Bei der Doktorarbeit von Giffey und zu Guttenberg misst die SPD mit verschiedenem Maß – Willkommen im Zeitalter der Doppelmoral – Plagiatsvorwurf: Frau Giffey treten Sie zurück

SPD-Bundesfamilienministern Franziska Giffey hat ihren Doktortitel zurückgegeben. Doch das ist kein Einzelfall. Vor neun Jahren stolperte der Bundesverteidigungsminister in der Plagiatsaffäre. Karl Theodor zu Guttenberg musste auf seinen Doktortitel und seine Karriere verzichten. Damals wetterte die SPD gegen den CSU-Politiker und forderte ihn zum Rücktritt auf. Im Fall von Giffey denken die Parteigenossen jetzt ganz anders und wollen sie im Amt halten. Es geht um die Zukunft der SPD und da spielt ein Plagiat plötzlich nur noch eine untergeordnete oder gar keine Rolle.

Stefan Groß-Lobkowicz14.11.2020Medien, Politik

Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu war so etwas wie der Showstar in der sonst eher bescheiden-auftretenden Polit-Elite der Berliner Republik. Mit dem 1971 in München geborenen Juristen wehte ein Hauch Windsor, oder zumindest der Glanz einer alten deutschen Adelsdynastie durch die Hallen des Deutschen Bundestages. Karl-Theodor und seine schöne Frau Stephanie waren das, was die Yellow-Presse sehen wollte. Gediegenes Auftreten, trotzdem modern, weltgewandt, ja, Stilikonen, wo sonst Stickpullis und graue Anzüge die gravitätische Ruhe der besonnenen Politprofis ausstrahlen.

Guttenberg hat mittlerweile wieder einen Doktortitel. Neun Jahre nach der Plagiatsaffäre und seinem Rücktritt als Minister hat Karl-Theodor zu Guttenberg eine neue Dissertation vorgelegt – an einer britischen Uni. Die erste hatte er 1999 begonnen und 2007 verteidigt. Die Dissertation trug den Titel „Verfassung und Verfassungsvertrag. Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU“. Auf Antrag durfte er ab 7. Mai 2007 den Grad eines Doktors der Rechte vorläufig und 2009 endgültig führen. 2011 hat er auf seinen Doktortitel verzichtet. Doch Guttenberg war keineswegs der einzige prominente Fall, der über seine Promotion stolperte. FDP-Politker Jorgo Chatzimarkakis und Kollegin Silvana Koch-Mehrin folgten noch im selben Jahr. Und ausgerechnet die CDU-Bundesbildungsministerin Annette Schavan nahm 2013 den akademischen Hut. Erst 2019 war dann Frank Steffel, Fraktionsvorsitzender der CDU im Abgeordnetenhaus von Berlin, des Plagiats angeklagt, sein Titel von der FU-Berlin einkassiert. Auch Guttenbergs Parteikollege Andreas Scheuer hatte auf seinen Doktorhut verzichten müssen. „Womöglich hätte die Uni Prag auch eine Autobiografie Scheuers als Dissertationsprojekt akzeptiert, schrieb die „Welt“ damals „Andreas Scheuer ist ein Doktor Dünnbrettbohrer.“ Doch Scheuer macht fröhlich weiter – trotz Mautdesaster und Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss.

