- Wenn Django Asül einen Wunsch frei hätte, was würde er gern an oder in der Politik verändern?
Ich wünsche mir von der bayerischen Opposition definitiv noch viel mehr Stoff als bisher für meine zukünftigen Maibockreden.
Interview Joseph Vilsmaier
– Gratulation zur Bayerischen Verfassungsmedaille! Mit der Bayerischen Verfassungsmedaille werden Bürger geehrt „die in besonderer Weise zum Zusammenhalt der Menschen in Bayern beitragen uns sich für die Werte der Bayerischen Verfassung einsetzen“. Inwieweit haben Sie dies während Ihrer Laufbahn als Kameramann, Regisseur und Produzent angestrebt und inwieweit war dies eher eine Begleiterscheinung Ihres Schaffens?
AW: Zuerst mal hab ich mich wirklich sehr geehrt gefühlt, dass mir hier in meiner Heimat eine so hohe Anerkennung zuteil wird! Oft ist es doch so, dass man erst im Ausland etwas erreichen muss, damit man zuhause anerkannt wird. Aber so eine Auszeichnung strebt man ja nicht an! Man versucht halt ein anständiges Leben zu führen! Und was meine berufliche Laufbahn angeht, kam auch eins zum andern und da ich meinen Beruf nie als „Arbeit“ angesehen hab, sondern als Privileg, dass ich genau das machen konnte, was ich machen wollte, würde ich mich schon als Glückspilz bezeichnen! Und die bayerische Verfassungsmedaille war dann die Krönung!
– Herr Vilsmaier, Sie wurden in Bayern geboren, sind in Bayern aufgewachsen, arbeiten heute noch in Bayern. Obgleich Sie durch Ihren Beruf viel gereist sind, sind Sie stets in Bayern beblieben, drehten 2012 mit „Bavaria – Traumreise durch Bayern“ sogar eine Hommage an den Freistaat Bayern. Was verbindet Sie mit Bayern und was verbinden Sie mit Bayern?
AW: Mich verbindet mit Bayern natürlich meine Herkunft, meine Kindheit, da sind meine Wurzeln und alles was mir im Leben wichtig ist! Meine Kinder, meine Familie…Freunde…. Bayern hat mich geprägt! Und je mehr ich gereist bin, umso mehr lernte ich mein Zuhause „Dahoam“ zu schätzen!
– Was bedeutet es für Sie eine Heimat zu haben? Wie wichtig ist Ihnen Heimat?
AW: Wenn ich mir all die Flüchtlinge und heimatlosen Menschen anschau‘, bin ich dankbar, dass meine Kinder und ich ein besseres Schicksal haben. Es ist wichtig, Wurzeln zu haben! Mehr kann ich dazu gar nicht sagen.
– Was wünschen Sie sich für den Freistaat Bayern?
AW: Im Grunde doch nur, dass alles so bleibt wie es ist!
– Sie gelten mitunter als „Erneuerer des Heimatfilms“. Wie sagt ihnen diese Bezeichnung zu?
AW: Ach, mir sind solche Zuordnungen eigentlich egal! Manche Menschen brauchen eben solche Schubladen damit ihr Weltbild wieder stimmt! Aber natürlich hab ich bei „Herbstmilch und bei „Rama dama“ einen Heimvorteil gehabt. Denn wenn ich mich irgendwo wirklich auskenn’ und vor allem weiß wie die Leut’ ticken, dann in meiner unmittelbaren Heimat! Und wenn es dadurch ein „Heimatfilm“ wird, dann ist es halt ein Heimatfilm!
– In den meisten Ihrer Filme sind Sie gleichzeitig Regisseur sowie Kameramann. Welche Vorteile hat solch eine Doppelkonstellation als Filmemacher? Inwieweit ist es für den Zuschauer möglich, das Land Bayern im Film „Bavaria – Traumreise durch Bayern“ durch Ihre Augen zu sehen?
AW: Mir ist eher wichtig, dass sich die Leut’ ein eigenes Bild machen! Durch meine Augen schau nur ich! Regisseur/Kameramann und Produzent zu sein ist einerseits anstrengend und kräfteraubend, andererseits brauch ich mich mit keinem Regisseur, keinem Kameramann und keinem Produzenten auseinander zu setzen! Das spart viel Gerede und ich kann es so machen wie ich es will! Allerdings heißt das auch, für alles den Kopf hinzuhalten!
– Sie absolvierten gleichzeitig eine Ausbildung in Kameratechnik bei ARRI und ein Studium der Musik am Münchner Konservatorium. Wie ergänzen sich diese beiden Berufsfelder? Welche Rolle spielt Musik in Ihren Filmen? Welche Rolle spielt die Musik in Ihrem Leben?
AW: Wenn man jung, flexibel und interessiert ist, geht das problemlos ineinander über! Und Musik hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt! Es gibt kein anderes Medium das Menschen derart miteinander verbindet und fast eine heilende Wirkung hat. Und dem Film, würde ohne Musik, ein wichtiges dramaturgisches Mittel fehlen!
– An welchen Orten drehen Sie am liebsten?
AW: Da ich fast schon überall gedreht hab, bin ich immer froh wenn ich heim komm’! Aber Anfang nächsten Jahres geht’s wieder mal nach Südafrika!
– Wie würden Sie es beschreiben, Bayern 50 Stunden lang aus der Luft gesehen zu haben für die Dreharbeiten zu Ihrem Film „Bavaria“?
AW: Ich glaub’ sagen zu können, dass ich Bayern kenn’ und zwar in- und auswendig! Ich kenn das Schöne und das nicht ganz so Schöne, aber ehrlich g’sagt, möchte ich nirgendwo anders leben! Ich gehör’ einfach hierher!
Interview mit Bayerns Medienministerin Ilse Aigner
- Bayern ist ein beliebter Filmstandort in Deutschland. Sie sind als Wirtschaftsministerin auch für die Film- und Medienpolitik verantwortlich. Was macht ein Medienminister?
Den Medienstandort Bayern stärken! Wir müssen die Innovationskraft der hiesigen Medienunternehmen sichern. Die Digitalisierung hat den Medien enorme Fortschritte gebracht. Folge davon ist ein harter globaler Wettbewerb. Der hat Auswirkungen auf alle bayerischen Medienunternehmen. Ich will, dass der bayerische Markt und seine Akteure international sichtbar sind. Das geht nur, wenn die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Ich setze mich vor allem für unsere kleinen und mittleren Unternehmen ein. Vielfalt ist wichtig.
- Der Marktanteil deutscher Filme ist innerhalb des internationalen Wettbewerbs zurückgegangen. Warum?
Der Marktanteil deutscher Filme in Deutschland unterliegt Schwankungen. Im Jahr 2014 ist der Anteil deutscher Produktionen auf 26,7 Prozent gestiegen bei 32,1 Millionen Besuchern. Das ist das zweitbeste Ergebnis für die deutsche Produktion seit dem Rekordjahr 2009. Ziel muss es sein, den Marktanteil noch mehr zu steigern. Dazu müssen wir national und international erfolgreiche Kinofilme produzieren. Deshalb auch ein eigener neuer Fördertopf für internationale Co-Produktionen.
- Gibt es ein neues Bewusstsein für den Bayerischen Film, den Bayerischen Heimatfilm und warum denken Sie könnte dieser ein Exportschlager werden?
In unserer Zeit ändert sich Vieles immer schneller – da werden authentische bayerische Filme, die mit dem Genre des Heimatfilms spielen, auch immer beliebter. Oft sind das Geschichten, die unmittelbar mit dem Ort und der Sprache verknüpft sind. Durch diese Einmaligkeit sind bayerische Filme auch unnachahmlich. Zum Exportschlager können sie werden, wenn sie universelle Wahrheiten aussprechen und menschliche Bedürfnisse ansprechen.
- Wie steht die Medienbrache innerhalb der Bayerischen Wirtschaft da?
Die Medienbranche ist ein starkes Stück der Bayerischen Wirtschaft. Allein in der Region München macht die IuK- und Medienbranche 18,3 Prozent des gesamten Umsatzes aus. Und auch abseits dieser Zahlen ist sie ein wichtiger Treiber für neue Trends im Digitalbereich. Spieleentwickler haben z. B. wiederholt Anwendungen im technischen Umfeld vorbereitet.
- Welche Herausforderung stellt das Internet für den Film dar?
Der Kinofilm muss das Internet in seine Erzählweise und Produktion integrieren. YouTube z.B. ist schon heute der wichtigste Verbreitungsweg für Trailer von Kinofilmen. Der Kinofilm soll aber zugleich sein eigenes Format verteidigen. Dies kann er, wenn er gut, spannend und relevant ist. Das Internet bringt für den Kinofilm natürlich auch Gefahren mit sich, Stichwort „Internetpiraterie“. Deshalb ist der Schutz des Urheberrechts und seiner Durchsetzung die anstehende Herausforderung auf nationaler und europäischer Ebene.
- Was haben wir unter Medienkompetenz zu verstehen?
Medienkompetenz heißt zunächst, die verschiedenen Mediensysteme und deren Inhalte zu kennen und zu reflektieren. Es bedeutet aber auch, die Inhalte entsprechend kritisch zu nutzen. Medienkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts. Die große Zahl an Angeboten und deren vielfache Verknüpfung stellen hohe Anforderungen an die Vermittlung von Medienkompetenz.
- Was ist ein Medienführerschein und was ist unter Netzneutralität zu verstehen?
Mit dem Medienführerschein vermitteln wir unseren Schülerinnen und Schülern die Grundlagen für den kritischen Umgang mit den Medien. Der Medienführerschein Bayern wird von der Staatsregierung gefördert und ist eine echte Erfolgsgeschichte. Bis jetzt wurden über 150.000 Urkunden an die Absolventen verliehen.
Netzneutralität bedeutet, dass Datenpakete im weltweiten Netz grundsätzlich gleich behandelt werden. Die Netzneutralität steht für Freiheit und Fortschritt des Internet. Sie ist deshalb ein hohes Gut. Wenn wir darüber diskutieren, ob wir beispielsweise Notfalldiensten oder sonstigen für die Allgemeinheit wichtigen Diensten im Internet Vorfahrt geben, darf die Datenautobahn für den normalen Nutzer nicht zum Standstreifen werden.
- Thema Urheberrecht: Wie kann man das Urheberrecht schützen?
Ohne Zustimmung des Urhebers darf nichts gehen. Das Gesetz schreibt auch eine angemessene Vergütung vor. Verstöße sind straf- und bußgeldbewehrt. Aber das Internet und die Digitaltechnik haben vieles verändert. Das Internet soll als Vermarktungsmöglichkeit für Kreative im gesamteuropäischen Markt fruchtbar gemacht werden. Dazu werden wir die Rechtsdurchsetzbarkeit verbessern. Der illegale Datenaustausch darf nicht wirtschaftlich nachhaltigen Verwertungsmodellen den Boden entziehen. Die Nutzer brauchen ebenfalls Rechtssicherheit, insbesondere vor böswilligen Abmahnungen.
- Droht dem Staat und den Medien eine Gefahr von den Netzanbietern? Bzw. haben Sie Angst vor der Monopolmacht der Netzanbieter?
Natürlich sind Netzanbieter mächtig. Sie verfügen über die Infrastruktur. Wir wollen aber gleichen Zugang zum Internet für alle Bürger. Gegen den Missbrauch von Marktmacht gibt es aber Schutzmechanismen. Vor allem braucht es einen funktionierenden Wettbewerb. Voraussetzung ist der diskriminierungsfreie Netzzugang auf der Vorleistungsebene. Die Bundesnetzagentur achtet darauf, dass die Spielregeln eingehalten werden. Mit der Wettbewerbsentwicklung im deutschen TK-Markt kann man insgesamt zufrieden sein. Das hat zuletzt auch das Sondergutachten der Monopolkommission bestätigt.
- Sollten wir unabhängig von Europa an einem nationalstaatlichen Medienrecht festhalten?
Entscheidend ist, dass die relevanten Fragen auf der richtigen Ebene geregelt werden. Medien sind ein wesentlicher Bestandteil der Kultur eines Landes. Bayern ist geprägt durch eine einmalige Medienvielfalt. Daher wollen wir in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU ein Medienrecht, das regionale Besonderheiten berücksichtigt. Dennoch kann man nicht auf einen europaweiten Rechtsrahmen für bestimmte Bereiche verzichten, wie etwa Jugendschutz oder Datenschutz. Das verlangt schon die Wettbewerbsgerechtigkeit für Anbieter aus verschiedenen Ländern.
Medienvielfalt und Demokratie gehören zusammen, welche Gefahren sehen Sie hier?
Stimmt, Medienvielfalt ist ein wesentliches Grundelement unserer Demokratie. Im Zeitalter der Digitalisierung mit weltweit agierenden Medienkonzernen und mit einer Vielzahl von kostenfreien Medienangeboten im Internet hat sich das Angebot vervielfacht, nicht immer aber mit mehr Vielfalt. Eine Gratismentalität bei den Nutzern könnte dazu führen, dass hochwertige journalistische Angebote nicht mehr finanzierbar sind. Ich setze mich daher für ein vielfältiges Medienangebot ein und unterstütze – wo nötig – Angebote finanziell, die für unsere Gesellschaft wichtig sind.
- Warum muss die Medienpolitik eine Regulierung der Medienpolitik sein? Medienmacht versus Subsidiarität
Medienvielfalt kann bedroht sein, wenn Medienmacht in den Händen weniger Akteure liegt. Aufgabe des Staates ist es, eine Medienordnung zu schaffen, die vielen gesellschaftlich bedeutsamen Kräften eine Stimme sichert. Der Vielfalt an Meinungen in der Gesellschaft muss Rechnung getragen werden. Das bedeutet, dass Regeln für die Unternehmen verändert werden müssen, wo es die Entwicklung verlangt. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Medienordnung zu modernisieren und an die im Zuge der Digitalisierung veränderte Realität anzupassen. Dazu gehört z. B. die Schaffung von mehr Freiräumen für deutsche Medienunternehmen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.
- Bei allem Stress als Staatsministerin für Wirtschaft, was tun Sie zum Ausgleich in Ihrer knapp bemessenen Freizeit?
Ab und zu schaffe ich es, bei der Buchlektüre oder einem guten Film zu entspannen. Am liebsten schalte ich aber komplett ab in den Bergen beim Wandern oder Skifahren.
Für mich ist hier der wichtigste Begriff das Wort Verantwortung
Im Interview spricht der Unternehmer Thomas Bauer über die Risiken der Erbschaftsreform und fordert Nachbesserungen im Gesetzesentwurf. Er plädiert für den ehrbaren Kaufmann, die Tugend der Verantwortung und setzt beim Thema Fachkräftemangel auf Zuwanderung.
„Die Chance, die eigenen Anteile in die nächste Generation zu vererben, steht bei 60 Prozent“, haben Sie einmal betont. Für die Erbengeneration bleibt das Risiko mehr Steuern zu zahlen, als das Unternehmen wert sei. Nun hat das Bundeskabinett am 8. Juli 2015 den Gesetzentwurf zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschlossen. Sind die Gefahren für den Mittelstand dadurch verringert oder sehen Sie Nachbesserungsbedarf? Anders gefragt: Ist der Gesetzesentwurf wirtschaftlich sinnvoll, wird es Firmenerben dadurch schwerer, ihren Betrieb fortzuführen?
Viele Bürger und Politiker haben die Vorstellung, dass Unternehmen etwas sind, das auf Ewigkeit ausgerichtet ist und niemals seinen Wert verliert. Diese Vorstellung ist völlig absurd. Als Bauunternehmer beobachte ich seit über drei Jahrzehnten das Aufwachsen und den Untergang von Unternehmen. In der Bauwirtschaft sind in den letzten 20 Jahren etwa 80 Prozent aller Großbaufirmen vom Markt verschwunden – großteils durch Konkurs oder Notverkauf. Bei den Kleinbaufirmen verschwinden 60 Prozent innerhalb von etwa 15 Jahren wieder vom Markt. Das ist nur ein Beispiel aus einer Branche, in der es marktbedingt besonders viel Misslingen gibt. Jeder Unternehmer kennt dieses Risiko. Schlimm ist ein Erbschaftsteuergesetz, das diese Risiken nicht sinnvoll berücksichtigt. Bargeld oder Grundstücke haben eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht untergehen. Firmen haben leider eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie misslingen.
Wenn ein erfolgreicher Unternehmer plötzlich stirbt, dann berechnet sich die Erbschaftsteuer im Moment seines Todes. War das Unternehmen sehr stark von seiner Person abhängig, dann sinkt der Wert des Unternehmens allein durch seinen Tod z. B. auf die Hälfte ab. Muss ein Erbe nun 30 % Erbschaftsteuer zahlen, was bereits bei kleineren mittelständischen Unternehmen leicht der Fall sein kann, so muss bei dem beispielhaft dargestellten Wertverlust nahezu das ganze Unternehmen verkauft werden, um die Erbschaftsteuer zu bezahlen. Aus den nun nur noch 50 % Erlös für den Verkauf der Anteile muss nämlich auch noch Einkommenssteuer bezahlt werden, da der Wertzuwachs seit dem Erwerb durch den Erblasser auch noch zu verteuern ist. Ohne geeignete Erbschaftsteuerregelung ist die Firma dann mit Sicherheit weg.
Derartige Wertveränderungen innerhalb kurzer Zeit sind bei Unternehmen übrigens keinesfalls selten. Mein Unternehmen, die BAUER AG, war vor der Finanzmarktkrise an der Börse das 4-fache Wert, was es heute nach all den Turbulenzen wert ist. Wäre jemand aus der Familie damals gestorben und er hätte sich auf eine Stundungsregelung für die Erbschaftsteuer eingelassen, er müsste heute sehr viel mehr Erbschaftsteuer bezahlen, als er für seine Anteile heute erhalten könnte. Derartige Regeln sind extrem ungerecht. Auch das neue Erbschaftsteuergesetz mit der Verschonungsregel birgt diese enormen Gefahren für die Erben. Ich halte das für unerträglich. Die Loyalität der Erben zu ihrem Unternehmen müssen diese mit enormen Risiken erkaufen.
Für mich heißt das: Diese Risiken müssten eigentlich aus dem Gesetz entfernt werden. Das private Eigentum an Unternehmen ist schützenswert, egal, wie groß die Unternehmen sind. Die Risiken bei großen Unternehmen sind nicht geringer, wie die bei kleinen Unternehmen. Stundungsregeln nutzen niemandem. Sie sind enorm gefährlich.
Als Unternehmer habe ich mein ganzes Leben Angst davor gehabt, dass irgendwann die Erbschaftssteuer „mein“ Unternehmen zerstören wird. Etliche Entscheidungen habe ich nur wegen der Erbschaftsteuer getroffen. Diese waren oft nicht gut für die Firma, sie hatten nur den Sinn das Risiko zu senken. Ich weiß bei meinem Unternehmen, dass die Erbschaftsteuer nur schädlich für das Unternehmen war. Ich glaube das gilt für viele andere Unternehmen in gleicher Weise. Es macht deshalb auch keinen Sinn, wenn Bayern und der deutsche Staat viele hundert Millionen Euro dafür ausgeben, dass neue Unternehmen entstehen, wenn gleichzeitig mit einer Erbschaftsteuer in ähnlicher Größenordnung Firmenentwicklungen so gestört werden, dass in Summe kein „Mehr“ herauskommt.