Die Opposstion eröffnete das Feuer auf zu Guttenberg

Als Guttenberg im Jahr 2011 auf seinen Titel verzichtete, geisselte ihn die damalige Grünen-Chefin Claudia Roth. Die Stellungnahme Guttenbergs ist nicht nur ein „dreister Auftritt mit populistischen Mitteln“, sondern „völlig inakzeptabel“. Nachdem Guttenberg nach massiven Plagiatsvorwürfen seinen dauerhaften Verzicht auf seinen akademischen Grad erklärte und damit einem Urteil der Universität Bayreuth über seine Dissertation zuvorgekommen war, sah Roth in seiner Erklärung nur den „Versuch, mit Demutsgefasel“ seine Fehler „als Kavaliersdelikt darzustellen.“ Aber nicht nur Roth wetterte und sprach von „Werteverlust“, wenn Guttenberg damit durchkomme, auch der ehemalige Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin schlug kräftig auf den Bundesverteidigungsminister ein. „Plagiieren als Methode.“ „Wenn auf drei Vierteln aller Seiten Plagiate zu sein scheinen, dann kann man sich nicht auf Flüchtigkeit oder Schusseligkeit berufen, oder darauf, dass man den Überblick über seine Quellen verloren hat“, so Trittin, der immer schon durch seine Scharfzüngigkeit und Bissigkeit bekannt war. Kritik kam auch aus den Reihen der SPD. Dort hielt man den Minister für „irreparabel beschädigt“. Der damalige SPD-Fraktionschef und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erhob den Zeigefinger, sprach von arglistiger Täuschung, Dreistigkeit und dass das Plagiat „keine Kleinigkeit“ sei. Die einzige Konsequenz für den SPD-Politiker wäre der sofortige Rücktritt des Franken. Keiner hätte, so der Vorwurf, so oft von Ehre und Anstand gesprochen, nun sei der Punkt, auch anständig abzutreten. „Herr zu Guttenberg wird nicht zu halten sein, und am Ende wird ihn die Bundeskanzlerin nicht halten.“

Während die grün-linke Fraktion vor Schadenfreude tobte, dass Merkels Kronprinz endlich in die Plagiatsaffäre verwickelt und damit an Glaubwürdigkeit verspielt hatte, hielt einzig Kanzlerin Merkel noch an ihm fest. Sie habe Guttenberg nicht als wissenschaftlichen Assistenten oder Doktoranden ins Kabinett geholt. „Mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister. Die erfüllt er hervorragend, und das ist das, was für mich zählt“, so. Dies sahen auch der damalige CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt und der ehemalige Ministerpräsident Seehofer so. „Die Menschen in Deutschland haben zu Recht kein Verständnis dafür, wenn sich die Politik wochenlang mit nichts anderem beschäftigen würde, als mit Fußnoten und Anführungszeichen“, so Dobrindt und fügte hinzu: „Alles was SPD und Grüne jetzt noch herumkritteln, ist Beschäftigungstherapie einer unterbeschäftigten und uninspirierten Opposition.“ Und Seehofer bekräftigte seine Unterstützung für den angeschlagenen Verteidigungsminister: „Wenn ich ausspreche, dass ich zu jemandem stehe, dann gilt das auf Dauer – in welche Widrigkeiten auch jemand gerät.“

Letztendlich rettete es Guttenberg nicht. Denn auch aus den Reihen der CDU hagelte es Kritik. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) äußerte damals über die Plagiatsaffäre. „Die Presseerklärung, die Karl-Theodor zu Guttenberg am vergangenen Freitag gegeben hat, war jedenfalls kein überzeugender Beitrag zur Problembewältigung.“ Und fügte hinzu: „Ich kann mir seinen Auftritt (…) nur so erklären, dass ihm zum damaligen Zeitpunkt das Ausmaß der Schlampigkeit nicht klar war, mit der die Arbeit verfasst und eingereicht worden ist.“ Anders als Lammert, setzte der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus noch auf den Superminister, wollte im Landtagswahlkampf gleich „eine Reihe von Auftritten“ mit Guttenberg absolvieren. 2Ich finde, dass Karl-Theodor zu Guttenberg die Sache in geeigneter Weise gelöst hat“, so Mappus, der jedoch das Jahr 2011 im Amt auch nicht überleben sollte.

Die Bundesdeutschen waren in der Plagiatsaffäre von Guttenberg damals nachsichtiger als die Opposition. Nach einer Umfrage des Meinungsinstituts Infratest Dimap waren 73 Prozent der 500 Befragten zufrieden mit der Arbeit des Bundesministers. Plagiatsverdacht hin oder her.

2020 wiederholt sich dasselbe Spiel wie 2011 gegen Guttenberg nur eben anders

2020 wiederholt sich dasselbe Spiel wie 2011. Nur ist es diesmal nicht ein Politiker der CSU, sondern eine SPD-Ministerin. Franziska Giffey hat die Entscheidung der FU persönlich genommen: „Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.“ Wie einst Guttenberg in der Plagiatsaffäre hat die SPD-Politikerin auf das Führen ihres Doktortitels verzichtet. Doch die verkorkste Doktorarbeit wird ihr zunehmend zum Problem. Giffey hat große politische Ambitionen – möglicherweise als künftige Berliner SPD-Chefin oder als mögliche Regierende Bürgermeisterin. Die Sache mit der Promotion kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt in ihre Karriereplanung. Doch anders als damals bei Guttenberg ist die tobende SPD diesmal friedlicher, es herrscht der Ton verzeihender Vergebung. „Großer Respekt vor deiner Entscheidung, liebe Franziska #Giffey. Wir stehen solidarisch an deiner Seite!“, schreibt der Berliner Landesverband an die Bundesministerin, die Berliner Bürgermeisterin werden möchte.

Guttenberg bezeichneten Giffeys Parteigenossen damals als „Dieb“ und forderten seine Entlassung. Die Genossen, die so viel von Solidarität und Menschlichkeit reden, hauten damals verbal so feste drauf wie nur möglich. Doch die Zeiten haben sich geändert. Björn Böhning beispielsweise, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit, schrieb damals gegen den Bundesverteidigungsminister: „Guttenberg will auf Doktortitel verzichten. Aber den akademischen Grad kann man gar nicht zurückgeben. Betrug oder kein Betrug ist die frage [sic]“,. Heute argumentiert er versöhnlicher: „Respektable Entscheidung von Franziska Giffey!“ Und Böhning ist nur einer von vielen Sozialdemokraten, die sich in diesem Tagen zu Giffey bekennen und sich rein gar nicht über diese Doppelmoral schämen, mit der sie einst Guttenberg zu Fall brachten. In der SPD interessiert nicht so sehr die Promotion, sondern die prekäre Lage, in die die Partei damit selbst schlittert. An Giffey haben sie große Erwartungen. Es geht um mehr, es geht um die Zukunft der SPD. Denn die 42-jährige Giffey, gebürtig aus Frankfurt an der Oder, will sich zur Landesvorsitzenden wählen lassen und im Herbst 2021 Regierende Bürgermeisterin werden. Gelingt ihr das, kann sie ihren Führungsanspruch unter den verbliebenen SPD-Ministerpräsidenten ausbauen. Sie wäre die Nummer eins mit allen bundespolitischen Folgen. Doch diese Ambitionen kann trotz kräftiger Rückendeckung aus der eigenen Partei letztendlich nur das Wahlvolk entscheiden.

Frau Giffey treten Sie zurück

Doch konsequenter ist es, wenn Giffey von ihrem Amt zurücktritt. Sie hat zwar ihre politische Arbeit nicht beschädigt, sondern ihre Integrität. Wer es bei einem der wohl physischen wie psychischen Unterfangen wie einer Doktorarbeit nicht genau nimmt und willfährig klaut und Zitationen nicht kennzeichnet, hat ein Glaubwürdigkeitsverlust und beschädigt zugleich den Ruf der Wissenschaft. Hier geht es um Wahrheit und nicht bloß um Titelhascherei. Die Lebenszeit, die eine Promotion kostet, mögen nur die erfahren haben, die sich ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit demütig widmeten, ihnen sei dann auch Titel und Erfolg gegönnt. Wer sich aber nicht an dieses Ethos hält, verdient den Titel nicht zu tragen und sollte auch kein politisches Amt ausüben. Taschentricksereien gehören nicht in die Politik und schon gar nicht in eine Partei, die auf Wert, Solidarität und Anstand setzt. Frau Giffey – treten Sie zurück. Es wäre auch mit Hinblick auf den Fall Guttenberg die einzig ehrliche Konsequenz.