Die deutsche Erbschaftsteuer bleibt – egal wie die Reform nun ausgeht – ein System mit enormen Risiken für die Erben von Unternehmen und für die Unternehmen selbst. Ich würde die Erbschaftsteuer völlig anders gestalten.
Bislang sind nur Unternehmen bis zu 3 Mitarbeitern von der Lohnsummenprüfung ausgeschlossen, hier ist eine Erhöhung auf 5-20 Mitarbeiter im Gespräch. Wären damit die Sorgen für kleine mittelständische Unternehmen vom Tisch? Berechnungen des Zentrums für Europäische Forschung (ZWE) geben dem Korrekturentwurf seitens der CSU recht!
Hier bin ich nicht im Detail Experte. Die ganz kleinen Firmen sind wegen der Freibeträge und wegen der hier noch sehr niedrigen Sätze nicht das ganz große Problem. Hier wurde im Gesetzentwurf an etwas herumgeschraubt, das nicht mehr Gerechtigkeit und auch nicht mehr Geld für den Fiskus bringt – nur mehr Bürokratie. Die bayerische Staatsregierung hat Recht, wenn sie hier Nachbesserungen verlangt.
Bringt die Erbschaftsteuer bundesdeutschen Unternehmen einen Standortnachteil, weil diese im Ausland weniger verbreitet ist?
Ja, sogar ganz erheblich! Viele Eigentümer deutscher Firmen sind schon lange ins Ausland gegangen um dort die Erbschaftsteuer zu sparen. Liebherr und Müller sind bekannte deutsche Namen. Diese Firmen müssen sich nicht mehr um die Erbschaftsteuer Sorge machen. Sie können sich voll auf die Entwicklung der Firmen konzentrieren und mit dem gesparten Geld harte Konkurrenz gegen heimische Firmen machen, um deren Markt zu erobern.
Die Bauer AG ist einer der großen Mittelständler, besser gesagt: ein internationaler Konzern mit über 10.400 Mitarbeitern, Tendenz steigend. Die Finanzkrise hat in vielen Wirtschaftsbereichen nachhaltig ihre Spuren hinterlassen! Auch für Sie ist Sparen ein Diktat und fordern dabei „Detailarbeit“ Was haben wir darunter zu verstehen?
Für die BAUER AG haben die Finanzmarktkrise, die Probleme im Nahen Osten, aber speziell auch die massiv entstandene Konkurrenz aus China dazu geführt, dass wir in den letzten Jahren erheblich mit den Verwerfungen auf unseren internationalen Märkten zu kämpfen hatten. Nur äußerste Sparsamkeit und totale Fokussierung auf ein immer noch besseres Produkt ermöglichen es uns, im Wettbewerb zu bestehen. Leider ist dabei die Profitabilität deutlich weniger geworden. Derartige Entwicklungen sind für Unternehmer Teil des Auf- und Ab im Wirtschaftsleben. Der Staat tut aber mit der Erbschaftsteuer so, als ob es so etwas nicht gibt. Erfreulicherweise scheint sich derzeit manches für die BAUER AG wieder besser zu entwickeln. Wir waren wahrscheinlich ganz am Anfang einer Entwicklung, die viele andere Firmen noch gehen müssen.
Ob Amazon, Google, Alibaba oder andere Internetkonzerne, die Digitalität ist eine der Herausforderungen für die Gesellschaft und die Unternehmer, wie ist Ihrer Meinung nach der Mittelstand und insbesondere die Baubranche auf die Internetrevolution 4.0 vorbereitet?
Digitalisierung ist für die meisten Unternehmen, auch am Bau, schon geübte Realität im Arbeitsalltag. Das Internet bestimmt die Kommunikation vor allen anderen Mitteln. Die Zukunft wird uns aber noch viele neue Möglichkeiten bieten. Am Bau ist hier das Stichwort BIM (Building Information Modeling). Hier wird die Zusammenarbeit aller am Bau Beteiligten – Baufirmen, Planer, Auftraggeber, etc. – über standardisierte Datenaustauschsysteme gestaltet. Daraus ergeben sich viele Chancen zur Verbesserung der Abläufe aber speziell auch zur Fehlervermeidung. Digitalisierung ist für die Zukunftsentwicklung enorm wichtig. Wir dürfen aber nicht der Gefahr folgen, dass wir dabei andere Themen der Innovation vernachlässigen.
Was früher das Maschinenzeitalter war, ist heute die virtuelle Welt samt den technischen Optionen. Verliert der Mensch hierbei seine Rolle als produktiv wertschöpfende Kraft?
Nein, mit Sicherheit nicht. Den Computer, der uns das Denken abnimmt, gibt es noch nicht und es wird ihn noch lange nicht geben. Die virtuelle Welt beschleunigt aber die Abläufe in den Wertschöpfungsketten enorm. Die Wirtschaft wird damit insgesamt noch deutlich schneller und damit auch produktiver. Dies wird die Wohlstandsmehrung der Zukunft entscheidend mit gestalten.
Für den Ethos in der Wirtschaft steht der ehrbare Kaufmann, gibt es diesen noch und wie würden Sie seine Rolle heute spezifizieren?
Für mich ist hier der wichtigste Begriff das Wort Verantwortung. Mit Verantwortung kann man nahezu jedes Handeln sehr gut messen – ist es verantwortlich oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Führungskräfte diesem Wert noch höchste Bedeutung zumessen. Der Unanständige kann über einige Zeit der Sieger sein – auf Dauer wird aber immer der Anständige gewinnen. Die wichtigste Aufgabe von Politik ist es, nicht durch ein Übermaß an Regelungen den Menschen die Verantwortung abzunehmen. Compliance-Systeme und Governance-Systeme sind schon gut, übertreibt man aber mit solchen Systemen oder auch mit Gesetzen, dann geht Verantwortung verloren. Und wer keine Verantwortung mehr hat, der kann auch nicht mehr verantwortlich handeln. In der Führungspraxis stehen wir sehr oft vor Entscheidungen, bei denen alle Alternativen unbefriedigend sind. Da hilft einem nur das eigene Verantwortungsgefühl, um die Dinge richtig zu machen.
Thema Fachkräftemangel: Was können Politik oder die Wirtschaft hier in Zukunft leisten, muss sich das Bildungs-, und Studienwesen reformieren? Welche Rolle spielt die Zuwanderung beim Transformationsprozeß in einer demographisch alternden Gesellschaft?
Wir haben in Deutschland und speziell in Bayern ein ausgezeichnetes Bildungssystem. Wir dürfen uns nicht irre reden lassen von all den internationalen Vergleichen, bei denen Deutschland bei den Akademikern schlecht abschneidet. Unser duales Bildungssystem ist der wichtigste Pfeiler unseres wirtschaftlichen Erfolgs. Wir müssen unser System weiterentwickeln, auf keinen Fall aber grundsätzlich verändern. Was Zuwanderung betrifft, sollten wir uns darauf einstellen, dass diese etwas ganz normales sein wird. Wenn wir die heutige Realität bei unseren jungen Menschen anschauen, dann gehen sehr viele in die Welt hinaus, um Erfahrung zu sammeln oder auch um anderswo ganz normal zu arbeiten. Es ist doch natürlich, dass sich viele in der Ferne wohl fühlen, eventuell dort heiraten und dann dort ihr Leben verbringen. Genauso normal ist es aber auch, dass Menschen nach Deutschland kommen. Dieser Austauschprozess wird die Zukunft in zunehmendem Maße bestimmen. Da soll man sich nicht unvernünftig dagegen wehren. Das hat auch nichts mit Überfremdung zu tun. In der Firma Bauer haben wir viele Ausländer die bei uns in Deutschland arbeiten. Sie fühlen sich in der Lederhose genauso wohl wie wir Bayern. Ich glaube, dass regionale Kultur mit Menschen aus vielen Ländern möglich ist. Das muss man nur wollen. Außerdem ist Zuwanderung unausweichlich, wenn in einem Land zu wenige Kinder geboren werden.
Worin sehen Sie die Hauptverantwortung des Unternehmers?
Ein Unternehmer muss sich um die Zukunft sorgen und immer auf der Suche nach Neuem sein. Er muss sich auch vor allem Anderen um die Kultur des Unternehmens kümmern. Nur in einem Unternehmen mit einer ausgeprägten und auf den Menschen orientierten Kultur kann auf Dauer Erfolg entstehen.
Sie sind Landesschatzmeister der CSU, haben eine Professur an der TU München, sind Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie e.V. und üben darüber hinaus eine fast unübersehbare Vielzahl von Ämtern aus: Was motiviert Sie und welche Eigenschaften sind für den unternehmerischen Spirit Voraussetzung?
Ich glaube, dass Unternehmer die Pflicht haben sich gesellschaftlich einzubringen. Das hat zwei Gründe: Wer viel von der Gesellschaft bekommt, so der erste Grund, der hat auch die Pflicht etwas zurück zu geben. Viele Unternehmer meinen, dass der eigene Erfolg nur selbst geschaffen ist. Das ist nie der Fall. Erfolg ist zuerst einer Chance geschuldet, die einem eine Gesellschaft gibt. Und Erfolg hat auch sehr viel mit Glück zu tun, das sollte sich jeder immer wieder vergegenwärtigen. Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, dass ich mich für die Gesellschaft einsetze. Das braucht keine weitere Motivation. Der zweite Grund ist sehr vernunftgeprägt. Unternehmer sind in der Gesellschaft die Minderheit. Engagieren sie sich nicht mehr als der Rest der Bevölkerung werden sie nichts erreichen. Ich konnte aber auch lernen, dass Engagement einem sehr viel zurückgibt: Erfahrung, Einblick und auch Spaß. Wer sich breit engagiert, der hat für viele Themen einen deutlich besseren Blick und er kann dann besser entscheiden.
Fragen Stefan Groß
Prof. Thomas Bauer ist u. a. Vorstandsvorsitzender der Bauer AG in Schrobenhausen, Landesschatzmeister der CSU, Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und hat eine Professur an der Technischen Universität München inne.
Der Text in im Bayernkurier, Heft 4, erschienen
Interview mit BMW-Chef Schaller
- BWM Motorrad konnte in den letzten Jahren deutsch seine Umsätze steigern, nie gab es mehr Motorräder aus Bayern weltweit. Gibt es eine Trendwende bei den Bikern, mehr auf Traditionsmarken zu setzen?
Der anhaltende Erfolg von BMW Motorrad ist ein Ergebnis einer langjährigen und konsequenten Geschäftspolitik. Mit einem Plus von 10,5 % nach den ersten sechs Monaten sind wir auch dieses Jahr auf Kurs, um am Ende des Jahres wieder einen neuen Absatzrekord zu erzielen. Unser starkes Modellportfolio und die Strahlkraft der Marke BMW Motorrad sind die Basis für diesen Markterfolg. Unsere neue Fahrzeuggeneration sorgt für einen regelrechten Nachfrageschub.
Darüber hinaus inspiriert Motorradfahren und das spezielle Lebensgefühl aber nicht nur die bestehenden Motorradfahrer, sondern weckt heute das Interesse bei viel mehr Menschen als in den zurückliegenden Jahren. Es entsteht eine neue Motorradkultur, die wir auch mit unserer neuen Markenausrichtung „Make Life a Ride“ abbilden.
- Elektromobilität ist das Thema der Zukunft, was heißt das für BMW Motorrad?
Der Nachhaltigkeitsstrategie der BMW Group entsprechend, ist es der Anspruch von BMW Motorrad, das Thema Elektromobilität konsequent zu belegen. Wir haben mit dem C evolution deshalb ein visionäres Fahrzeugkonzept mit einem Höchstmaß an Praxistauglichkeit, Sicherheit und einem inspirierenden Design umgesetzt. Dieses Fahrzeug ist aber nur der Anfang. Es werden weitere Fahrzeuge folgen.
- BMW hat 2014 den neuen E-Scooter präsentiert – die BMW C evolution. Sie bewerben den E-Scooter als intelligente Antwort auf das wachsende Verkehrsaufkommen, auf steigende Energiekosten und immer strengere CO2-Auflagen. Was haben wir darunter zu verstehen?
Elektromobilität ist lokal emissionsfrei, d.h. es fallen in der Stadt keinerlei Abgas an. Das Zweirad bietet darüber hinaus sehr viele Vorteile in Bezug auf seine geringe Verkehrsfläche und seine Wendigkeit. Parkplatzsuche und Stau sind für einen Zweiradfahrer kaum ein Thema. Der C evolution ist somit das ideale Fahrzeug für den Verkehr im urbanen Umfeld und bietet zudem jede Menge an Fahrspass.
- Viele Biker setzten nach wie vor auf viel PS und Benzin. Gibt es da überhaupt einen Markt für die neue Generation E-Scooter?
Hoher Kraftstoffverbrauch ist bei modernen Motorrädern passé. Kunden würden das heute nicht mehr akzeptieren. Der Elektroantrieb eignet sich unserer Meinung nach besonders für Commuting-Fahrzeuge im urbanen Bereich. Hier genügen Reichweiten von über 100 km für die täglichen Fahrten völlig aus. Der Markt für Elektro-Zweiräder ist heute noch überschaubar. Das wird sich aber ändern. Die Batterien werden günstiger und leistungsfähiger werden, damit wird ein Elektro-Fahrzeug noch attraktiver als es heute schon ist.
- In den pulsierenden Metropolen der Megacitys werden in der Zukunft Parkplätze immer seltener, Sie sprechen von urbaner Mobilität – wie sieht die genau aus?
Weltweit gibt es einen starken Trend in Richtung Urbanisierung, d.h. immer mehr Menschen zieht es in die Metropolen. Das bringt große Herausforderungen für die Infrastruktur einer Großstadt mit sich. Die Städte reagieren mit unterschiedlichen Maßnahmen, um der zunehmenden Verkehrs- und Umweltbelastung vorzubeugen. Neben restriktiven Maßnahmen wie Zufahrtsbeschränkungen oder City-Maut setzt man auch auf E-Mobilität und Zweirad-Fahrzeuge.
Mit dem C evolution bieten wir unseren Kunden eine Lösung an, die in einzigartiger Form emissionsfreies Fahren mit der für BMW typischen Freude am Fahren verbindet.
- Ressourcenknappheit und Umweltschutz – wie reagiert BMW Motorrad in der Forschung auf diese Herausforderungen?
Wir in der BMW Group sind überzeugt, dass wir durch nachhaltiges Wirtschaften die Zukunft unseres Unternehmens sichern. Und so ist es nur folgerichtig, dass Nachhaltigkeit eine zentrale Grundüberzeugung der BMW Group und damit auch von BMW Motorrad ist.
Diese Überzeugung bildet sich entsprechend sowohl in der Produktion unserer Motorräder und Scooter als auch in einer starken Konzentration unserer Vorentwicklung und Entwicklung auf Elektromobilität ab.
- 7. Ein Problem sind nach wie vor die Batterien, die nur eine begrenzte Kilometerzahl ermöglichen und mindestens 3 Stunden an die Steckdose müssen, um wieder neu aufgeladen zu werden. Welche Entwicklungen zeichnen sich auf diesem Sektor ab?
Es ist absehbar, dass sich die Kosten nach unten und die Leistungsfähigkeit nach oben entwickeln. BMW Motorrad hat den immensen Vorteil vom Know how und der Innovationskraft der BMW Group profitieren zu können. So haben wir die Möglichkeit an den zukünftigen Entwicklungen der Speichertechnologie unmittelbar teilzunehmen.
- Für viele hängt die Entscheidung, auf ein Elektromobil umzusteigen, maßgeblich mit an den hohen Preisen. Dies betrifft nicht nur E-Autos, sondern auch E-Motorräder. Die Elektromobilität ist ja schon in den Köpfen der Bevölkerung angekommen, nur für viele sind die Modelle einfach zu teuer. Warum kann man nicht billigere Modelle anbieten und damit mehr Kunden gewinnen?
Leistungsfähige Batterietechnologie ist heute noch sehr teuer. Die Kosten hängen also an den Energiespeichern. Diese Kosten müssen über den Fahrzeugpreis an den Kunden weitergegeben werden. Billige Elektrofahrzeuge erfüllen heute weder bei Reichweite noch bei Qualität und Sicherheit die Anforderungen unserer Kunden.
- Können Sie uns etwas zu den Verkaufszahlen im e-Segment sagen?
Sowohl im Einführungsjahr des C evolution, das noch kein volles Verkaufsjahr war, als auch bis Jahresmitte 2015 liegen wir im Rahmen unserer Planung. Hauptmarkt ist Frankreich.
- „Die urbane Zukunft fährt auf zwei Rädern“ – wie sieht das Motorrad 2020 aus und welche aktuellen, elektrobetriebenen Modelle sind derzeit am Markt?
Heute gibt es eine noch relativ geringe Zahl von Herstellern, die Elektro-Motorräder oder – Scooter in unterschiedlichen Fahrzeugsegmenten anbieten. Dieser Markt steht noch am Anfang einer Entwicklung. Ich denke, auch im Jahr 2020 werden die allermeisten Motorräder und Scooter noch mit umweltfreundlichen Verbrennungsmotoren unterwegs sein. Für BMW Motorrad ist es essentiell, dass das Fahren mit zwei Rädern auch in Zukunft vor allem viel Freude macht. Wir erkennen heute, dass Motorrad-.Fahren wieder deutlich an Attraktivität gewinnt. Wir wollen unsern Teil dazu beitragen, dass die Faszination Motorrad erhalten bleibt.
Und zur Faszination Motorrad wird zukünftig sicher auch das elektrische Motorradfahren gehören.
Im Interview: Stephan Schaller
Fragen: Stefan Groß
Im Interview Jan Fleischhauer – 10 Jahre Merkel
Norbert Blüm hat gegenüber dem „Spiegel“ im Jahr 2000 einmal geäußert „Was mir bei der Merkel gefällt, ist eine Sprache, die nicht so politisch abgelutscht ist wie meine. Sie bringt in diese perfekte Politwelt gelegentlich ein Stück von natürlicher Unbeholfenheit ein“. Was ist davon übrig geblieben?
Blüm hat auf freundliche Art zum Ausdruck gebracht hat, dass man von Angela Merkels Reden nichts in Erinnerung behält. Sie wird sicherlich zu den Kanzlern gehören, bei denen am Ende kein Satz überliefert sein wird, den man mit ihrer Kanzlerschaft verbindet. Als Rednerin ist Merkel ganz furchtbar; es bedarf großer Mühe, ihrem Redefluss aufmerksam zu folgen, wenn sie ein Podium betritt. Dennoch, und das ist interessant, hat sie eine ganz eigene Art gefunden, mit dem Volk zu kommunizieren, und dabei von sich und von ihrer Politik ein klares Bild zu erzeugen. Es ist schwer zu sagen, wie sie die Menschen erreicht, weil ihr ja kaum jemand wirklich zuhört, aber sie erreicht sie ganz offenkundig, sonst hätte sie nicht die Zustimmungsraten, die sie nun einmal hat.
Der Zufall und die Zeitläufte haben Angela Merkel oft geholfen. Max Frisch schrieb einmal „Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt“ – gilt dies auch für die Kanzlerin?