Der Unmut in der Bevölkerung über ein derart unethisches Gebaren wächst. Der Bundesbürger schaut entsetzt zu wie getrickst, gedreht und betrogen wird. Und der nimmt entrüstet zur Kenntnis, dass nun bei Frau Giffey andere Regeln gelten sollen als bei Guttenberg. 2019 hatte die Familienministerin ihren Rücktritt angekündigt, wenn die freie Universität Berlin ihr den Titel entzieht. Damit sollte sie jetzt ernst machen.

Helsinkis stiller Sieg gegen die Pandemie

Stefan Groß-Lobkowicz10.11.2020Medien, Politik

Während Schweden weder den Lockdown anvisierte noch das öffentliche Leben katapultartig in den Keller schoss, kann auch Finnland beim Kampf gegen das Coronavirus Erfolge verbuchen. Helsinki hat – ganz unbemerkt vom medialen Getöse – das Virus in den Griff bekommen, mehr noch: Mittlerweile verzeichnet das Land die niedrigste Infektionsrate innerhalb der EU. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Der schwedische Sonderweg

Alle reden über Schweden und den Sonderweg, den das Land während der Pandemie eingeschlagen hat. Anders Tegnell versprach mit einem präferenzutilitaristischen Ansatz den größten Nutzen für die größte Zahl von Corona-Patienten. Im Klartext bedeutete das: Man nimmt eine höhere Sterblichkeit in Kauf, immunisiert aber die Skandinavier durch, so dass diese letztendlich eine Herdenimmunität erlangen. Damit war Schweden bisher einsam in Europa. Nur der englische Premier Boris Johnson favorisierte zu Beginn der Pandemie Anfang März 2020 eine vergleichbare Immunisierungsstrategie, die er dann aber ad acta legte, weil Johnson, wie viele andere Spitzenpolitiker weltweit, selbst mit COVID-19 infiziert wurde.

Das schwedische Modell gilt mittlerweile – trotz langer und heftiger Kritik aus den Reihen der EU – als ein Modell zur Krisenbewältigung. Die Zahl der Neuinfektionen ist nicht gestiegen, die der Sterblichkeit sogar unterdurchschnittlich gegenüber den vergangenen zehn Jahren.

Finnland hat die niedrigste Infektionsrate der EU

Während Schweden weder den Lockdown anvisierte noch das öffentliche Leben katapultartig in den Keller schoss, kann auch Finnland beim Kampf gegen das Coronavirus Erfolge verbuchen. Helsinki hat – ganz unbemerkt vom medialen Getöse – das Virus in den Griff bekommen. Mehr noch: Mittlerweile verzeichnet das Land die niedrigste Infektionsrate innerhalb der EU.

Corona umgreift Europa immer noch wie ein unsäglicher Krake, der sich aus der Tiefe immer wieder in die Höhe schraubt und weitere Opfer mit sich  reißt. Doch inmitten der Ostsee sinkt die Zahl der Neuinfektionen in Finnland. So lag die Infektionsrate in den letzten zwei Wochen im Schnitt bei 45,7 Fällen je 100.000 Einwohner. Und wie in Schweden, so sind auch die durch die Pandemie verursachen wirtschaftlichen Folgen der Seuche in Finnland milder als bei den europäischen Nachbarn.

Finnen vertrauen auf die Behörden und den Staat

Es sind gleich mehrere Faktoren, die den Finnen begünstigend in die Hände spielen. Ähnlich wie in der Bundesrepublik verhängte die Regierung in Helsinki unter der sozialdemokratischen, dynamisch-agierenden 34-jährigen Ministerpräsidentin Sanna Marin und dem seit 2018 umsichtig agierenden Regierungschef Sauli Niinistö von der konservativen Nationalen Sammlungspartei, frühzeitig im März einen zweimonatigen Lockdown. Reisen in und aus der Hauptstadt Helsinki waren verboten. Danach kehrte das Land weitgehend zur Normalität zurück. Die Finnen setzten früh auf ein effektives System von Tests, reagierten blitzschnell und professionell bei der Nachverfolgung von Ansteckungsketten mit dem Fazit, dass die Infektionen gering gehalten werden konnten. Begünstigend war, anders als im Corona-kritischen Deutschland, wo Verschwörungstheorien zum Alltag gehören und Großaufmärsche gegen die Covid-19-Politik der Bundesregierung regelmäßig für Zündstoff sorgen und damit die Strategie aus Berlin aus den Angeln heben, die Nutzung der App „Corona Flash“, die 2,5 Millionen der 5,5 Millionen Finnen auf ihr Smartphone geladen haben.

Der Lockdown hat das Leben sogar verbessert

Gehört es zur Wesensnatur der Deutschen eher kritisch, mürrisch und ein wenig misstrauisch zu sein, sind die Finnen etwas staatstreuer. Das Vertrauen in die Behörden ist im Norden weitaus ausgeprägter als hierzulande. Zudem ist man nicht so gesellig und liebt an langen Winterabenden die Einsamkeit. Und anders als in Leipzig, Berlin und Stuttgart gibt es kaum Widerstand gegen die Corona-Regeln der Regierung. Mehr noch: Die Skandinavier sehen in den staatlichen Maßnahebeschränkungen gerade keine Beschränkung ihrer individuellen Freiheitsrechte, sondern setzten auf die Instanzen des Rechtsstaates. Bei einer Umfrage im Auftrag des EU-Parlaments gaben 23 Prozent der befragten Finnen an, dass der Lockdown ihr Leben sogar verbessert habe.

Während vielerorts in Italien und Spanien Ausgangssperren herrschen, die Straßen wie leergefegt anmuten und die Städte geisterhaft erscheinen, sind in den Geschäftsstraßen von Helsinki kaum weniger Menschen unterwegs als vor der Pandemie. Wenige tragen eine Maske, obwohl die Behörden diese mittlerweile empfehlen. Die staatstreuen Finnen stört es nicht, wenn in den Restaurants nur noch halb so viele Gäste sitzen und die Öffnungszeiten verkürzt wurden. Auch in der Gastronomie gibt man sich inmitten der Krise zuversichtlich und will neue Wege suchen. Glashäuser im Außenbereich sind dabei eine Alternative und der eh gemütliche Finne hat diese unterdessen sogar inständig angenommen. Die Skandinavier ertragen die Pandemie einfach gelassener als der brodelnde Süden mit seinen Ausgehvierteln und Flaniermeilen.

Gleichwohl auch die Wirtschaft im zweiten Quartal um 6,4 Prozent schrumpfte, lag der Rückgang damit deutlich unter dem Minus von 14 Prozent im EU-Durchschnitt. So sehr das Modell der Finnen sich vom schwedischen Weg unterscheidet, beide gelten als erfolgreiche Rezepte, die Corona-Pandemie halbwegs in den Griff zu bekommen. So unterschiedlich die Anti-Corona-Strategien also auch sein mögen, von den Skandinaviern kann manch geschundenes EU-Land einiges lernen.

Covid-19 Neuinfektionen sind auf Vorwochenniveau +++ Lockdown zeigt Wirkung +++ R-Wert unter 1 +++

Stefan Groß-Lobkowicz10.11.2020Medien, Wissenschaft

Licht am Horizont. Ein neuer Impfstoff der Firma Biontech macht Hoffnung. Auch die Infektionszahlen steigen nicht mehr so dramatisch. Zwar hält die Bundesregierung nach wie vor an harten Maßnahmen fest. Doch wie es aussieht, entfaltet der zweite Lockdown, der Lockdwon light, Wirkung. Eigentlich müsste Deutschland bald wieder zur Normalität zurückkehren dürfen. Der entscheidende R-Wert liegt aktuell bei 0,98 und ist damit so niedrig wie seit dem 1. September nicht mehr.

Nach einer Woche Lockdown scheint sich die Lage in Deutschland positiv zu entwickeln. Die Zahlen sprechen für sich – weniger Corona-Neuinfizierte. Waren am Samstag noch 23.000 Neuinfektionen zu beklagen, entspannte sich die Lage am Dienstag. Wie das für den Infektionsschutz in Deutschland federführende Robert-Koch-Institut mitteilte, wurden am Montag nur noch 13.000 Neuinfektionen mit dem hochansteckenden Covid-19-Virus registriert.