Bei jedem Kanzler gehört Fortune dazu, wenn er den Sumpf des Alltagsgeschäfts verlassen will. Helmut Kohl wäre ohne die Wiedervereinigung nicht in die Reihe derjenigen aufgerückt, die man zu den großen Kanzlern zählt. Wen umgekehrt nie das Glück der Umstände streifte wie den armen Kurt Kiesinger oder den braven Ludwig Erhard, bleibt immer eine mittelmäßige Figur, egal wie tüchtig er war. Im Leben eines Kanzlers ist so gesehen nichts vorteilhafter als die Krise. Erst die Krise gibt der Kanzlerschaft Gestalt; sie sorgt dafür, dass sich alle Augen auf die Person an der Spitze des Gemeinwesens richten. Ob Merkel letztendlich eine große Kanzlerin gewesen sein wird, das lässt sich erst im Rückblick sagen. Aber wenn man die Zahl der Krisen sieht, die in ihre Amtszeit fallen, hat sie schon einmal gute Voraussetzungen.
„Physikerin der Macht“ – so wird sie oft genannt. Die Politik betrachtet sie angeblich wie ein Labor. Die Versuchsanordnung ist dabei oft wichtiger als das Ziel, scheint dieses unrealistisch, wird dieses oft aufgegeben. Was steckt dahinter?
Das Bild von der Physikerin der Macht ist ja fast ein Klischee geworden. Dahinter steht der Versuch, aus der mathematischen Begabung, über die sie unbestreitbar verfügt, bestimmte Charaktereigenschaften abzuleiten. Dass eine Physikerin einen anderen Weltzugang hat als ein Historiker oder Jurist, da ist sicherlich etwas dran, aber meiner Meinung geht in dem Satz von der Physikerin der Macht völlig unter, dass Frau Merkel vor allem eine große Psychologin ist. Auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise wurde sie gefragt, warum sie immer noch mit Wladimir Putin telefoniere, obwohl sie doch wissen müsse, dass er sie in jedem Gespräch anlüge. Ihre Antwort war bezeichnend: Natürlich rede sie weiterhin mit ihm, schließlich sei es doch enorm aufschlussreich, die Weltsicht eines Staatschefs zu hören, die der ihren um 180 Grad entgegengesetzt sei. Sich in die Denkweise anderer Menschen einfühlen zu können, um insgesamt zu einer besseren Lagebeurteilung zu kommen – dies ist aus meiner Sicht eine Eigenschaft der Kanzlerin, die zu selten Erwähnung findet.
Merkels Politikstil – wie würden Sie diesen beschreiben?
Das große, uneingestandene Vorbild ist Helmut Kohl. Merkel hat sich in den Jahren, in denen sie diesem Mammut des Konservatismus als Ministerin diente, mehr von ihm abgeschaut, als vielen bewusst ist. Sie hat seine Art übernommen, die Dinge treiben zu lassen, bis sie sich in die gewünschte Richtung entwickeln. Geduld ist eine in der Politik weithin unterschätzte Tugend. Sie hat von Kohl auch gelernt, wie man mit Feinden und Verrätern verfährt. Sie macht das nicht so spektakulär wie der schwarze Riese, aber am Beispiel von Norbert Röttgen hat man gesehen, dass fortgesetzte Illoyalität auch im System Merkel seinen Preis hat. Und Merkel hat wie Kohl Spaß an der Macht. Sie ist gern Kanzlerin. Viele Kanzler werden von dem Amt zermürbt, man kann auf Bildstrecken sehen, wie sie in atemberaubender Geschwindigkeit altern. Angela Merkel freut sich jeden Tag, dass sie ins Kanzleramt fahren darf, jede Krise ist eine Aufgabe, der sie sich gerne annimmt. Sie findet Konflikte spannend und die Suche nach einer Lösung keine Last, sondern eine intellektuelle Herausforderung, ähnlich einer Denksportaufgabe. Dies erklärt auch, warum sie so erfolgreich ist. Wenn es ein Ziel in ihrem Leben gibt, dann ist es länger zu regieren als der Einheitskanzler.
Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hat einmal bemerkt, dass Frau Merkel es verstanden habe, „dass Menschen zu ihr nicht nur eine intellektuelle, sondern offenbar auch eine emotionale Beziehung empfinden“. Sehen Sie das auch so?
Ein Kanzler, den die Leute als kalten Fisch empfinden, kann sich auf Dauer nicht halten, das war schon immer so. Frau Merkel ist es auf ihre nüchterne Weise gelungen, ein emotionales Band zu schaffen, weil gerade die Art, wie sie redet und agiert als sehr deutsch empfunden wird. Wenn die Deutschen etwas auszeichnet, dann ist das Faible für Common-sense-Politik, also der Wunsch nach jemandem an der Spitze, der die Dinge vernünftig regelt, ohne sich dabei allzu sehr von Gefühlen oder der Rücksichtnahme auf Parteiinteressen leiten zu lassen. Ihre Kritiker treibt das zur Verzweiflung, weil Merkel jeden Konflikt so entschärft, dass am Ende kaum noch etwas übrig bleibt, über das man streiten könnte. In den Feuilletons steht, sie würde die Politik entsaften und damit die Demokratie ihres Blut berauben. Das mag schon sein, aber die Wähler ziehen eine Merkel einem Gabriel, der viel mehr von politischer Leidenschaft getrieben ist, allemal vor.
„Merkel führt nicht, sie moderiert“ und dabei ist sie noch höchst populär – die Mutter der Nation. Als Kanzlerin des Machbaren scheut sie Konflikte. Ist dies das Geheimnis ihres Erfolges?
Auch dies ist ja fast zum Klischee geworden – der Vorwurf, Merkel moderiere nur, so als sei Politik eine große Talkshow. Natürlich führt sie, was erleben wir in Europa den ansonsten gerade? Angela Merkel ist jetzt in einer Phase ihrer Kanzlerschaft angekommen, wo die Außenpolitik einen Großteil ihrer Arbeitszeit einnimmt. Das hängt auch damit zusammen, dass es niemanden in Europa gibt, der über mehr Erfahrung verfügt als sie. Als Alexis Tsipras seinen Antrittsbesuch in Rom machte, in der klaren Hoffnung, mit den Italienern eine neue Südschiene zu begründen, sagte Renzi zu ihm: „Es ist nett, dass Du mich besuchst. Aber wenn ich Du wäre, würde ich schleunigst einen Termin bei der Dame in Berlin machen.” Das Besondere an Frau Merkel ist, dass sie – das hat sie übrigens ebenfalls von Kohl gelernt – nicht vor sich herträgt, wie mächtig sie ist. Sie ist zu großer diplomatischen Bescheidenheit in der Lage, das macht sie zu einer so überragenden Krisenmanagerin.
Viele Ihrer Herausforderer und Konkurrenten blieben im, fast könnte man sagen, angelanischen Zeitalter, auf der Strecke, oder haben ihre Minister- oder andere Ämter zurückgegeben – berühmt ist der „Andenpakt“. Worin sehen Sie das Geheimnis ihrer Macht?
Sie führt eine Partei, die anders als die Sozialdemokratie gewohnt ist, Gehorsam zu leisten. Christdemokratische Kanzler haben es da immer einfacher gehabt. Man denke nur an Brandt, Schmidt und Schröder, die alle an bestimmten Punkt von ihrer Partei verlassen wurden. Merkel ist es gewohnt, dass die Partei ihr folgt. Leute, die es mit der Schlechtrednerei zu toll treiben, werden eliminiert. So ist es in der CDU immer gewesen. Es ist meiner Meinung nach eine falsche Darstellung, das Köpfen von Konkurrenten als Männer-Frauen-Konflikt zu deuten. Unter den Frondeuren, die sich ihrem Aufstieg entgegenstellten, waren nun einmal 95 Prozent Männer. Einer wie Kohl hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. Der hätte es aufgrund der Geschlechtsstruktur der CDU auch nur mit Männern als Gegner zu tun gehabt, das hätte in seinem Fall nur keinen interessiert.
Als einstiges Mädchen von Helmut Kohl hat sich die Kanzlerin die Weltbühne der Politik erobert, die Finanzkrise 2008 gemeistert. Sie ist die mächtigste Frau der Welt, und Sie will die Einheit Europas um jeden Preis. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ dieser Satz ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Ist die Europapolitik Merkels nicht ein Spiegelbild ihres, um es mit Nietzsche zu formulieren, Willens zur Macht?
Man wird nicht Kanzler, wenn man nicht in historischen Kategorien denkt. Wer Kanzler ist, möchte die Welt ja nicht zum schlechteren verändern, sondern im günstigsten Fall in einem besseren Zustand hinterlassen, als er diese vorgefunden hat. Als Kanzlerin diejenige zu sein, unter deren Ägide Europa zusammenbricht, das will Merkel auf jeden Fall vermeiden. Um das zu verhindern, würde sie zur Not morgen sofort ein viertes Rettungspaket für Griechenland schnüren. Aber das hat nichts mit dem Willen zur Macht zu tun, eher mit dem Blick auf das Ende der Machtfülle, die einem verliehen wurde.
Angela Merkel ist im Geist des Protestantismus aufgewachsen mit sozialistischer Sozialisierung! Wieviel DDR steckt denn noch in Angela Merkel?
Ich könnte mir vorstellen, dass die Scheu sich festzulegen, eher typisch für Ostdeutsche ist. Aber in Merkel steckt mehr Protestantismus als DDR. Wenn man ihre Herkunft heranziehen will, um sie zu erklären, dann ist das deutsche Pfarrhaus wichtiger als die Jugend in Templin.
Die Stärken und Schwächen der Bundeskanzlerin, wenn es dazu ein Ranking gebe, wie würden Sie hier eine Einordnung treffen?
Ihre Stärke ist, dass sie nie versucht hat, etwas anderes zu sein, als sie ist. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Politiker versuchen ihre Schwäche zu kompensieren, indem sie diese durch besondere Anstrengung gerade auf dem Gebiet, das ihnen nicht liegt, wett zu machen versuchen. Merkel wollte nie anders sein – sie wollte nie mitreißende Reden halten oder die Leute durch besonderes Charisma von den Stühlen reißen. Sie ist sich einfach treu geblieben, und hat so lange weitergemacht, bis man das, was eben noch als zu unemotional und zu wenig mitreißend galt, zum Merkel-Stil erklärte. Ihre Schwäche ist, dass sie in einer politischen Situation, die sehr aufgeheizt ist, mit einem Gegenspieler, der das Blut der Leute zum Brodeln bringt, große Mühe hätte, die richtige Antwort zu finden. Steinmeier war in seiner bedächtigen Art als Gegenkandidat ideal, Gabriel wäre in seiner Quecksilbrigkeit schon sehr viel schwerer zu begegnen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die politische Auseinandersetzung so merkelmäßig dahin plätschert. Aber das muss nicht so bleiben. In vielen Ländern um uns herum waren die Wahlkämpfe zuletzt sehr hart, auch in Deutschland haben wir schon die Erfahrung mit extrem polarisierenden Wahlen gemacht. Es wäre spannend zu sehen, wie Merkel hätte in so einem veränderten Setting reagieren würde. Ich glaube im Gegensatz zu vielen Beobachtern überhaupt nicht, dass sie unangreifbar ist.
Wie fühlt sich einer, der aus versehen konservativ wur.de, bei der CDU aufgehoben, Mitte, Maß und der Verlust des C werden ihrem Regierungsstil oft vorgeworfen. Wie konservativ ist die CDU unter Merkel?
Natürlich kenne ich die Klagen von Konservativen, dass sie sich in der CDU nicht mehr richtig zuhause fühlen würden. Dazu kann ich nur sagen: Die CDU unter Helmut Kohl war nicht viel konservativer. Die meisten haben es vergessen, aber in der ersten Regierung Kohl saßen Leute wie Rita Süßmuth oder Heiner Geißler, der heute bei Attac herumspringt. Jeder Kanzler zieht in die Mitte, keiner Amt hat sich je im Amt radikalisiert. Wenn sie von links kommen, ziehen sie nach rechts, das nehmen ihnen dann die Linken übel. Kommen sie von rechts, und bewegen sich nach links, sind die Konservativen sauer.
Wie beurteilen Sie – mit Hinblick auf die Flüchtlingsthematik – die zögerliche Haltung der Bundeskanzlerin?
Wenn ich mich richtig erinnere, war sie diejenige, die in ihrer Neujahrsansprache schon deutlich Fremdenfeindlichkeit verurteilt hat, als der Parteivorsitzende der SPD noch den Pegida-Anhängern in Dresden die Hand schüttelte. Wir führen in der Flüchtlingsfrage viel stärker als den europäischen Nachbarn lieb ist. Denen wäre lieber, wir wären in diese Frage deutlich zögerlicher. Der deutsche Sonderweg kann man manchmal erstaunliche Abzweigungen nehmen, wie man sieht.
Bundestagswahl 2017: Die Bundeskanzlerin will ihre vierte Amtszeit! Sind die Deutschen mit ihr zufrieden?
Im Augenblick scheinen die Deutschen mit der Kanzlerin so zufrieden, dass keiner in der Sozialdemokratie, der ernsthafte Ambitionen auf das höchste Regierungsamt hat, gegen sie antreten will. Dies sagt in jedem Fall sehr viel darüber aus, wie ihre Gegner die Erfolgschancen der Bundeskanzlerin für 2017 einschätzen. Und wer bin ich, der Weisheit der deutschen Sozialdemokratie in Frage zu stellen?
Fragen Stefan Groß
Im Interview Jan Fleischhauer mit dem Bayernkurier
Die virtuelle Welt ist mittlerweile zur Realität geworden, so könnte man überspitzt formulieren. Haben Sie Angst vor dem Internet bzw. strukturiert dieses unser Denken neu?
Ich gehöre ja eher nicht zu den Leuten, die ständig von brennender Sorge erfüllt sind, insofern jagt mir auch das Internet wenig Angst ein. Wir haben schon so viele angekündigte Katastrophen überlebt – ich bin sicher, wir werden auch die Online-Revolution mit allen ihren Verheißungen überleben. Außerdem wäre es geradezu komisch, wenn ausgerechnet ich mich über die digitale Welt beklagen würde. Viele Leser kennen mich wegen meiner wöchentlichen Kolumne: Ohne SPIEGEL Online hätte es den “Schwarzen Kanal” nie gegeben.
Durch die Neuen Medien ist ein neuer Meinungspluralismus entstanden, was früher einem erlauchten Kreis an Journalisten vorbehalten war, ist zu einer gigantischen Maschine geworden, die letztendlich auch – mit Blick auf die Flüchtlingsthematik und den allerorts heraufziehenden Rassismus – Gefahren birgt. Einerseits Pressefreiheit – aber zuviel Freiheit führt zu einer neuen Unübersichtlichkeit? Viele fühlen sich durch das Meinungsangebot allein gelassen – es fehlt ein Regulativ!
Das einzige Regulativ, das nach meiner festen Überzeugung auf Dauer funktioniert, ist das Qualitätsbewusstsein der Leser. Bei allem Gerede und Geschimpfe über die sogenannte Mainstream-Presse: Am Ende wissen die meisten, was sie an Zeitungen wie der “Frankfurter Allgemeinen” oder der “Süddeutschen” haben. Die Naiven und Blöden hatten schon immer ihre eigene Informationsquellen. Früher waren das die Groschenheftchen, die sie mit einer alternativen Weltsicht versorgten, heute sind es Seiten wie “Buzzfeed”. Bedenklich wird es, wenn plötzlich auch in bürgerlichen Kreisen obskure Quellen herangezogen werden, um irgendwelche wilden Thesen zu untermauern. Wenn man nach dem Beleg fragt, heißt es: Das stand im Internet. Da hilft nur noch Achselzucken.
Facebook, Twitter, Instagram – gehen wir nicht zu lax mit unseren persönlichen Daten um? Wir geben persönliche Rechte bzw. Daten freiwillig in die Hände von Monopolen – droht uns da möglicherweise nicht in ferner Zukunft eine Monopol-Mediendiktatur, die mit unseren Daten – nicht nur wie bereits mit der gezielten Werbung – spielt und neue Abhängigkeiten schafft? Sehen Sie die Demokratie dadurch bedroht?
Ich weiß nicht, ob gleich die Demokratie bedroht ist. Aber in jedem Fall ist die Medienwelt, wie wir sie kennen, existentiell herausgefordert. Das Paradox dabei ist: Noch nie haben Presseorgane wie der SPIEGEL oder die “FAZ” so viele Leser erreicht. Leider haben die Geschäftsleute im Verlag versäumt, sich beizeiten ein Modell einfallen zu lassen, wie man mit der Online-Nutzung auch Geld verdient. Was die Monopolisierung unserer Daten bei Unternehmen wie Facebook, Google oder Amazon angeht, frage ich mich manchmal, ob wir da nicht einer gigantischen PR-Geschichte erliegen. Angeblich wissen diese Firmen aufgrund der Spuren, die wir bei jeden Besuch im Netz hinterlassen, alles über uns. Das ist das Versprechen, mit diesem sie Unternehmen für sich werben. Ich glaube das gerne, ich wundere mich nur, warum ich bei Facebook immer Videos über russische Auffahrunfälle in meine Timeline eingespielt bekomme. Vielleicht wissen sie ja im Silicon Valley etwas über mich, was ich noch nicht weiß.
Droht uns durch das Internet ein Realitätsverlust, man chattet, verliebt sich – aber der Bezug zur Wirklichkeit wird dadurch eher verschoben, illusionär und oder verzerrt. Virtualität versus lebensweltlicher Pragmatik. Anders gefragt: wohnt der Weltbelieferung ein Stück weit eine Zerstreuungssucht als anthropologische Konstante inne, die die Menschen als Kompensation zur Leere vorm Nichts, vor dem horror vacui?
Die Zerstreuungssucht wird immer neue Zerstreuungsobjekte finden. Jetzt ist es eben das Handy, auf das man ständig schielt. Was hingegen wirklich eine qualitative Änderung bedeutet, ist die Radikalisierung durch das Netz. Ich habe neulich einen Artikel gelesen, indem ein Wissenschaftler vor “radikalen Parallelgesellschaften” sprach, die sich in den sogenannten sozialen Netzwerken etablierten. Das fand ich einen sehr passenden Begriff. Das Internet führt leider nicht nur Menschen zusammen, denen unser Gemeinwesen am Herzen liegt, sondern auch die Hetzer und Irren. Weil sie von Gleichgesinnten bestärkt werden, die ihren Wahnwitz und ihren Hass teilen, haben sie den Eindruck, sie würden einer schweigenden Mehrheit die Stimme verleihen. Am Ende stehen dann Aufmärsche wie in Heidenau, wo mehr oder weniger nüchterne Bürger “Wir sind das Volk” skandieren.
Wie sieht für Sie die mediale Medienlandschaft in den nächsten 20 Jahren aus, schauen wir dann nur noch Netflix, werden wir zu Sklaven des Internets?
Ach, wenn Netflix in Zukunft unser größtes Problem wäre, dann wäre ja alles gut. Ich glaube nicht, dass wir uns um den Zusammenhalt der Gesellschaft Sorgen machen müssen, weil die Leute statt “Polizeiruf” oder irgendwelche Quizsendungen lieber amerikanische Fernsehserien wie sehen. Die einzigen, die heute noch glauben, dass wir ein öffentlich-rechtliches Fernsehsystem brauchen, damit die Menschen nicht verdummen, sind die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Ansonsten halte ich mich Prognosen lieber zurück: Journalisten tun gut daran, wenn sie sich sich hin und wieder daran erinnern, dass sie aus gutem Grund im Beobachtungs- und nicht im Vorhersagegeschäft sind.
Fragen Stefan Groß
„Dieses Mindestlohngesetz war und ist so überflüssig wie ein Kropf“ – Im Gespräch mit Hans Michelbach
Multikonzerne wie beispielsweise Amazon – die Arbeitswelt verändert sich rasant. Was bedeutet dies für den Mittelstand?
Erst einmal bedeutet das einen stark verzerrten Wettbewerb. Der Mittelstand zahlt in Deutschland ordentlich seine Steuern; Konzerne wie Amazon dagegen schieben Gewinne und Verluste solange hin und her, bis praktisch kaum noch eine Steuerlast übrig bleibt. Das verschafft ihnen einen unfairen Vorteil. Hier ist die Politik gefragt. Der Wirtschaftsflügel hat in dieser Frage Dampf gemacht. Der Bundesfinanzminister hat das Thema auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Wir brauchen aber noch raschere Fortschritte.
Ein zentrales Anliegen der bayerischen Politik ist die Stärkung des Mittelstandes und die Förderung des Unternehmertums, hier gibt es eine enge Verzahnung zwischen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Universität. Also Bayern ist gut aufgestellt, wo sehen Sie aber noch Handlungsbedarf? Anders gefragt: Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen, die kleine und mittelständische Unternehmen belasten?
Mit der bayerischen Staatsregierung können wir überwiegend zufrieden sein, was Bayern betrifft. Unsere Probleme liegen mehr auf der Bundesebene. Ich nenne beispielhaft Erbschaftssteuerreform, Flexibilisierung des Renteneintrittsalters nach oben, weiterer Bürokratieabbau. Wir hätten nichts dagegen, wenn es von der Staatsregierung und der CSU in Berlin noch mehr Rückenwind gäbe.Gerade das Thema Entbürokratisierung wird auch auf dem Bayerischen Mittelstandstag Mitte September in Deggendorf eine große Rolle spielen. Wir brauchen automatische Überprüfungen und Verfallsdaten von Gesetzen und Verordnungen. Der Bundestag muss Rechtsverordnungen von den Ministerien wieder „zurückholen“ können. Das wäre eine effektive Waffe gegen Bürokratiemonster
Worin liegen die Stärken mittelständischer Unternehmen und wie kann das Rückgrat der Gesellschaft in Zukunft noch besser gestärkt werden?
Mit mehr als drei Millionen Unternehmen, die mehr als 80 Prozent der Ausbildungsplätze und zwischen 60 und 70 Prozent aller Arbeitsplätze bereitstellen, ist der Mittelstand Rückgrat und Motor der deutschen Volkswirtschaft und des Arbeitsmarktes. Seine großen Stärken sind seine Flexibilität und seine Innovationskraft. Nicht umsonst ist eine besonders erfolgreiche Exportbranche wie der Maschinenbau stark mittelständisch geprägt. Und wenn wir von den hidden champions sprechen, dann geht es sich dabei in aller Regel um mittelständische Firmen. Der Mittelstand wird seine starke Stellung aber nur halten können, wenn man ihm nicht unfaire Lasten aufbürdet oder dem Arbeitsmarkt mutwillig Fachkräfte entzieht.
Kleine und mittlere Unternehmen sind oft innovativer als Großunternehmen, woran liegt das?
Sie sind einfach beweglicher. Die Firmeninhaber sind näher an den Kunden und näher an den Mitarbeitern. Ideen werden schneller umgesetzt. In den technischen orientierten mittelständischen Firmen gehört Tüffeln ganz einfach immer noch zum Selbstverständnis. Das schafft besondere Kompetenz für individuelle Lösungen. Und solche Lösungen werden immer öfter benötigt.
Der Deutsche Mittelstand hinkt bei der Industrie 4.0 noch nach, wie kann dem Abhilfe geschaffen werden? Mehr als ein Drittel der Unternehmer haben keine Digitalstrategie!
Wir sollten unseren Mittelstand nicht schlechter machen als er ist. Ein Blick auf die Messen zeigt: Bei der Industrie 4.0 kann sich unser Mittelstand sehen lassen. Aber der Wettbewerb ist hart. Insgesamt sind die Herausforderungen beim Thema Digitalisierung so breit und so unterschiedlich wie die ganze Breite der mehr als drei Millionen mittelständischen Betriebe.
Wird die Digitalisierung letztendlich nicht mehr Job kosten als sie erschaffen kann?
Diese Furcht wird gern von jenen geschürt, die am liebsten alles beim Alten lassen wollen. Dabei zeigt doch unsere Erfahrung: Wer sich dem Fortschritt verweigert, bleibt am Ende auf der Strecke.
Was bedeutet der demographische Wandel für den Mittelstand?
Demographischer Wandel ist eine langfristige Entwicklung. Was dieser Wandel letztendlich bedeutet, hängt davon ab, wie wir uns darauf einstellen. Wenn wir uns nicht anpassen, bekommen wir Probleme bei der Gewinnung von Fachkräften, bei der Finanzierung unserer Sozialsysteme und vielem mehr. Hier sehe für die erheblichen Handlungsbedarf und Mut zur Veränderung. Demographischer Wandel bedeutet aber auch Wandel der Nachfrageprofile. Ältere Kunden haben andere Bedürfnisse als jüngere. Darauf müssen sich vor allem die Konsumgüterindustrie und der Handel einstellen.
Sie bestehen auf eine Nachbesserung der Erbschaftsreform, wie diese gerade von Bundesminister Wolfgang Schäuble vorgelegt wurde! Welche Nachteile bringt der jetzige Stand der Reform für den Mittelstand und welche Nachbesserungen sind nötig? Die Wirtschaft hat die Reform abgelehnt, weil Familienbetriebe dadurch zu sehr belastet würden. Philipp Graf Lerchenfeld bezeichnete den Gesetzesentwurf in Teilen als „Rückschritt zum Referentenentwurf“.
Es spricht gleich Mehreres gegen die Reformvorlage. Die Erbschaftssteuer greift ins Eigenkapital ein. Dies kann zur Gefahr für Betriebe und Arbeitsplätze werden. Es benachteiligt die inhabergeführten mittelständischen Unternehmen gegenüber den Konzernen, die eben nicht mit einer Erbschaftssteuer belastet sind. Hinzukommt, dass der Gesetzentwurf die Vermögenssteuer durch die Hintertür wieder einführt. Hier versucht die SPD massiv, ihren Sozialneid auszuleben. Ich erwarte vom Bundesfinanzminister und von der Bundeskanzlerin, dass sie die SPD auf Kurs bringen.
Thema Mindestlohn: Trotz Nachbesserungen beim Mindestlohn im Juni 2015 durch das Arbeitsministerium sind viele bayerische Hoteliers und Gastwirte mit dem erhöhten Bürokratieaufwand unzufrieden. Viele mittelständische Unternehmen sehen sich durch das „Bürokratiemonster à la Nahles“ überfordert. Sind wir mit diesem Mindestlohngesetz auf dem richtigen Weg?
Dieses Mindestlohngesetz war und ist so überflüssig wie ein Kropf. Es wird immer ein Bürokratiemonster bleiben. Da helfen auch jüngsten Minimaländerungen nicht. Und anders als die SPD behauptet, haben die Arbeitnehmer praktisch nichts davon. Ihre Gesamteinkommen liegen heute letztlich nicht höher als vorher. Man sollte die Lohnfindung dort lassen, wo sie hingehört: in den Verhandlungen der Tarifparteien.
Immer mehr Mittelständler beklagen sich über den Fachkräftemangel, die Abwanderung Auszubildender in die Großstädte bzw. zu den großen Konzernen, die mit Top-Gehältern werben. Welche Chance hat hier der Mittelstand auf lange Sicht und wie kann man die Position der mittelständischen Unternehmen stärken?
Wir sollten hier nicht in Schwarzmalerei verfallen. Natürlich wird der Wettbewerb um die Fachkräfte härter. Aber die mittelständischen Betriebe in der Fläche stehen so schlecht nicht da. Es zieht Arbeitnehmer und Auszubildende vor allem dann in die Großstädte, wenn die Politik die Fläche vernachlässigt.Die bayerische Staatsregierung fährt hier einen klugen Kurs. Sie stärkt die Fläche und damit auch den Mittelstand. Zum Beispiel durch die dualen Studienangebote, die Fachkräftebedarf und Qualifikation gut miteinander verbinden und gleichzeitig hochwertiges Know-how in die Regionen tragen.Sorge machen wir eher selbsternannte Bildungsexperten, die glauben machen wollen, möglichst alle müssten ein Abitur machen. Der Mensch beginnt aber nicht erst beim Akademiker.
Welche Rolle wird die Gesellschaft 4.0 für den Mittelstand spielen?
Der Mittelstand wird sich einer solchen Entwicklung stellen und sie ebenso erfolgreich meistern wie andere Veränderungen vorher.
Interview mit Ingo Friedrich – Zerbricht Europa?
Mit dem Ehrenpräsidenten des Europäischen Parlamentes, Ingo Friedrich, sprach Stefan Groß über den islamischen Terror in Paris, die Konsequenzen und über die Herausforderungen Europas in den nächsten Jahren.
The European: Erneut hat der islamische Terror in Paris zugeschlagen. Welche Bedeutung hat dies für Europa?
Der Anschlag hat Europa ins Herz getroffen. Er wird natürlich den Graben zwischen Islam und Europa vergrößern. Umso wichtiger ist, dass alle Islamvertreter in Europa unmissverständlich jeglicher Gewalt mit islamistischer Begründung entgegentreten. Auch Imame mit nicht akzeptablen Äußerungen müssen sofort gestoppt werden, um weitere Missleitungen von Jugendlichen zu verhindern.
The European: Wie kann sich Europa gegenüber diesen perfiden Mördern schützen, was unternimmt Europa gegen die Terrorbekämpfung?
Die Außengrenzen der EU müssen strikt kontrolliert werden. Jeder Einreisende muss sich ausweisen, muss registriert werden, muss sich korrekt verhalten. Wer sich unkorrekt verhält, muss sofort ausgewiesen werden. Ansonsten müssen alle Sicherheitsorgane gestärkt werden, um ihre Aufgabe in der bedrohten neuen Situation wahrzunehmen.
„Europa wird daran nicht zerbrechen, aber es gibt Risse, es gibt Flügelbildungen“
The European: Wie steht es gerade um Europa?
Nicht so gut. Bei der Flüchtlingskrise sagen viele Beobachter, dass Europa bei der Verteilung von Flüchtlingen versagt hat. In Wirklichkeit ist es aber so, dass Europa dazu noch gar keine Kompetenzen hat. Die Nationalstaaten lehnen es bisher ab, die Kontingente aufzunehmen. Andererseits steht Europa in der Verantwortung, die Außengrenzen anders zu sichern als bisher. Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union, sei es in Griechenland, sei es in Italien, sichern müssen, so wie es Spanien bereits macht.
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The European: Haben Sie Angst, dass Europa vor dieser Herausforderung zerbricht?
Europa wird daran nicht zerbrechen, aber es gibt Risse, es gibt Flügelbildungen. Eine schöne Entwicklung ist es sicher nicht. Die Herausforderung durch die Flüchtlinge ist offenbar so gigantisch, dass die europäischen Organe bisher nicht so antworten können, wie wir uns das erwarten. Die Zusammenarbeit aller nationalen Sicherheits- und Polizeiorgane muss intensiviert werden.
The European: Wie wird die Rolle der Bundeskanzlerin in Brüssel wahrgenommen?
Der Bundeskanzlerin macht man den Vorwurf, dass sie durch ihre Äußerung, die Grenzen ein paar Tage aufzumachen, gewisse Erwartungen geweckt hat. Damit bietet sie natürlich eine Angriffsfläche. Und alle können jetzt darauf hinweisen, es sei die Bundeskanzlerin gewesen, die diesen Flüchtlingsstrom in Richtung Deutschland ausgelöst hat. Der wäre aber meiner Meinung nach genauso gelaufen auch ohne diese Äußerung. Durch eine konkrete Politik muss nun eine Reduzierung der Zuwanderung erreicht werden.
The European: Die Schweiz wählte konservativ, Polen und Ungarn sowieso. Haben Sie Angst vor einem Rechtsruck?
Ich würde es weniger als Rechtsruck, eher als Signal eines nationalen Egoismus betrachten. Da gibt es eine historische Parallele: Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war es nämlich ähnlich. Eine schwache Zentralgewalt, damals der Kaiser, stand den harten und nachhaltig kämpfenden Kurfürsten gegenüber. Hier sehe ich eine gewisse Parallele zwischen dem Europa von 800 nach Christus bis 1806 und dem heutigen Europa – dies alles geht aber zulasten eines gemeinsamen europäischen Agierens auf globaler Ebene.
The European: Wird derzeit über eine Lösung bei der Flüchtlingsfrage diskutiert, die von allen EU-Mitgliedern akzeptiert werden kann?
Das ist sehr schwer, denn Staaten wie zum Beispiel Polen sind bisher überhaupt nicht daran gewöhnt, islamische Bürger aufzunehmen. Sie werden sich deshalb leider weigern, diese Aufnahme zu akzeptieren. Andererseits werden auch diese Länder auf Dauer nicht darum herumkommen, einem europäischen Gesamtkonzept zustimmen zu müssen. Denn die Polen oder andere osteuropäische Staaten, auch Dänemark, brauchen ihrerseits die europäische Solidarität, sodass sie auf Dauer einen gewissen Solidaritätsbeitrag – auch bezüglich der Flüchtlinge – leisten werden müssen.
The European: Sie sprechen oft vom „europäischen“ Menschen, was haben wir denn darunter zu verstehen?
Der europäische Mensch ist natürlich nicht gescheiter als andere Menschen, aber ich will damit zum Ausdruck bringen, dass wir, wenn das Projekt Europa erfolgreich bleiben soll, dieses Europa auch vom Herzen her anders beurteilen müssen. Dazu würde gehören, dass neben der regionalen und der nationalen Identität ein europäisches Empfinden, eine europäische Identität dazukommt. Und diese additive europäische Identität habe ich mit dem „europäischen Menschen“ versucht zu beschreiben.
The European: Nun isoliert sich Deutschland vom Kurs anderer EU-Staaten mit seiner Politik der Willkommenskultur. Wie wird sich die Position der Bundesrepublik innerhalb der EU vom jetzigen Standpunkt aus entwickeln?
Deutschland hat als wirtschaftlich erfolgreiches (von der Bevölkerungszahl und von der Wirtschaftskraft her größtes europäisches) Land immer eine besondere Rolle gespielt, die bisher auch gut angenommen worden ist. In der jetzigen Phase ist es sehr schwer, eine Brücke zwischen der notwendigen und erwünschten Führungsrolle Deutschlands und gleichzeitig der Akzeptanz der Sensibilitäten und unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der anderen Nationalstaaten zu bauen. Diese Brücke zu schlagen, ist kompliziert. Ich bin mir aber sicher, wenn sich Frankreich, Italien und Deutschland auf eine gemeinsame Agenda verständigen, hat dies eine zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung Europas.
The European: Nun gibt es in Bayern einen Sonderweg von Herrn Horst Seehofer! Wie wird denn dieses Eigeninteresse beziehungsweise Partikularinteresse innerhalb der Bundesrepublik in Europa wahrgenommen?
Die europäischen Partner machen keinen so großen Unterschied zwischen Deutschland und Bayern. Natürlich weiß man in Brüssel und Straßburg, dass die meisten Flüchtlinge an der bayerischen Grenze ankommen, Bayern besonders betroffen ist und deswegen besonders berechtigt ist, eine Lösung einzufordern. Es herrscht Konsens darüber, dass Lager an der bayerisch-österreichischen Grenze nicht sehr sinnvoll erscheinen. Aber wenn die Europäische Union es nicht schafft, an den Außengrenzen solche Transitzonen zu installieren, dann werden die Nationalstaaten handeln müssen. Wir kennen gigantische Flüchtlingseinrichtungen aus Palästina, Zeltstädte mit über 100.000 Menschen, die über Jahre mehr oder weniger schlecht oder recht funktionieren. Solche Aktivitäten an den Außengrenzen der Europäische Union sind wahrscheinlich unvermeidbar.
„Europäer denken und erwarten, dass Merkel Kanzlerin bleibt“
The European: Es wird derzeit über Merkels Nachfolge spekuliert. Ist es auch ein Thema in der Europäischen Union? Also Schäuble als möglicher Kandidat?
Nein, die Europäer denken und erwarten, dass Frau Merkel, trotz dieser zeitweiligen Schwierigkeiten und zeitweiligen Unstimmigkeiten, Kanzlerin bleibt.
The European: Wo sehen Sie die großen Herausforderungen auf finanzieller, politischer und gesellschaftlicher Ebene für die Europäische Union?
Ich glaube, die größten Herausforderungen sind im Bereich der mentalen und der Informationsebene bei den Bürgern zu sehen. Die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen, sind so dramatisch übergreifend, dass die Erwartungen, die wir an die Bürger hinsichtlich der Akzeptanz und des Erlernens dieser neuen Komplexitäten stellen, sehr anspruchsvoll sind. Ich sehe die größten Herausforderungen beim Informieren der Bürger: Was bedeutet heute Digitalisierung, was bedeutet heute Globalisierung mit offenen Grenzen, was bedeutet es, dass unkalkulierbare Bewegungen in Afghanistan unmittelbare Auswirkungen auf Deutschland haben? Dies alles zu verstehen und in einen Gesamtkontext einzuordnen, ist die größte Herausforderung.
Finanziell und wirtschaftlich sehe ich die Herausforderung derzeit als bewältigbar an. Was darüber hinaus eine große Problematik sein wird, ist der kulturelle Aspekt. Hier dürfen wir nicht von den mühsam gelernten Grundwerten Europas abweichen: der Trennung von Staat und Kirche, der Religionsfreiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Hinzukommt: Für nicht grundlegende Religionsregeln gilt der Grundsatz: Landesrecht bricht Religionsrecht. Diese vier zentralen Grundsätze dürfen an keiner Stelle tangiert, geschweige denn abgeschwächt werden. Dies durchzusetzen, wird die zweite ganz große Herausforderung sein.
The European: Europa ist als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft autonom. Aber inwieweit sind wir dann doch abhängig von Amerikanern und Russen?
Das globale Spiel wird sehr eng, weil die Welt kleiner geworden ist. Es gab einmal ein Bild, dass die drei, USA, Russland und Europa, wie ein Schmetterling sein würden. Europa, der Körper des Schmetterlings, in der Mitte, Amerika der Flügel links, und Russland der Flügel rechts. Es gibt heute die Notwendigkeit eines Zusammenspiels, einer Zusammenarbeit. Wir sehen das in allen Teilen der Welt, sei es in Syrien, sei es in der Ukraine. So schwer es uns fällt, wir müssen mit diesen beiden anderen Giganten zusammenarbeiten. Was wahrscheinlich aber das Wichtigste ist: dass wir als Europäer – in entsprechender Zusammenarbeit der 28 Staaten – es lernen müssen, in einer ähnlichen Liga spielen zu können wie die anderen beiden. Nur so können wir als werdende Supermacht wahrgenommen werden und in dieser Rolle auch unsere Meinungen für die globale Stabilisierung – neben den Amerikanern und Russen – einbringen.