Die Zahl der seit dem Beginn der Pandemie Infizierten liegt insgesamt bei 687.200 Personen. Nach wie vor sind es ältere Menschen, die unter dem Virus leiden. Die Krankheitsverläufe sind hier schwerwiegender. Die Zahl der Todesfälle stieg auf 11.506. Entgegen der ersten Corona-Welle zeichnet sich hier bereits ein Gegentrend ab. Starben im Frühjahr mehr als 300 Personen täglich, ist die Zahl der mit oder an Corona Verstorbenen Angang November um die Hälfte gefallen. Die Zahl der Genesenen beläuft sich laut dem RKI hingegen auf etwa 441.200. Und auch beim Sieben-Tage-R-Wert zeichnet sich eine Tendenz ins Positive ab. Laut seinem aktuellen Lagebericht des RKI sinkt der R-Wert weiter. Dieser bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen lag dieser Wert innerhalb der letzten Tage bei 1,09 und bildete das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen ab. Liegt er für längere Zeit unter 1, flaut das Infektionsgeschehen ab. Aktuell liegt der Wert derzeit bei 0,98. Er ist damit so niedrig, wie seit dem 1. September nicht mehr.

Die Zahlen steigen also nicht mehr ganz so stark wie in den beiden Vorwochen und der Anstieg der bei den Neuinfektionen schwächt sich ab. Im Vergleich zum Dienstag vergangener Woche ist der Wert nahezu identisch. Liegt er R-Wert unter der magischen Marke von 1 stecken rein rechnerisch 100 Infizierte etwa 98 weitere an.

Der Impfstoff ist da

Seit Monaten wartet die Welt auf einen neuen Corona-Impfstoff. Am Montag hatte als erstes westliches Unternehmen der deutsche Hersteller Biontech Zwischenergebnisse vorgelegt. Ab der kommenden Woche will das Mainzer Pharmaunternehmen die Zulassung eines Corona-Impfstoffs beantragen. Dieser soll mehr als 90-prozentigen Schutz bieten – auch schwere Nebenwirkungen wurden bislang nicht registriert, so das Unternehmen. Bis Sonntag wurden in der Studie insgesamt 94 Fälle der Krankheit bestätigt. Dennoch wird, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn betonte, ein Impfstoff erst im ersten Quartal 2021 zur Verfügung.

Länder wie Russland, China und Bahrain impfen bereits. Doch die Bundesregierung will hier sicher gehen. Erst, so der Gesundheitsminister Spahn, wenn alle Nebenwirkungen bekannt sind, ist mit einer Zulassung zu rechnen. Wegen der besonderen Dringlichkeit gilt für den Corona-Impfstoff ein beschleunigter Zulassungsprozess. So können Arzneimittelhersteller schon vor dem kompletten Zulassungsantrag bei der europäischen Arzneimittelbehörde einzelne Teile zu Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Präparats einreichen.

Die Bundesregierung hält aber derzeit noch an ihrem härteren Kurs in der Corona-Krise fest. Aber wie aus Berlin deutlich wurde, zeichnet sich am Horizont ein Hoffnungsschimmer ab. Der Impfstoff kommt, selbst wenn dieser erst in den nächsten Monaten breitenwirksam verteilt werden kann. Aber zeigt sich aber auch, dass einerseits die Maßnahmen im zweiten Lockdown positive Wirkungen zeigen, zum anderen, dass durch den neuen Impfstoff nach fast einem Jahr der Corona-Krise ein langsamer Rückkehr zur Normalität wieder möglich ist. Im Unterschied zu Schweden hatte man in Deutschland nicht auf Herdenimmunität gesetzt, sondern auf gezielte Maßnahmen wie die AHA-Regeln. Im zweiten Lockdown scheint sich dieses Herangehen jetzt positiv zu bestätigen.