The European: Nationales und europäisches Denken stehen sich oft isoliert gegenüber. Wird es nicht für die europäische Idee immer schwieriger, wenn immer weniger Leute Interesse für dieses Europa bekunden und sich mehr auf ihr nationalstaatliches Denken fokussieren?
Es ist eine sehr schwierige Sache, dass die Bürger durch zu wenig Information, aber auch durch mangelnde personelle europäische Identifizierungsmöglichkeiten, zu wenig wissen, welche unschätzbaren Vorteile die Zusammenarbeit der europäischen Staaten mit sich bringt. Vielleicht haben wir Europäer auch „einen gewissen Fehler“ begangen. Wir haben vor lauter Sorge, das „Kind Europa“ könnte Schaden erleiden, immer nur die Vorteile betont. Wir hätten vielleicht glaubwürdiger auftreten können, wenn wir auch gesagt hätten, dass jede Zusammenarbeit auch Nachteile hat, so wie jedes Medikament auch ungewollte Nebenwirkungen hat, ja sogar wie jede Ehe auch Nachteile mit sich bringt. So ist es unvermeidbar, dass die europäische Zusammenarbeit auch Probleme mit sich bringt. Die Realität Europas bedeutet: Ja, es gibt auch Nachteile, aber die Vorteile der Zusammenarbeit überwiegen deutlich.
The European: Derzeit werden die Flüchtlingszahlen permanent nach oben korrigiert. Eine Aufnahmekapazitätsgrenze, eine konkrete Zahl, wird dabei nicht genannt. Wo würde diese Ihrer Meinung nach liegen? Wie viele Flüchtlinge verträgt Europa?
Das ist die Frage aller Fragen. Diese kann aber im Augenblick noch nicht wirklich definiert werden. Definieren lässt sich aber, von welchen Kautelen die Obergrenze abhängt! Es hängt davon ab, welche Aufnahmekapazität die Nationalstaaten neben Deutschland zur Verfügung stellen. Was sind diese bereit aufzunehmen? Das ist eine sehr zentrale Aufgabe. Zweitens, welche Aufnahmekapazitäten gibt es in den Ländern, die zwischen Deutschland und der Außengrenze liegen, welche sind dort realistisch? Und der dritte Aspekt ist, dass die Dimensionen der heutigen Flüchtlingszahlen in dieser Größenordnung auf Dauer nicht bewältigbar sind. Es muss alles gemacht werden, dass die Zahl der 2016 zu erwartenden Flüchtlinge deutlich unter der von 2015 liegt. Wenn wir aktuell von einer Million reden, dann sehe ich im nächsten Jahr höchstens eine Aufnahmekapazität in halbierter Größe.
The European: Kann in Europa das bisher fast immer praktizierte Einstimmigkeitserfordernis bei strittigen Entscheidungen beibehalten werden?
Einmal ist ja das Einstimmigkeitserfordernis bei der Durchsetzung der kleineren Anzahl von 120.000 Flüchtlingen durchbrochen worden. Da ist mit Mehrheiten entschieden worden. Ein funktionsfähiges, staatsähnliches Gebilde kann auf Dauer nicht mit Einstimmigkeit optimal funktionieren. Denn damit würden wir immer gegenüber den anderen Giganten – China, Russland und Amerika – zurückfallen. Wir müssen bereit sein zu akzeptieren, dass es – so selten wie möglich – auch zu Entscheidungen mit Mehrheiten kommt, zumal es in den Verträgen so vorgesehen ist.
The European: Sprechen wir über die Zukunft Europas – wie sieht Europa in 20 Jahren aus?
Ich erwarte mir trotz aller Probleme eine größere Staatsähnlichkeit der europäischen Entwicklung. Die Themen werden immer mehr die Tendenz haben, national allein nicht mehr lösbar zu sein. Und wenn sie national nicht mehr gelöst werden können, dann muss es europäisch gemacht werden. Ich erwarte aber, dass es, um es drastischer zu sagen, noch mehr kracht, blitzt und donnert als bisher, dass europäische Entscheidungen häufiger als heute mit Nachtsitzungen und unter dramatischen Bedingungen zustande kommen. Die Fakten sind einfach so: Auch die Schweiz und Norwegen übernehmen ohne Murren permanent Gesetze aus Europa. Sie haben dabei aber das Gefühl, sie seien souverän, was sie praktisch gar nicht mehr sind.
„Brexit wäre schlimmer als Grexit“
The European: Grexit oder Brexit. Dieses große Thema, das seit Monaten Europa aufgerüttelt und zu heftigen Streitigkeiten unter Staatspräsidenten und Wirtschaftsministern geführt hat, ist ja mittlerweile durch die Flüchtlingskrise überlagert, verdrängt und aus dem medialen Diskus fast verschwunden. Wie sieht denn da die Zukunft Griechenlands Ihrer Meinung nach aus?
Brexit wäre schlimmer als Grexit. Die Wahrscheinlichkeit ist aber, dass die Griechen dableiben – trotz mangelnder Reformbereitschaft, und dass die Engländer knapp entscheiden werden. Die Realität wird dann jedoch insofern abgefedert, dass selbst bei einem Brexit, beim Austritt der Briten, ein jahrelanger Scheidungsprozess anstehen wird. Es würde ja nicht von heute auf morgen ein Bruch entstehen. Es würde genauso wie bei einem Beitritt das Ausfädeln in verschiedenen Verträgen behandelt werden müssen, wo man versucht, alles wieder auseinanderzudröseln, sei es beim Binnenmarkt oder bei anderen Verträgen.
Ein Austritt wäre kein Paukenschlag, sondern würde sich auch in der Realität als langsamer Prozess darstellen. Wenn die Engländer feststellen, was es bedeutet: nach drei, vier Jahren, eventuell sogar bevor es dann zum echten Bruch führen würde, wäre sogar ein Zurück in die EU möglich. Ich erwarte bei England eher eine langfristige Diskussion.
The European: Was wäre eigentlich so schlimm, wenn Griechenland aus der Europäischen Union austritt?
Das wäre nicht so schlimm. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gering. Brexit wäre schlimmer als Grexit.
Das Gespräch führte Stefan Groß
„Kino wird für mich niemals ein Auslaufmodell sein!“ Interview mit Bettina Reitz
Die Medienmanagerin, Filmproduzentin und Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film München, Bettina Reitz, spricht mit Stefan Groß über die Zukunft des Kinos in einer digitalisierten Welt und fordert mehr künstlerische Kreativität durch eine faire Finanzierung.
The European: Frau Reitz, von Ihrem neuen Büro in der HFF München schweift der Blick über das Münchner Kunstareal. Inspirierend für Ihre Zukunftspläne als neue Präsidentin dieser renommierten Filmhochschule?
Auf jeden Fall! In direkter Nachbarschaft wartet eine spannende Mischung aus Kunst, Kultur und Wissen nur darauf, sich inhaltlich mit uns auszutauschen und zu kooperieren. Damit erschließen sich für uns Welten über Film und Fernsehen hinaus; wie aktuell beispielsweise in einer Kooperation mit der Technischen Universität München zum Thema Gaming.
The European: Ist das Erschließen solcher neuer Welten auch deshalb so wichtig, weil Kino und Fernsehen schon als Auslaufmodelle gelten?
Kino wird für mich niemals ein Auslaufmodell sein. Es ist der Kinofilm, an dem sich Fernsehfilme und Serien weltweit messen lassen müssen. Er setzt die qualitativen und handwerklichen Maßstäbe, egal wie viele Entwicklungen uns in der digitalen Welt momentan begegnen! Das Fernsehen ist jetzt schon in einem spürbaren Wandel, und da wird noch einiges passieren. Die junge Generation kennt Fernsehen, wie wir es nutzen, schon heute nicht mehr. Meinem Sohn oder den Studierenden kann ich nicht erklären, dass sie jetzt ein tolles Programm verpasst haben, weil sie nicht zu einer bestimmten Zeit vor dem Fernseher saßen – dafür haben sie kein Verständnis, weil sie schon längst zu einem anderen Nutzer-Verhalten übergegangen sind. Vor allem das Fernsehen und die digitale Welt haben den Markt der unbegrenzten Möglichkeiten weit aufgestoßen. Neben den Kinoformen gibt es unzählige Formate, im Event- und Serienerzählen aufzufallen. Einerseits treibt uns die technische Entwicklung vor sich her, andererseits eröffnet sie ungeahnte Möglichkeiten und Herausforderungen für uns.
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Kreative Entwickler sind unsere Zukunft
The European: Sparmaßnahmen stehen auf der Tagesordnung von ARD und ZDF, wie kann man den Spagat zwischen Sparen einerseits und anspruchsvoller Fernsehkultur andererseits überbrücken?
Ich sehe es allgemeiner: Das Zusammenspiel zwischen Sendern und Förderern auf der einen Seite, und den Kreativschaffenden auf der anderen Seite, knirscht. Verleih- und Sender-Interessen sind nicht kompatibel! Es geht hier nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Feststellung, dass das Geld für so viele Filme nicht reicht und zu viele Filme, zumindest im Kino, nicht erfolgreich genug sind. Die Qualität der Bücher und Produktionen muss hierbei genauso streng überprüft werden, wie eine kalkulationsgerechte und faire Finanzierung. Auch und gerade in Zeiten digitaler Realität sollten wir uns zu einer starken Kultur- und Filmlandschaft bekennen! Die kreativen Entwickler in diesem Land sind unsere Zukunft und das schließt ohne Wenn und Aber die Künstler ein. Sender und Förderer müssen die Entwicklung von Drehbüchern finanziell besser ausstatten und den Produzenten bei ihren Entwicklungen und Produktionen helfen.
The European: Deutschland wird immer älter. Sie kritisieren zu Recht, dass der demographische Wandel letztendlich dafür verantwortlich ist, dass sich viele Jugendliche vom Öffentlichen Fernsehen verabschieden und Alternativen beispielsweise bei amerikanischen Angeboten suchen und ins Internet wechseln. Wie ist dem telegenen Generationenkonflikt zu begegnen?
Die öffentlich-rechtlichen Anbieter unternehmen große Anstrengungen, um auch in diesen Zielgruppen ernst genommen zu werden. Ich sehe es dennoch skeptischer, da „Programmangebote für Alle“ oftmals gleichbedeutend ist mit „Programmangeboten für ältere Zielgruppen“. Junge Menschen bewegen sich in kleinen, fragmentierten Interessengruppen und wollen mit ihren Film- und Fernsehinteressen gerne in Grenzbereiche vordringen. Die sind aber nicht unbedingt Mainstream und FSK 12. Die Generation, die wir bei uns ausbilden, wird in einem veränderten Markt neue Chancen vorfinden, sich darin aber auch behaupten müssen. Neue Sehgewohnheiten sind eine Sache. Eine andere ist die Entwicklung von Geschichten, die bestenfalls Menschen weltweit begeistern, weil sie existentielle Themen behandeln. Hier müssen wir auch groß und international denken dürfen!
Neue berufliche Möglichkeiten
The European: Was muss die Ausbildung an einer Filmhochschule wie der HFF München leisten, damit hier die Erfolgsgeschichten von Morgen erzählt werden?
Sie muss das Vertrauen in die eigene kreative Kraft stärken und erreichen, dass ein starkes Team und eine gemeinsame Vision mit einer Sicherheit über das Was und Wie der Gestaltung einhergehen. Einer Sicherheit um die Wirkung, die filmische Ausdrucks- und Sogkraft, die man als Filmemacher erreichen will. Es geht um das Bewusstsein meiner filmischen Wirkungsmöglichkeiten. Dafür sind ganz verschiedene Bereiche des Studiums wichtig: Die Vermittlung von Basiswissen aus den Bereichen Technik und Medienwissenschaft. Die künftig noch stärker verzahnte Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen, die Spiel- und Dokumentarfilmregisseure, Produzenten, Drehbuchautoren und Kameraleute ausbilden. So dass Teams mit gegenseitigem Respekt vor und Verständnis für die unterschiedlichen Talente entstehen, die im Idealfall weit über die Studienzeit hinaus zusammenarbeiten. Hinzu kommen professionelle Angebote in der Lehre über neue Lehrstühle wie Montage oder VFX oder künftig seriellem Erzählen. Und das Erkennen und Aufzeigen neuer beruflicher Möglichkeiten für unsere Studierenden, die sich mit dem Wandel des Fernsehens vielleicht gerade erst abzeichnen. Das müssen wir in die Ausbildung mit einbeziehen und selbst Trends setzen für unsere künftigen Absolventen.
The European: Dann sollen die künftigen Absolventen also nicht alle möglichst viele Oscars gewinnen?
Solche großen Preise wie der Oscar sind etwas ganz Besonderes. Ich selbst werde die Erfahrungen rund um den Oscar für „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck, an dem ich als BR-Ko-Produzentin unmittelbar beteiligt war, niemals vergessen. Aber ich weiß, dass dies eine Ausnahme war. Und ich weiß auch, dass man Filme, Ideen und die hier sprudelnde Kreativität nicht daran messen darf. Unsere Studierenden sollen den Markt prägen, mit gestalten und verändern. Aber sie sollen dabei nicht an Preise denken, sondern an Geschichten, die eine Kraft besitzen, und die sie so umsetzen können, dass ihr filmisches Werk weltweit beeindruckt.
The European: Oft heißt es ja zum Filmnachwuchs nur noch, in Deutschland würde zu viel davon ausgebildet. Und dem gegenüber stehe zu wenig Vielfalt; zu viel Fernsehen im Kino, zu wenig große Kinogeschichten.
Diesen Vorwürfen müssen sich alle Filmhochschulen kritisch stellen. Woran krankt
der Kinofilm hierzulande und was müssen wir konkret tun, um ihm zu helfen?
Das ist keine Einzelaufgabe, sondern ein gewaltiges Gemeinschaftsprojekt, das wir zusammen mit der Filmbranche und der Politik unbedingt angehen und zum Erfolg führen müssen. Kino ist ein wichtiges Kulturgut und bindet in der Gemeinschaft Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen. Das ist gerade in diesen Zeiten eine enorm wichtige integrative Chance.
Fragen: Stefan Groß
Sie ist der zur Macht gewordene Protestantismus – Interview mit Jan Fleischhauer
Der Journalist und Bestsellerautor Jan Fleischhauer äußert sich im Gespräch mit Stefan Groß über Angela Merkels Politik der Mitte und ihre Art, zu kommunizieren. Am Ende, so prognostoziert Fleischhauer, wird wenig übrigbleiben von den Inhalten, die diese Bundeskanzlerin vermittelt.
The European: Herr Fleischhauer, erinnern wir uns. Norbert Blüm hatte gegenüber dem „Spiegel“ im Jahr 2000 einmal geäußert: „Was mir bei der Merkel gefällt, ist eine Sprache, die nicht so politisch abgelutscht ist wie meine. Sie bringt in diese perfekte Politwelt gelegentlich ein Stück von natürlicher Unbeholfenheit ein“. Was ist davon übriggeblieben?
Fleischhauer: Blüm hat auf freundliche Art zum Ausdruck gebracht hat, dass man von Angela Merkels Reden nichts in Erinnerung behält. Sie wird sicherlich zu den Kanzlern gehören, bei denen am Ende kein Satz überliefert sein wird, den man mit ihrer Kanzlerschaft verbindet. Als Rednerin ist Merkel ganz furchtbar; es bedarf großer Mühe, ihrem Redefluss aufmerksam zu folgen, wenn sie ein Podium betritt. Dennoch, und das ist interessant, hat sie eine ganz eigene Art gefunden, mit dem Volk zu kommunizieren, und dabei von sich und von ihrer Politik ein klares Bild zu erzeugen. Es ist schwer zu sagen, wie sie die Menschen erreicht, weil ihr ja kaum jemand wirklich zuhört, aber sie erreicht sie ganz offenkundig, sonst hätte sie nicht die Zustimmungsraten, die sie nun einmal hat.
The European: Der Zufall und die Zeitläufte haben Angela Merkel oft geholfen. Max Frisch schrieb einmal: „Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt“ – gilt dies auch für die Kanzlerin?
Fleischhauer: Bei jedem Kanzler gehört Fortune dazu, wenn er den Sumpf des Alltagsgeschäfts verlassen will. Helmut Kohl wäre ohne die Wiedervereinigung nicht in die Reihe derjenigen aufgerückt, die man zu den großen Kanzlern zählt. Wen umgekehrt nie das Glück der Umstände streifte wie den armen Kurt Kiesinger oder den braven Ludwig Erhard, bleibt immer eine mittelmäßige Figur, egal wie tüchtig er war. Im Leben eines Kanzlers ist so gesehen nichts vorteilhafter als die Krise. Erst die Krise gibt der Kanzlerschaft Gestalt; sie sorgt dafür, dass sich alle Augen auf die Person an der Spitze des Gemeinwesens richten. Ob Merkel letztendlicheine große Kanzlerin gewesen sein wird, das lässt sich erst im Rückblick sagen. Aber wenn man die Zahl der Krisen sieht, die in ihre Amtszeit fallen, hat sie schon einmal gute Voraussetzungen.
Frau Merkel ist vor allem eine große Psychologin
The European: „Physikerin der Macht“ – so wird sie oft genannt. Die Politik betrachtet sie angeblich wie ein Labor. Die Versuchsanordnung ist dabei oft wichtiger als das Ziel. Scheint dieses unrealistisch, wird es oft aufgegeben. Was steckt dahinter?
Fleischhauer: Das Bild von der Physikerin der Macht ist ja fast ein Klischee geworden. Dahinter steht der Versuch, aus der mathematischen Begabung, über die sie unbestreitbar verfügt, bestimmte Charaktereigenschaften abzuleiten.Dass eine Physikerin einen anderen Weltzugang hat als ein Historiker oder Jurist, da ist sicherlich etwas dran, aber meiner Meinung geht in dem Satz von der Physikerin der Macht völlig unter, dass Frau Merkel vor allem eine große Psychologin ist. Auf dem Höhepunkt der Ukrainekrise wurde sie gefragt, warum sie immer noch mit Wladimir Putin telefoniere, obwohl sie doch wissen müsse, dass er sie in jedem Gespräch anlüge. Ihre Antwort war bezeichnend: Natürlich rede sie weiterhin mit ihm, schließlich sei es doch enorm aufschlussreich, die Weltsicht eines Staatschefs zu hören, die der ihren um 180 Grad entgegengesetzt sei. Sich in die Denkweise anderer Menschen einfühlen zu können, um insgesamt zu einer besseren Lagebeurteilung zu kommen – dies ist aus meiner Sicht eine Eigenschaft der Kanzlerin, die zu selten Erwähnung findet.
The European: Merkels Politikstil – wie würden Sie den beschreiben?
Fleischhauer: Das große, uneingestandene Vorbild ist Helmut Kohl. Merkel hat sich in den Jahren, in denen sie diesem Mammut des Konservatismus als Ministerin diente, mehr von ihm abgeschaut, als vielen bewusst ist. Sie hat seine Art übernommen, die Dinge treiben zu lassen, bis sie sich in die gewünschte Richtung entwickeln. Geduld ist eine in der Politik weithin unterschätzte Tugend. Sie hat von Kohl auch gelernt, wie man mit Feinden und Verrätern verfährt. Sie macht das nicht so spektakulär wie der schwarze Riese, aber am Beispiel von Norbert Röttgen hat man gesehen, dass fortgesetzte Illoyalität auch im System Merkel seinen Preis hat. Und Merkel hat wie Kohl Spaß an der Macht. Sie ist gern Kanzlerin. Viele Kanzler werden von dem Amt zermürbt, man kann auf Bildstrecken sehen, wie sie in atemberaubender Geschwindigkeit altern. Angela Merkel freut sich jeden Tag, dass sie ins Kanzleramt fahren darf, jede Krise ist eine Aufgabe, der sie sich gerne annimmt. Sie findet Konflikte spannend und die Suche nach einer Lösung keine Last, sondern eine intellektuelle Herausforderung, ähnlich einer Denksportaufgabe. Dies erklärt auch, warum sie so erfolgreich ist. Wenn es ein Ziel in ihrem Leben gibt, dann ist es länger zu regieren als der Einheitskanzler.
The European: Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hat einmal bemerkt, dass Frau Merkel es verstanden habe, „dass Menschen zu ihr nicht nur eine intellektuelle, sondern offenbar auch eine emotionale Beziehung empfinden“. Sehen Sie das auch so?
Fleischhauer: Ein Kanzler, den die Leute als kalten Fisch empfinden, kann sich auf Dauer nicht halten, das war schon immer so. Frau Merkel ist es auf ihre nüchterne Weise gelungen, ein emotionales Band zu schaffen, weil gerade die Art, wie sie redet und agiert als sehr deutsch empfunden wird. Wenn die Deutschen etwas auszeichnet, dann ist das Faible für Common-sense-Politik, also der Wunsch nach jemandem an der Spitze, der die Dinge vernünftig regelt, ohne sich dabei allzu sehr von Gefühlen oder der Rücksichtnahme auf Parteiinteressen leiten zu lassen. Ihre Kritiker treibt das zur Verzweiflung, weil Merkel jeden Konflikt so entschärft, dass am Ende kaum noch etwas übrig bleibt, über das man streiten könnte. In den Feuilletons steht, sie würde die Politik entsaften und damit die Demokratie ihres Blut berauben. Das mag schon sein, aber die Wähler ziehen eine Merkel einem Gabriel, der viel mehr von politischer Leidenschaft getrieben ist, allemal vor.
Eine überragende Krisenmanagerin
The European: „Merkel führt nicht, sie moderiert“ und dabei ist sie noch höchst populär – die Mutter der Nation. Als Kanzlerin des Machbaren scheut sie Konflikte. Ist dies das Geheimnis ihres Erfolges?
Fleischhauer: Auch dies ist ja fast zum Klischee geworden – der Vorwurf, Merkel moderiere nur, so als sei Politik eine große Talkshow. Natürlich führt sie, was erleben wir in Europa den ansonsten gerade? Angela Merkel ist jetzt in einer Phase ihrer Kanzlerschaft angekommen, wo die Außenpolitik einen Großteil iher Arbeitszeit einnimmt. Das hängt auch damit zusammen, dass es niemanden in Europa gibt, der über mehr Erfahrung verfügt als sie. Als Alexis Tsipras seinen Antrittsbesuch in Rom machte, in der klaren Hoffnung, mit den Italienern eine neue Südschiene zu begründen, sagte Renzi zu ihm: „Es ist nett, dass Du mich besuchst. Aber wenn ich Du wäre, würde ich schleunigst einen Termin bei der Dame in Berlin machen.” Das Besondere an Frau Merkel ist, dass sie – das hat sie übrigens ebenfalls von Kohl gelernt – nicht vor sich herträgt, wie mächtig sie ist. Sie ist zu großer diplomatischen Bescheidenheit in der Lage, das macht sie zu einer so überragenden Krisenmanagerin.
The European: Angela Merkel ist im Geist des Protestantismus aufgewachsen mit sozialistischer Sozialisierung! Wie viel DDR steckt denn noch in Angela Merkel?
Fleischhauer: Ich könnte mir vorstellen, dass die Scheu, sich festzulegen, eher typisch für Ostdeutsche ist. Aber in Merkel steckt mehr Protestantismus als DDR. Wenn man ihre Herkunft heranziehen will, um sie zu erklären, dann ist das deutsche Pfarrhaus wichtiger als die Jugend in Templin.
The European: Die Stärken und Schwächen der Bundeskanzlerin, wenn es dazu ein Ranking gebe, wie würden Sie hier eine Einordnung treffen?
Fleischhauer: Ihre Stärke ist, dass sie nie versucht hat, etwas anderes zu sein, als sie ist. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Politiker versuchen ihre Schwäche zu kompensieren, indem sie diese durch besondere Anstrengung gerade auf dem Gebiet, das ihnen nicht liegt, wettzumachen versuchen. Merkel wollte nie anders sein – sie wollte nie mitreißende Reden halten oder die Leute durch besonderes Charisma von den Stühlen reißen. Sie ist sich einfach treu geblieben, und hat so lange weitergemacht, bis man das, was eben noch als zu unemotional und zu wenig mitreißend galt, zum Merkel-Stil erklärte. Ihre Schwäche ist, dass sie in einer politischen Situation, die sehr aufgeheizt ist, mit einem Gegenspieler, der das Blut der Leute zum Brodeln bringt, große Mühe hätte, die richtige Antwort zu finden. Steinmeier war in seiner bedächtigen Art als Gegenkandidat ideal, Gabriel wäre in seiner Quecksilbrigkeit schon sehr viel schwerer zu begegnen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die politische Auseinandersetzung so merkelmäßig dahinplätschert. Aber das muss nicht so bleiben. In vielen Ländern um uns herum waren die Wahlkämpfe zuletzt sehr hart, auch in Deutschland haben wir schon die Erfahrung mit extrem polarisierenden Wahlen gemacht. Es wäre spannend zu sehen, wie Merkel in so einem veränderten Setting reagieren würde. Ich glaube im Gegensatz zu vielen Beobachtern überhaupt nicht, dass sie unangreifbar ist.
Unter Kohl war die CDU nicht konservativer
The European: Wie fühlt sich einer, der aus Versehen konservativ wurde, bei der CDU aufgehoben, Mitte, Maß und der Verlust des „C“ werden ihrem Regierungsstil oft vorgeworfen. Wie konservativ ist die CDU unter Merkel?
Fleischhauer: Natürlich kenne ich die Klagen von Konservativen, dass sie sich in der CDU nicht mehr richtig zu Hause fühlen würden. Dazu kann ich nur sagen: Die CDU unter Helmut Kohl war nicht viel konservativer. Die meisten haben es vergessen, aber in der ersten Regierung Kohl saßen Leute wie Rita Süssmuth oder Heiner Geißler, der heute bei Attac herumspringt. Jeder Kanzler zieht in die Mitte, keiner hat sich je im Amt radikalisiert. Wenn sie von links kommen, ziehen sie nach rechts, das nehmen ihnen dann die Linken übel. Kommen sie von rechts, und bewegen sich nach links, sind die Konservativen sauer.
The European: Wie beurteilen Sie – im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik – die zögerliche Haltung der Bundeskanzlerin?
Fleischhauer: Wenn ich mich richtig erinnere, war sie diejenige, die in ihrer Neujahrsansprache schon deutlich Fremdenfeindlichkeit verurteilt hat, als der Parteivorsitzende der SPD noch den Pegida-Anhängern in Dresden die Hand schüttelte. Wir führen in der Flüchtlingsfrage viel stärker als den europäischen Nachbarn lieb ist. Denen wäre lieber, wir wären in diese Frage deutlich zögerlicher. Der deutsche Sonderweg kann manchmal erstaunliche Abzweigungen nehmen, wie man sieht.
The European: Bundestagswahl 2017: Die Bundeskanzlerin will ihre vierte Amtszeit! Sind die Deutschen mit ihr zufrieden?
Fleischhauer: Im Augenblick scheinen die Deutschen mit der Kanzlerin so zufrieden, dass keiner in der Sozialdemokratie, der ernsthafte Ambitionen auf das höchste Regierungsamt hat, gegen sie antreten will. Dies sagt in jedem Fall sehr viel darüber aus, wie ihre Gegner die Erfolgschancen der Bundeskanzlerin für 2017 einschätzen. Und wer bin ich, die Weisheit der deutschen Sozialdemokratie infrage zu stellen?
Interview mit Prof. Dr. Dr. Gesine Schwan – „Merkel hat die Renationalisierung in Europa entscheidend verstärkt“
Mit Interview mit Prof. Dr. Dr. Gesine Schwan sprach Stefan Groß über die Europa- und Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel, über das Erstarken der AfD und über die politische Entwicklung in Osteuropa.
The European: Wie steht es Ihrer Meinung nach um Deutschland und Europa. Viele kritisieren die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik. EU-Ratspräsident Tusk warnt vor dem Scheitern von Schengen und betont: Der „EU bleiben in der Flüchtlingskrise weniger als zwei Monate.“ Müssen wir Angst vor der Zukunft haben?
Wir müssen schon sehen, dass es sehr kritisch steht. Für mich ist Angst keine sinnvolle Kategorie oder Haltung in der Politik, weil sie meistens nicht ins Konstruktive führt. Wir haben über lange Zeit, und das ging grade von der deutschen Bundesregierung und auch von der Kanzlerin aus, eine Europapolitik in kurzsichtigem nationalem Interesse Deutschlands praktiziert. Sie hat die Renationalisierung in Europa entscheidend verstärkt. Das ist der Grund der heutigen Situation, in der man den Mangel an Solidarität beklagt. Wir waren jahrelang – von Seiten der deutschen Bundesregierung – kein benevolenter Hegemon, obwohl es längst klar war, welch große Macht wir in Europa gewonnen hatten. Deswegen ist es jetzt auch so schwer, in der vielleicht ersten Situation, in der die Bundesrepublik Deutschland selbst Hilfe braucht, die Unterstützung und Solidarität der anderen EU-Partner zu erhalten. Dies gilt nicht so sehr, weil wir schwach ist, sondern weil wir so attraktiv für viele Flüchtlinge sind. In Europa fehlt eine moralisch-politische Autorität. Deswegen befinden wir uns in dieser sehr schwierigen Krise. Ich möchte damit auch nicht beschönigen, dass die Motive in Polen und Ungarn sehr skeptisch gegenüber Europa sind.
The European: Also Angst müssen wir nicht haben, oder?
Es kann schon gefährlich werden, bloß Angst ist etwas Diffuses. Mir kommt es darauf an, die derzeit gefährliche Situation so präzise zu sehen, um dann präzise darauf zu antworten. Und es um vorweg zu sagen: Ich glaube, dass die Schließung der Grenzen, wenn sie von Deutschland ausginge, die Europäische Union zerstören würde. Daher halte ich das für eine völlig falsche Antwort, eigentlich auch für eine, die man nicht realisieren kann, denn es würde zu chaotischen Stauzuständen in Südosteuropa kommen. Meiner Meinung kann nur eine solidarische Aktion helfen, beispielsweise einen Hilfsfonds für die Länder aufzulegen, die in Europa Flüchtlinge aufnehmen. Und diesen Fonds in Europa gemeinsam zu verbürgen, ist jetzt notwendig, damit wir wirklich gemeinsam vorankommen.
The European: Hat die SPD mit der Kanzlerin Merkel derzeit Glück?
Das könnte eine ganz kurzsichtige parteipolitische Idee sein, wenn man denkt, dass die SPD Glück mit einer Kanzlerin hat, die in Bedrängnis ist. Sie hat auch nicht Glück in dem Sinne, dass die Kanzlerin wirklich eine praktikable Strategie hätte. Denn die vier Schritte, die sie immer wieder propagiert, so u. a. die Ursachenbekämpfung, gehen nicht von heute auf morgen. Die Flüchtlingslager besser stabilisieren ist immerhin ein Weg. Die Grenzen von außen zu sichern etwas sehr Schwieriges. Ich sehe nicht, wie das gelingen soll, und wie wir vermeiden wollen, wieder ganz katastrophale Bilder von sinkenden Schiffen zu haben. Diesmal nicht vor Lampedusa, sondern an den sehr komplizierten Außengrenzen der griechischen Inseln, die ja noch schwerer zu schützen sind.
Eine Verteilung der Flüchtlinge in Europa ist ohne eine gemeinsame solidarische Politik unmöglich. Was wir zugleich benötigen, ist mehr Wirtschaftswachstum, ist ein Paradigmenwechsel, damit wir insgesamt aus dieser Depression herauskommen. Aber die solidarischen Elemente sind in Merkels Strategie nicht enthalten.
The European: Kritik kommt auch von der SPD, von Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder. Sie haben die Flüchtlingspolitik als Fehler bezeichnet. Von keinem Plan war die Rede. Sehen Sie das genauso?
Ich glaube, dass die damalige Entscheidung von Frau Merkel eine schlimme aktuell chaotische Situation in Südosteuropa zu vermeiden und schlimme Bilder durch die Welt gehen zu lassen, sie dazu bewogen hat, die Öffnung der Grenzen für syrische Flüchtlinge in Deutschland zu befürworten. Ich glaube aber, da hatte sie keine klare Strategie. Sie hat sich wahrscheinlich auch nicht ganz klar gemacht, dass man eine solche Entscheidung sehr schwer zurückrufen kann. Die Antwort von Gerhard Schröder, sie hätte es im Vorhinein auf Zeit tun sollen, überzeugt mich nicht. Denn so etwas kann man zeitlich nicht beschränken, wenn man Zeitgrenzen festlegt. Das Dilemma ist ja nach wie vor aktuell. Was bei den Befürwortern der Grenzschließung übersehen wird, ist der damit verbundene auch ganz handfeste wirtschaftliche Schaden für die EU und die zerstörerische Wucht, die das hätte. Das Dilemma aber bleibt, selbst bei Grenzschließungen. Die Flüchtlinge kommen auch, wenn die Grenzen dicht sind. Es hat lange gedauert, wir haben das Problem lange vor uns hergeschoben, aber nun hat uns die Realität eingeholt, d.h. die vielen Miseren in Afghanistan und Afrika usw. Jetzt müssen wir wirklich in einer Zäsur einen neuen Solidaritätsanlauf nehmen und vor allem auch schnell handeln.
The European: Wie beurteilt man Flüchtlingspolitik der Bundesregierung in Osteuropa, in Polen beispielsweise, wie wird Deutschland wahrgenommen?
Was von der jetzigen polnischen Regierung an Kritik an Deutschland geäußert wird, wenn man beklagt, dass die Bundesregierung zu wenig Rücksicht mit ihren Entscheidungen bezüglich ihrer Nachbarn nimmt, hat ein Korn Wahrheit. Die polnische Regierung unter Jarosław Kaczyński hat aber unabhängig davon das Ziel gehabt, die Demokratie in eine autoritäre Staatsform zu verwandeln. Dies hat nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaft in Polen eine ganz andere ist als die ungarische. Auch in Ungarn gibt es mehr Opposition gegenüber Viktor Orbán als man oft hört. Die polnische Gesellschaft jedoch hat sehr viel mehr Erfahrung mit zivilgesellschaftlicher Opposition, überhaupt mit Opposition. Solidarność mit Lech Wałęsa war ja eine große Oppositionsbewegung. Jarosław Kaczyński zielt auf etwas Ähnliches wie es der autoritäre Kommunismus war, nur eben ohne Kommunismus und dafür mit einer sehr klerikal-konservativen Note und mit einer sehr rückwärtsgewandten katholischen Idee.
Die Polen werden wiederum ihre Oppositions- und Widerstandsinstinkte ganz schnell wieder mobilisieren, was sie auch schon tun. Überall schießen Komitees zur Rettung der Demokratie aus dem Boden.
The European: Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD) hat Polen vorgeworfen, eine Demokratie im Stile Putins zu praktizieren. Wie rechts ist denn Polen Ihrer Meinung nach wirklich, wie antieuropäisch wird dort Ihrer Meinung nach regiert?
Polen ist gar nicht antieuropäisch. Im Gegenteil die polnische Gesellschaft war die pro-europäischste von allen, die in der EU sind. Es bringt keinen Erkenntniswert, das gegenwärtige Polen mit dem Russland Putins gleichzusetzen.
Ich glaube, dass deutsche Politiker und Politikerinnen eher zurückhaltend mit ihren Äußerungen sein sollten, weil sie sehr schnell instrumentalisiert werden können. Als Mitglied der Zivilgesellschaft kann ich mir diese Kritik erlauben.
Im Wesentlichen muss die Überwindung dieser autoritären Wendung, die die gegenwärtige Regierung in die Wege geleitet hat und bestrebt ist fortzusetzen, von innen her, von den Polen, selbst kommen. Und ich bin mir sicher, dass dieser Prozess auch erfolgreich sein wird.
The European: Wie geht es weiter mit Griechenland? Schuldenkrise, zunehmende Armut und Rentenkürzungen gehören dort zum bitteren Alltag. Sind damit soziale Unruhen vorprogrammiert?
Wenn man, wie in der gegenwärtigen Politik des Landes, auch auf Initiative Deutschlands, die 12. Rentenkürzung durchsetzen will, was ein Fehler der unsolidarischen deutschen Politik ist, kann man mit sozialen Unruhen und einer noch größeren Depression im Land rechnen.
Der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold hat zu Recht von der Bundesregierung gefordert, und ich schließe mich dem an, dass diese Rentenkürzung jetzt nicht auch noch vollzogen werden darf. Denn wie soll ein Land, das im Moment die Hauptlast der Einreise aller Flüchtlinge nach Europa trägt, überhaupt noch agieren können, wenn der soziale Zusammenhalt von außen – nicht von innen – immer mehr zerstört wird. Die Solidarität unter den Griechen ist groß, aber sie ist nicht unbegrenzt.
The European: Nach der Silvesternacht in Köln formieren sich in Deutschland Bürgerwehren, die AfD erstarkt und bedrängt die SPD.
In Deutschland sehe ich keine Bürgerwehren, sondern eine Partei, die versucht alle Ressentiments, die es gibt, zu wecken, um an die Macht zu kommen. Die AfD ist auch keine pro-europäische Partei. Was das Erstarken der Partei um Frauke Petry betrifft, da kann man nur hoffen, dass es viele zivilgesellschaftliche Initiativen gibt, die sich dagegen stellen und eine demokratische Kultur, die stark genug ist, damit sich extremistische Gedanken nicht weiter ausbreiten. Dazu aber brauchen wir eine Flüchtlingspolitik der ruhigen Hand. Und hier zeigt sich wieder das Dilemma: Die Kanzlerin verfolgt eine Politik, die von Anfang nicht durchdacht war und von ihrer Union nicht getragen wird. Die SPD kann schwer die Politik Merkels, die strategisch sehr unzureichend ist, gegen ihre Partei unterstützen.
Natürlich hat auch die SPD mit Widerständen zu kämpfen, die sich aus meiner Sicht daraus ergeben, dass der politische Kurs der Regierung unklar ist, weil sich nicht erschließen läßt, was die Regierung eigentlich will. Das Dilemma liegt darin, dass die Union letztlich mehrheitlich Flüchtlinge raushalten will, aber die Kanzlerin eine Aufnahme der Flüchtlinge fordert, wie eben auch die SPD, die sich auf die Integration konzentrieren will. Man kann nicht zu einer guten und fruchtbaren Integration kommen, sowohl für die Flüchtlinge als auch für uns, wenn man zugleich die Flüchtlinge im Grunde unter der Hand attackiert und raushaben will. Man muss sich entscheiden. Und diese Entscheidung ist eine schwere Last. Diese muss die SPD ihrerseits selbst treffen. Die Union ist dazu aus meiner Sicht nicht in der Lage.
The European: Sie beklagen, dass es keine kohärente europäische Flüchtlingspolitik gibt, weil die Bundesrepublik nur eine nationale, aber keine Europapolitik gemacht hat. Wie ist das Problem nun aus Ihrer Sicht zu lösen?
Ich habe es schon am Anfang gesagt. Es hat an Weitsicht der Kanzlerin und an ihrer fehlenden Solidarität für andere EU-Länder gelegen. Dieses Versagen in Sachen europäischer Solidarität ist der deutschen Bundesregierung unter Angela Merkel anzulasten. Eine Krise nach der anderen, auch die Finanz- und Wirtschaftskrise, wurde immer nur verschoben, nie gelöst. Die Schuldenkrise in Griechenland könnte längst Geschichte sein, wenn es im Jahr 2009 eine vernünftige Lösung gegeben hätte und nicht soziale Kürzungen und unerträgliche Zinsen auferlegt worden wären , eine Lösung, wo die Wirtschaft nicht kollabiert wäre. Jetzt haben wir fünf Krisen auf einmal. Und die Situation wird noch schwieriger, wenn Großbritannien aus der EU aussteigt, wenn ein „Brexit“ kommen sollte. Wir können Europa nur retten, wenn wir dieses Europa sowohl wirtschaftlich als auch solidarisch auf einen wirtschaftlichen und sozial-erfolgreichen Weg bringen, wenn wir z.B. gemeinsam das Problem der Arbeitslosigkeit lösen. Und für die Flüchtlingsthematik bedeutet das: Wir brauchen eine solidarische Finanzierung für die Flüchtlinge. Es braucht einen neuen Aufschwung für Europa. Ich fürchte, dass die Kanzlerin, die einfach in ihrer täglichen Arbeit immer mehr zerrieben wird und von einer Reise nach der anderen sich nicht mal erholen kann, dies allein nicht schaffen wird, weil sie auch nicht den Grundimpetus zur Solidarität hat. Die SPD muss, wenn sie wirklich historische Größe erreichen will, das jetzt schaffen.
The European: Sie unterstreichen, dass wir ein Einwanderungsland sind und die Türen offen halten sollten. Aber wie kann man diese Politik der offenen Türen der kritischen Bevölkerung Deutschlands vermitteln?
Es ist ein scheinbarer Widerspruch, wenn man betont, dass zu viele Flüchtlinge hier sind und zugleich hervorhebt, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Ein großes Problem bei der Integration der Flüchtlinge ist, dass viele mit einem Ticket zu uns kommen wollen, das nicht für sie gilt. Wenn wir von vornherein klare und unterschiedliche Kontingente festlegen, also differenzieren würden, wäre das Problem einfacher. Wir müssten also unterscheiden zwischen denen, die hier eine bessere Zukunft suchen und die wir auch für unsere Wirtschaft verwenden können und einem kleineren Teil von Asylsuchenden, die das Recht haben, dass wir sie aufnehmen. Dann können wir das ganz anders ordnen. Es geht nicht um die reine Zahl. Es geht darum, wie wir den Zugang der Menschen nach Deutschland und Europa ordnen. Eine Million auf 80 Million 2015, in einem Jahr, ist noch nicht die Welt. Wir haben in den 50er Jahren 50 Millionen Deutsche in Westdeutschland gehabt und 8 Millionen Vertriebene. Auch diese wurden nicht als wunderbare Deutsche in Empfang genommen, sondern als Fremdlinge angesehen. Und damals waren die Bedingungen noch viel armseliger. Es kommt darauf an, eine klare Kontingentierungsstrategie zu formulieren.
Wenn man jetzt darüber nachdenkt, dass man ein Einwanderungsgesetz erst 2017 auf den Weg bringen will, dann ist dies viel zu spät. Bereits 2002/2003 haben Rita Süssmuth und Jochen Vogel Vorschläge dazu unterbreitet, die man längst hätte aufnehmen können. Damals hat Angela Merkel Rita Süßmuth noch als parteischädigend kritisiert, weil sie sich überparteilich in dieser Angelegenheit engagiert hat.
Fragen Dr. Dr. Stefan Groß
Interview mit Hans-Peter Friedrich – Wir haben eine Staatskrise
Im Interview spricht der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Hans-Peter Friedrich, mit Stefan Groß über die aktuelle Flüchtlingspolitik, die Meinungs- und Informationsfreiheit und die Rolle der Bundespolizei.
Wie hart muss der Staat im Rückblick auf die Übergriffe in Köln durchgreifen?
Die Vorgänge von Köln werfen ein trauriges Licht auf die Sicherheitslage in Nordrhein-Westfalen. Rot-Grün lässt dieses Land verlottern. Es wird Zeit, dass dort alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Sicherheit zu gewährleisten – übrigens auch von der Justiz.
Sie sprechen immer wieder von Staatskrise, warum?
Dauerhafter Rechtsbruch durch den Staat ist eine Staatskrise. Genau das erleben wir gerade: nationales und europäisches Asylrecht wird seit Monaten nicht durchgesetzt. Die Bundesregierung hat die Grenzen geöffnet, ohne dass die Volksvertreter vorher Gelegenheit hatten, sich damit zu befassen. Unser Staat scheint den Anspruch aufzugeben, seine Grenzen zu sichern und seine Bürger zu schützen. Das ist ein fatales Signal nach innen und nach außen.
Welche Rolle spielen die Öffentlich-rechtlichen Medien derzeit in der Flüchtlingspolitik? Sie sprechen von einem „Schweigekartell“?
Wenn den Bürgern durch Behörden und Medien die Wahrheit vorenthalten wird, weil man glaubt, den Bürgern diese Wahrheit nicht zumuten zu können, rückt das die Meinungs- und Informationsfreiheit in unserem Land in ein schlechtes Licht. Der mündige Bürger kann selbst entscheiden, wie Fakten zu bewerten sind.
Peter Gauweiler hat vor wenigen Tagen den Austritt der CSU aus der Großen Koalition gefordert! Ist das der richtige Weg?
Nein. Jede Partei muss das Ziel haben, zu regieren und mitzugestalten. Selbst in einer Koalitionsregierung gibt es dazu größere Möglichkeiten als in der Opposition. Die CSU bleibt die Stimme der Vernunft in der großen Koalition.
Als Bundesminister waren Sie auch für die Bundespolizei verantwortlich. Wir haben ein schwaches Heer, aber haben wir auch eine schwache Polizei. Wo sehen Sie Nachbesserungsbedarf?
Das Thema „Innere Sicherheit“ stand über viele Jahre weder auf der Prioritätenliste der Bevölkerung noch der Politik und schon gar nicht auf der von Finanzministern und Haushaltspolitikern. Dies ist jetzt anders. Als Bundesinnenminister habe ich immer versucht, das Thema „Innere Sicherheit“ voranzutreiben, angefangen von mehr Videoüberwachung bis hin zu strengeren Asylrechtsvorschriften und einer besseren Zusammenarbeit der Behörden von Bund und Ländern. Schade, dass scheinbar immer erst etwas passieren muss, bis sich das Notwendige vollständig umsetzen lässt.
Bayern will bei der Grenzüberwachung eigene Wege gehen und die Bayerische Polizei für die Grenzkontrollen einsetzen. Werden da Befugnisse gegenüber dem Bund übertreten?
Nein, im Gegenteil: Der Bund hat die Pflicht zur Grenzsicherung. Dieser Pflicht kommt er im Moment nicht nach. Das Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters di Fabio bescheinigt dem Bund eine Verletzung seiner Verpflichtungen innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung. Das muss sich ändern.
Deutsche Sicherheitsexperten sind über die deutsche Flüchtlingspolitik entsetzt, insbesondere beim Verfassungsschutz, im BKA, beim BND. „Wir werden eine Abkehr vieler Menschen vom Verfassungsschutz erleben“, so die Warnung. Ex-Innen-Staatssekretär August Hanning hat einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, wie die Flüchtlingskrise zu lösen sei. Hanning fordert die „strikte Anwendung des nationalen und supranationalen Rechts“. Warum verfährt die Bundesregierung hier so zögerlich? Warum muss man extra betonen, dass auch Flüchtlinge bei Straftaten mit der vollen Kraft des Gesetzes bestraft werden müssen?
Ich kann hier nur für die CDU/CSU-Fraktion sprechen. Wir als Parlamentarier sind derselben Meinung: Wir brauchen die strikte Anwendung nationalen und supranationalen Rechts.
Fragen: Stefan Groß
Interview mit Angelika Niebler – „Wer zu uns kommt, muss unsere Werte respektieren“
Die CSU-Vizechefin und Vorsitzende der CSU-Europagruppe, Dr. Angelika Niebler, fordert im Gespräch mit Stefan Groß Respekt vor unserer Wertekultur und ein härteres Durchgreifen bei Straftaten. Sie lehnt es ab, dass Frauen ihr Verhalten nach den Übergriffen in mehreren Städten ändern müssen.
„Ohne Dirndl und Mini-Rock ist das nicht mein Land“, so haben Sie betont. Was hat sich mit den Angriffen auf Frauen in beim Thema Willkommenskultur geändert.
Wer zu uns kommt, muss unsere Werte respektieren. Dazu gehört auch die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft. Frauen sind kein Freiwild, nur weil sie einen kurzen Rock tragen oder Dekolleté zeigen. Es kann auch nicht sein, dass wir Frauen nun unser Verhalten anpassen müssen, um nicht Gefahr zu laufen, sexuell belästigt zu werden. Oder dass sich Flüchtlinge weigern, von Polizistinnen kontrolliert, von Sozialarbeiterinnen betreut, von Lehrerinnen unterrichtet zu werden. Gegen derartige Denkweisen müssen wir uns massiv zur Wehr setzen.
Das abwertende Verhalten gegenüber Frauen trifft nicht nur Einzelpersonen – was schlimm genug ist –, es ist auch ein Angriff auf das Wertesystem unserer Gesellschaft. Wenn Frauen sich aufgrund von sexuellen Übergriffen nicht mehr ungehindert im öffentlichen Raum bewegen können, dann ist das nicht mehr unser Land. Wenn sie nicht als gleichberechtigt anerkannt werden, ist das ein Rückschritt für unseren freiheitlich demokratischen Staat, den wir nicht akzeptieren können und wollen. Die Frauen sind sehr besorgt, das bekomme ich aus vielen Nachrichten an mich mit.
Die CSU plädiert für eine Obergrenze. Nun hat der Verfassungsrichter Udo Di Fabio ein Gutachten erstellt, das der Bundesregierung vorwirft, Verfassungsrecht zu brechen. Diese Gutachten bestärkt Horst Seehofer, der bereits vor einem wachsenden Vertrauensverlust in die Staatsräson gewarnt hat. Wie steht Europa zur Obergrenze?
Es geht ja nicht nur um eine kurzfristige Notaufnahme von Flüchtlingen, sondern um eine Zuwanderung mit allen Folgen wie Wohnen, Arbeit, Bildung und Ausbildung. Viele Staaten machen sich hier große Sorgen, weil sie da bereits große Probleme haben.
Die Quotendebatte läuft jetzt seit Mai 2015. Da hat die Kommission Vorschläge gemacht und das Parlament diese auch zügig beschlossen. Allerdings ziehen einige Mitgliedsstaaten nicht entsprechend mit und handeln teils verantwortungslos gegen diese Beschlüsse. Aber in Europa brauchen Entwicklungen oft auch Zeit, währenddessen müssen dann nationale Maßnahmen in Erwägung gezogen werden.
Wie können wir die Frauen vor Übergriffen besser schützen?
Zum einen müssen wir aufklären. Über unsere Werte, Regeln und Gesetze, über unsere Lebensart. Unser Wertekanon ist vorbehaltlos zu respektieren, dass muss auch Migranten aus männlich-autoritären Kulturen verständlich gemacht werden. Wir müssen den Flüchtlingen die Chance geben, das zu lernen. Wenn wir Kriminalität verhindern wollen, ist Integration der beste Schutz.
Auf der anderen Seite muss der Rechtsstaat mit allen Mitteln durchgreifen und deutlich zeigen, dass Gewalt gegen Frauen verfolgt und bestraft wird. Völlig unabhängig vom ethnischen und kulturellen Hintergrund der Täter, da gibt es weder Bonus noch Malus. Nur klare Regeln.
Letztendlich geht es auch ums Vertrauen in unseren Staatsapparat, an Polizei und Justiz. Es muss der Glaube erhalten bleiben, dass man im Notfall nicht allein gelassen wird. Sonst trauen sich die Frauen am Ende vielleicht nicht mehr auf die Straße.
Brauchen wir andere Abschieberegeln?
Darüber muss man reden. Wer Straftaten begeht und sich nicht an unsere Rechtsordnung halten will, hat sein Recht verwirkt, aufgenommen zu werden und muss mit Konsequenzen rechnen. Die derzeit gültige Regelung ist zu lax. Es erscheint mir sinnvoll, Abschiebung bereits bei einem statt bei drei Jahren Strafverurteilung anzuordnen. Dies muss auch wirken, bevor ein Asylverfahren zu Ende geführt ist.
Wie wird Merkels Willkommenskultur in Brüssel bewertet. Hat man für diesen deutschen Sonderweg noch Verständnis?
Bei uns im Europäischen Parlament gibt es eine breite Mehrheit dafür, dass wir den Flüchtlingsstrom begrenzen müssen. Zahlreiche Länder haben bereits nationale Initiativen ergriffen, weil man sich in Europa bislang nicht auf eine Linie verständigen konnte, wie zuletzt Schweden und Dänemark, die wieder verstärkt Grenzkontrollen eingeführt haben. Von kritischen Nachfragen über die deutsche Position zur Flüchtlingspolitik bis zu völligem Unverständnis reicht das Spektrum der Meinungen im Parlament und durch die Vorfälle in Köln hat sich Debatte noch verschärft.
Das Gespräch führte Stefan Groß
Interview mit Philipp Freiherr von und zu Guttenberg
Greenpeace versteht den Wald nicht
Der Präsident der deutschen Waldbesitzer wehrt sich gegen politische Forderungen auf Nutzungsverzicht. Wem Umweltschutz wirklich am Herzen liege, der müsse die Waldwirtschaft stärken.
The European: Nachhaltigkeit ist das Schlagwort des Jahrzehnts! Sie unterscheiden zwischen falscher Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit, können Sie dies erklären?
Dieser viel zitierte Ansatz der Nachhaltigkeit ist nicht neu: Hans Carl von Carlowitz verwendete in einer Publikation aus dem Jahre 1713 den Begriff der „nachhaltigen Nutzung“ der Wälder nachweislich zum ersten Mal. Das bedeutet aus der Natur zu lernen und verantwortungsvoll mit dem Blick auf künftige Generationen zu wirtschaften. Nachhaltigkeit entstand und gilt bis heute als individuelles ökonomisches Modell im ländlichen Raum zur langfristigen Sicherung der Lebens- und Produktionsgrundlagen.
Wenn dieses Prinzip der Nachhaltigkeit, eingebettet in ein gesundes, nicht auf die schnelle Gewinnmitnahme ausgerichtetes Wertesystem, durch die Generationen weitergegeben wird in stetiger Obsorge für unsere Natur – auch als Produktions- und Lebensgrundlage –, dann profitieren einerseits die nachhaltig Wirtschaftenden stetig von der Vorsorge ihrer Vorväter. Andererseits stehen sie selbst ihren Kindern und Kindeskindern gegenüber in der Pflicht. Das Fundament für dieses Handeln ist das Eigentum, die Eigenverantwortlichkeit und ein freiheitlicher Handlungsrahmen, der die Obsorge für die nächste Generation ermöglicht. Alles, was diesen zwingenden Prinzipien widerspricht, ist meist nicht nachhaltig, sondern bedient sich dieses Etiketts. Das verstehe ich unter falscher Nachhaltigkeit.
Wald wird von Politik missbraucht
The European: Sie sprechen immer vom „Wald als Waffe“, was haben wir darunter zu verstehen?
Viele Akteure versuchen, die Bedeutungshoheit über den Wald und seine Nutzung zu erhalten. Oft stehen dahinter keine Sachinteressen, sondern ideologische Denkmuster, die den „Wald“ zu einem Schlachtfeld für politische Zwecke missbrauchen. Im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sind Alarmismus und Polemik an der Tagesordnung. Der „Wald“ dient hier meist nur als Mittel zum Zweck. Das merkt man vor allem daran, wenn die Bereitschaft fehlt, sich mit den eigentlich Betroffenen – also den Waldbesitzern und Förstern – an einen Tisch zu setzen und einen Konsens zu finden, der für alle tragbar ist.
„Wald als Waffe“ hat jedoch auch noch eine andere – positive – Bedeutung. Denn gerade in Zeiten der Energiewende ist Wald eine echte Allzweckwaffe. Nachhaltig erwirtschaftetes Holz ist eine der intelligentesten Ressourcen, die wir haben.
The European: Die Ressource Öl wird bald verbraucht sein. Welche Rolle könnte der Wald in der Zukunft bei der Ressourcenverteilung spielen?
In Deutschland entfallen derzeit rund 60 Prozent der Holzverwendung auf die stoffliche und rund 40 Prozent auf die energetische Nutzung. Damit ist Holz als Roh- und Werkstoff zwar unterrepräsentiert, spielt aber bereits jetzt eine große – in Zukunft noch größere – Rolle. Gerade bei der Substitution anderer Wertstoffe kommt Holz inzwischen eine wachsende Bedeutung zu. Die Anwendungspalette von Holz ist gigantisch und die zukünftigen Einsatzbereiche des Rohstoffes werden die heutigen in ihrer ökonomischen und ökologischen Wirkung noch um ein Vielfaches übertreffen.
Angefangen bei der stofflichen und thermischen Verwertung, aber auch in der Chemieindustrie und im Pharmabereich ist Holz als Ölsubstitut zunehmend gefragt. Für den Energiemix ist Holz insbesondere wegen seiner Grundlasttauglichkeit relevant. Es hat hervorragende Eigenschaften bei der stofflichen Verwertung. Auch in Erwartung weiter steigender Preise für fossile Energien (Heizöl, Erdgas) verzeichnet Holz einen spürbaren Verbrauchszuwachs. Mit über 60 Prozent leistet Biomasse den größten Beitrag zur Endenergie aus regenerativen Quellen. Gerade zum Heizen wird sie genutzt – rund 87 Prozent der regenerativen Wärme kommt von der Biomasse, vor allem vom Holz. Dazu ist Holz ein natürlicher Werkstoff, Kohlenstoffspeicher und Co2-neutraler sowie nachwachsender Energieträger.
Holz spielt wichtige Rolle in der „Green Economy“
The European: Warum ist Holz die effizienteste Lösung für das Klimaproblem?
Im Rahmen der Energiewende gewinnt der heimische Rohstoff Holz eine immer wichtigere Rolle als Teil der „Green Economy“. Holz bietet im Vergleich zu seinen Mitbewerbern Vorteile und ein Potenzial, welches tatsächlich zur Effizienzsteigerung, zum Rohstoffwandel und zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung beitragen kann! Es gibt keine Technologie und keinen Rohstoff, der die Bereiche Co2-Senke, -Speicher und -Substitution in dieser einzigartigen Weise verbinden kann. Und das vor unserer Haustür: Der Wald in Deutschland entlastet die Atmosphäre jährlich um rund 52 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Diese Leistungsbilanz ist nicht zu übertreffen.
The European: Weshalb wird bei der Rede von Erneuerbaren Energien immer nur von Wasser, Wind und Sonne gesprochen und das Thema Holz eher beiläufig behandelt?
Bei den erneuerbaren Energien redet ganz Deutschland von Wind, Wasser und Sonne. Der große Teil der erneuerbaren Energien stammt jedoch aus Biomasse. Warum diese Tatsache von der Politik beflissentlich übersehen wird, lässt Ursachen nur erahnen. Unser Problem ist wahrscheinlich, dass wir im Lobbychor der stimmgewaltigen vier großen Stromproduzenten nicht gehört werden. Das muss und wird sich aber ändern.
The European: Was haben wir unter Bioökonomie zu verstehen?
Die ökonomische Produktion und das Denken auf Basis der Nachhaltigkeit unter Heranziehung nachwachsender Ressourcen. Da unsere Ressourcen auf der ganzen Welt bei einer stetig wachsenden Weltbevölkerung immer knapper werden, ist diese Art des nachhaltigen Wirtschaftens unerlässlich – und zwar weltweit.
Die Stilllegung unserer Wälder hätte fatale Folgen
The European: Warum sind Nutzungsverzichte zugunsten der Biodiversität unmoralisch, Greenpeace argumentiert anders?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Stilllegung von 5 Prozent unserer Wälder – eine Forderung aus der Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung – bedeutet einen Verzicht von drei bis sieben Millionen Festmetern jährlich. Außerdem bedeutet der Verzicht auf 5 Prozent: Wir schicken 45.000 Beschäftigte auf die Straße. Vonseiten des Naturschutzes wird das Leitbild und gesellschaftspolitische Ziel der multifunktionalen, nachhaltigen Forstwirtschaft immer stärker angezweifelt und zunehmend eine Trennung der Waldfunktionen gefordert.
Eine Abkehr von der Multifunktionalität, von der auf drei Säulen ruhenden Nachhaltigkeit, hätte Folgen, die wir benennen müssen. Denn hier geht es nicht nur um blinden Aktionismus zur Spendenakquise sogenannter Umweltverbände. Das ist geschäftstüchtig und legitim. Hier wird ein gesellschaftspolitisches Prinzip infrage gestellt, das – aus der Forstwirtschaft kommend – ein möglicher Pfad in eine erträgliche Zukunft wäre. Wir müssen all jene, die diese absurden Forderungen stellen, darauf hinweisen, dass es unverantwortlich ist, durch Nutzungsverzichte hier in Europa die Holzproduktion in andere Gebiete unserer Erde zu verlagern, die nachweisbar nicht nachhaltig bewirtschaftet werden. Mit jedem Festmeter, auf den wir hier verzichten, wächst der Druck auf die Vernichtung der Primärwälder. Wenn wir heute in Deutschland auf fünf Millionen Festmeter aus einer luxusbegründeten Ideologie heraus verzichten wollen, dann kommt das Holz morgen aus Togo, Indonesien oder Brasilien. So erschreckend einfach ist das.
The European: Was können die deutschen Waldbesitzer (zwei Millionen an der Zahl, eine Lobby von mehr als vier Millionen Bundesbürgern) gegen den Klimawandel tun?
Der Wald ist beim Klimawandel Opfer und Retter zugleich. Keine Ressource, keine Technologie, kein Rohstoff birgt so viel Potenzial und ist gleichzeitig so betroffen.
Die nachhaltige Bewirtschaftung unserer Wälder und die Bereitstellung des Klimajokers Holz ist bereits der beste Beitrag, den wir als Waldbesitzer gegen den Klimawandel leisten können. Doch gleichzeitig bekommen wir die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren, unsere Forstwirtschaft wird risikoreicher. Daher benötigen wir vitale Mischwälder mit standortangepassten, marktorientierten Baumarten. Es geht hier um größtmögliche Flexibilität in der Bewirtschaftung und Risikostreuung. Die ökologische Verantwortung und das ökonomische Risiko liegen nach wie vor beim Eigentümer.
The European: Warum ist Eigentum ein Fundamt für die Nachhaltigkeit?
Das ist wohl der wichtigste Aspekt. Nachhaltiges Wirtschaften, das Denken in Generationen in einer freien und demokratischen Gesellschaft braucht das Eigentum und die Freiheit als Fundament. Eigentum ist weit mehr als Besitz, mehr als nur ein Recht. Eigentum ist die ökonomische Grundlage individueller Freiheit, die sich in unserer Gesellschaft auch dadurch rechtfertigt, dass aus der Leistung des Eigentums Gemeinwohlleistungen erwachsen. Das darf man nie vergessen.
Ich darf an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass viele Menschen das längst verdrängt haben. Die Diskussionen um Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, und so weiter zeugen täglich davon. Merkwürdigerweise vergisst man dabei, dass Freiheit individuelle Selbstverantwortung ermöglicht und diese Mündigkeit einen kategorischen Imperativ fordert, dessen Maßstäbe sich verallgemeinern lassen und die unsere Gesellschaft stützen.
Mit anderen Worten: Die Freiheit, Eigentum zu erwerben, zu halten und vor allem frei zu vererben, motiviert uns Waldbesitzer, Leistung, Engagement und einen nachhaltigen Lebensstil an unsere Gesellschaft zurückzugeben.
Nachhaltigkeit zwingt uns aber auch zum täglichen Verzicht, zu einer gesellschafts- und schöpfungsbejahenden Lebens- und Betrachtungsweise.
Die Wende zur Nachhaltigkeit ist eine Rückbesinnung auf Werte, die in der momentanen Entwicklung leicht zu einer gesellschaftlichen Grundsatzdebatte führen könnte und müsste. Nachhaltigkeit wird sich nicht in der Anonymität der Digital Natives umsetzen lassen. Die kollektive Flucht aus der Verantwortung und hinein in den Lebensraum freibeuterischer digitaler Lebensräume ist in meinen Augen eine Sackgasse. Nachhaltiger Waldnutzen ist gelebter Generationenvertrag.
Unserem Wald kommen dabei mehr Aufgaben zu, als bloßer Rekonvaleszenzraum einer fehlgeleiteten urbanen Schutztruppe zu sein.
Das haben er und unsere Gesellschaft nicht verdient!
Das Gespräch führte Stefan Groß
Interview mit Julia Klöckner – „Wir dürfen die Generationenaufgabe der Integration nicht dem Zufall überlassen“
Mit der CDU-Vize-Chefin und Spitzenkandidatin von Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, sprach Stefan Groß vor dem EU-Gipfel in Brüssel über das Thema der Stunde, die Flüchtlingskrise, über die erstarkte AfD, über Religion und Heimat.
16.02.2016
Frau Klöckner Sie fordern eine härtere Integration und betonen: „Deutschland ist kein Selbstbedienungsladen“. Wie geht es weiter mit der Flüchtlingspolitik? Sehen sie eine baldige Lösung?
Die Flüchtlingskrise wird nicht mit einem Schalter zu beenden sein. Wir haben langfristige und kurzfristige Perspektiven zur Reduzierung. Deshalb müssen wir als Land zweigleisig fahren. Denn wir können nicht nur warten, bis die EU einstimmig entscheidet. Sicherlich wird der Gipfel in Brüssel am 18. und 19. Februar eine Zäsur sein.
Wir brauchen schnell wirksame Maßnahmen. Gleichzeitig dürfen wir nicht nachlassen, für die Reduzierung der eigentlichen Fluchtursachen einzutreten. Das wird aber länger dauern. Deshalb habe ich meinen A2 Plan vorgeschlagen, weil es jetzt um eine Atempause für die Kommunen geht. Sie tragen die Hauptlast, auch für Integration. Die kann nicht gelingen, wenn eine Überforderung eintritt. Deshalb müssen wir Tageskontingente einführen, die Aufnahmerichtungen an die Grenze verlegen, Menschen konsequent zurückschicken, die hier nicht bleiben dürfen und ein Integrationspflichtgesetz einführen.
Hat sich unser Land verändert? Befindet sich die Bundesrepublik in einer schweren Krise? Brauchen wir eine neue Leitkultur?
Unser Land, unsere Gesellschaft hat sich schon immer verändert und das ist auch gut so, ja sogar notwendig. Sonst wären Frauen, zum Beispiel, weit davon entfernt, Landesvorsitzende oder Kanzlerin zu sein. Veränderung ist also per se nichts Schlechtes, allerdings ist die Frage, wohin sich etwas verändert. Es gibt Grundwerte, die wir nicht ändern wollen und die müssen wir kennen und deutlich machen – uns selbst und den Menschen gegenüber, die jetzt zu uns kommen. Das ist auch eine Chance der Selbstvergewisserung, also in was hinein wollen wir die Menschen denn integrieren? Wir müssen uns klar werden, was uns wichtig ist.
Wir haben lange für die Gleichberechtigung von Mann und Frau gekämpft. Darauf kann es jetzt keinen kulturellen oder religiösen Rabatt geben. Bei uns stehen Familienehre und die Scharia nicht über dem Grundgesetz, aus dem sich Rechte ergeben, aber eben auch Pflichten.
Natürlich verändert die Flüchtlingskrise unser Land, auch ins Positive. Wir sehen es bei den Ehrenamtlichen, die an ihren Aufgaben wachsen, mir ihrer Leistungsbereitschaft ein freundliches Gesicht Deutschlands zeigen. Die Situation ist aber auch ein Stresstest für unsere Institutionen, für Verfahren und Gesetze, die jetzt auf dem Prüfstand stehen. Vieles wird so pragmatischer gestaltet.
Ob wir uns in einer Krise befinden? Ich würde sagen, dass wir ein Rendezvous mit der Globalisierung haben, so wie es auch Wolfgang Schäuble ausdrückt. Wir, auch die EU, haben das Flüchtlingsproblem zu lange ignoriert. Bei den Schengen Außengrenzen haben wir gesagt: Die andern regeln das schon. Aber das geht jetzt so nicht mehr.
Eine neue Leitkultur brauchen wir nach meiner Meinung nicht. Wir haben eine Kultur, geprägt durch unsere aufgeklärte, freiheitlich, demokratische Werteordnung. Die gilt es jetzt auch zu artikulieren, auch einzufordern und mit Nachdruck zu vermitteln. Das ist mir wichtig. Kein Nebeneinander von wertneutralem multi-kulti, nicht einfach nur die Addition von Vielfalt. Wir dürfen die Generationenaufgabe der Integration nicht dem Zufall überlassen.
Die Parteienlandschaft im Land verschiebt sich, sie wird radikaler. Die AFD erstarkt. Was läuft falsch im Land?
Ich würde nicht von radikaler sprechen, ich nehme eher eine Polarisierung in der Gesellschaft wahr. Erstmal denke ich, wir müssen damit aufhören, dass sich die Skeptiker und die Euphoriker gegenseitig mit Polemik überziehen. Menschen wollen Antworten, weil sie Ängste und auch Sorgen haben. Das ist auch nichts Ungewöhnliches angesichts dieser beispiellosen Herausforderung. Falsch finde ich, wenn Menschen pauschal diffamiert oder in die rechte Ecke gestellt werden durch rot-grüne Moralkeulen. Wir wissen aus Weimar, dass Demokraten in der Mitte zusammen stehen müssen und sich nicht taktisch auseinander dividieren oder gar spalten lassen sollten. Und wir dürfen Populisten nicht ausweichen, sondern wir müssen sie argumentativ entwaffnen. Deshalb ist es ein Fehler, dass die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz bei der so genannten Elefantenrunde abtaucht und sogar einen öffentlich-rechtlichen Sender unter Druck setzen wollte, die AFD auszuladen. Die bekam so einen Märtyrer Status. Das halte ich für fatal.
*Sie sind quasi die politische Enkelin von Helmut Kohl und bezeichnen ihn als Weltbürger und Mann der Weltgeschichte. Helmut Kohl nannte sie einen Glücksfall für die Partei. Was haben sie was andere nicht haben? Was zeichnet sie aus? Helmut Kohl ist ja nicht dafür bekannt, Komplimente in den eigenen Reihen zu verteilen.*
Was vielleicht die wenigsten wissen, oder sich daran erinnern können ist, dass Helmut Kohl ein junger Wilder, ein Reformer in Rheinland-Pfalz war. Er hat unsere Partei modernisiert, hatte das meistbeachtete Kabinett in Deutschland. Unter ihm galt unser Land als Talent- und Ideenschmiede der Republik. Daran wollen wir anknüpfen mit einem frischen Team, das ich aufgestellt habe.
Ich glaube, es geht darum, eine Partei zusammen zu halten und dann programmatisch aufzustellen. Dass wir heute eine moderne Programmpartei sind, mit dem Erfahrungsschatz vieler, das ist die Tradition von Helmut Kohl.
Ihre politische Karriere weist ja indirekt nach Berlin ins Kanzleramt.
Dem widerspreche ich. Meine politische Karriere weist, sofern die Wähler wollen, in die Mainzer Staatskanzlei. Das ist mein Ziel. Ich war neun Jahre lang als Abgeordnete und Staatssekretärin in Berlin. Ich habe mich bewusst für Rheinland-Pfalz entschieden und deshalb weist mein Weg in meine Heimat Rheinland Pfalz.
Was macht die Führungsstärke von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus? Wo liegt das Geheimnis Ihres Erfolges gerade in Zeiten, wo eine Krise die andere jagt.
Angela Merkel zeigt Standhaftigkeit und Rückgrat, und das ist in schwierigen Zeiten besonders wichtig. Sie denkt vom Ende her und ist niemand, der reflexhaft reagiert und ihre Meinung ständig ändert, so wie Herr Gabriel.
Natürlich spürt Angela Merkel Dringlichkeit der Krise und die Sorgen vieler Menschen, die damit verbunden sind. Sie arbeitet bis an die Leistungsgrenzen und darüber hinaus daran, Europa zusammen zu halten, die Zahlen der Flüchtlinge zu reduzieren und die Fluchtursachen zu beseitigen. Sie ist eine sehr souveräne und in sich ruhende Führungsperson. Ich wüsste nicht, wen ich an ihrer Stelle jetzt eher in der Position sehen möchte.
Welche Rolle spielt der katholische Glaube. Überhaupt das Religiöse in Ihrem Leben?
Ich würde es gar nicht in katholisch oder evangelisch sortieren. Der Glaube gibt mir Halt. So weiß ich auf der einen Seite, dass man seine Talente nutzen soll und sagen: „mach das, was du kannst“. Auf der anderen Seite kann man sich aber irgendwann auch aufgehoben fühlen und loslassen. Das gibt schon ein Stück Gelassenheit. Und bei schwierigen Entscheidungen orientiere ich mich erst recht am christlichen Menschenbild, Stichwort Subsidiarität. Die christliche Soziallehre besagt, auf Freiheit zu setzen, auf die Persönlichkeit des Einzelnen. Das heißt, dass der Mensch frei sein muss, um sich entsprechend des Potentials zu entwickeln, das in ihm steckt. Das heißt aber auch Eigenverantwortung, eben das Subsidiaritätsprinzip, also nicht alles auf die nächsthöhere Ebene abzuschieben. Und es heißt Solidarität, konkret Hilfe zur Selbsthilfe. Insofern leite ich daraus auch viel für die Bildungspolitik ab. Keine Einheitsschulen beispielsweise, jedem seine Bildung und nicht eine Bildung. Aber ich leite damit auch den Schutz des Lebens ab. Jeder Mensch ist gleich viel Wert. Aus diesem Grund bin ich auch gegen aktive Sterbehilfe.
Sie sind ein Mensch, der tief in seiner Heimat Rheinland-Pfalz verankert ist. Was bedeutet Heimat eigentlich für sie?
Der Begriff Heimat hat verschiedene Bedeutungen und Ebenen. Ich versteht erst einmal etwas Lokales darunter, einen Ort. Ich bin groß geworden in Guldental, das elterliche Weingut steht da, die feste Scholle. Heimat sind für mich Gerüche, wie Heu oder die Hefe, die im Herbst über dem Dorf liegt, wenn die Weinlese eingefahren wird und wenn der Most anfängt, zu gären.
Heimat sind natürlich Menschen, ist Familie, sind die Liebsten, die man hat. Und wenn ich mit Flüchtlingen rede, dann sagen sie, dass sie die Heimat in sich tragen, als Erinnerung an ihre tatsächliche, zerbombte Heimat, wo sie nicht mehr leben können. Heimat ist also auch ein Grundgefühl, wo man sich aufgehoben fühlt.
Sie waren Chefredakteurin des Sommeliermagazins. Was verbindet Politik mit einem guten Wein? Jesus von Nazareth erzählt das Geheimnis vom neuen Wein in alten Schläuchen, wie interpretieren Sie das?
Ich spreche lieber von neuem Wein in neuen Schläuchen: Denn gibt man den neuen Wein in alte Schläuche, zerreißen sie. Eine neue Botschaft braucht auch neue Mittler. Bei Jesus war es so, dass er das Vierfachgebot der Liebe gepredigt hat, also auch die Feindesliebe. Und er hat gesagt, dass der Mensch nicht für die Gesetze da sein muss, sondern die Gesetze für den Menschen. Und die alten Schläuche, die alte Gesetzgebung, die alte Mannschaft, die wollte und konnte die neue Botschaft von Jesu nicht weitertragen.
Deswegen hat er von diesem neuen Wein für neue Schläuche gesprochen. Und das heißt politisch für Rheinland-Pfalz auch: Wir brauchen den Wechsel, damit Neues möglich wird. Und das geht nicht durch einen neuen Anstrich, sondern durch eine neue Mannschaft und andere Inhalte. Wein und Politik haben gemeinsam, das es ab zu und mal brodeln muss, so wie die Gärung beim Wein. Und natürlich kommt es auf die Zutaten an und die Menschen dahinter.
Am Deutschen Stammzellgesetz von 2001 würden Sie aber nicht rütteln, oder?
Es zeigt sich ja inzwischen, dass wir Recht behalten haben. Bei der embryonalen Stammzellforschung ist man nicht vorangekommen, aber bei der adulten, die ethisch unbedenklich ist, schon. Und die Schiebung des Stichtages führte nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Doppelmoral. Denn wenn wir in Deutschland keine Stammzellen gewinnen können und die in anderen Ländern gewonnenen Stammzellen nutzen müssen, dann ist das ethisch nicht korrekt. Deshalb sollten wir mehr in die adulte Stammzellforschung investieren.
Fragen: Dr. Dr. Stefan Groß