Kein Lockdown und dennoch weniger Corona-Infizierte: Die Schweden machen alles richtig – Dank Lockdown-Verzicht: Schweden erreicht Herdenimmunität

Stefan Groß-Lobkowicz5.11.2020Medien, Wissenschaft

Dank Lockdown-Verzicht bewältigt Schweden die Coronakrise besser als andere europäische Staaten. Bereits in der ersten Phase der Pandemie hatten die Skandinavier nicht auf einen Lockdown, sondern auch eine Herdenimmunität gesetzt. Im November zeigt sich: Sie lagen damit nicht falsch. Eine Glosse von Stefan Groß-Lobkowicz.

In Deutschland hat die Zahl der Corona-Neuinfektionen am Donnerstag fast die 20.000-Marke geknackt. Trotz zweiten Lockdown steigen die Covid-Infektionen. Ein ganz anderes Bild zeichnet sich derzeit in Schweden ab. Das Land ging seit dem Beginn der Coronakrise einen anderen Weg als Resteuropa. Verantwortlich für die dortige Anti-Corona-Strategie war Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Während Deutschland in der ersten Phase der Corona-Pandemie Wirtschaft, Schulen und Kitas schloss, Restaurants und das öffentliche Leben fast auf Null herunterfuhr, hatte sich Schweden dafür entschieden, keinen Lockdown zu fahren. Mit dieser Strategie kamen die Nordlichter bislang gut durch die Corona-Krise, gleichwohl man auch dort in Kauf genommen hatte, dass insbesondere höhere Semester und Risikogruppen am Coronavirus sterben. Eine höhere Mortalität gehörte quasi zur Immunisierungsstrategie dazu. Dabei setzte man auf einen Utilitarismus, der ethisch sicherlich kritisch zu hinterfragen ist, doch nach Abwägung der Zweck-Relation für die größte Zahl und des allgemeinen Glücks damals ausschlaggebend war und moralisch sich rechtfertigen ließ.

Ohne Lockdown wurde Herdenimmunität erreicht

Anfang November bestätigt sich Schwedens Sonderweg. In Skandinavien wird jetzt mehr getestet, die Zahl der PCR-Testungen erweitert. Dennoch liegt in Schweden die Zahl der Neuinfektionen aktuell unterhalb der Werte aus dem Frühjahr. Wie Wissenschaftler, Virologen und insbesondere Epidemiologen betonten, könnte der ausgebliebene Lockdown und der damit verbundene Kontakt der Menschen zum SARS-CoV-2 Erreger dazu geführt haben, dass sich T-Zellen jetzt an das Virus „erinnern“. Damit wäre die über T-Zellen generierte Herdenimmunität erreicht. In einem bericht von „Telepolis“ heißt es dazu: „Zwar ist ein saisonbedingter Anstieg zu konstatieren, allerdings liegen die Oktoberzahlen (noch) unter dem Durchschnitt der Monate April bis Juni, und dies bei einer starken Zunahme der PCR-Tests. Obwohl die schwedische Bevölkerung zahlenmässig in etwa jener Belgiens und Tschechiens entspricht, betragen die täglichen Neuinfektionen weniger als ein Zehntel.“

Zahlen geben den Schweden recht

Der Weg, den Anders Tegnell im Frühjahr eingeschlagen ist, scheint daher der richtige zu sein. Davon ist zumindest der schwedische Arzt Sebastian Rushworth überzeugt, dass „mittels der T-Zellen die angestrebte Herdenimmunität zu erreichen“, erfolgreich umgesetzt wurde. Anders als in Italien, Spanien, Belgien, Österreich, der Schweiz und Deutschland sprechen die moderaten Infektionszahlen im skandinavischen Land dafür, dass man das Coronavirus auch in den Griff bekomme, wenn man auf die Selbstverantwortlichkeit der Bürger, auf Abstandsregeln und den Mundschutz setzt, dennoch auf „weitere Restriktionen“ verzichtet. Das Schweden in der Coronakrise mit seinem Sonderweg auf dem richtigen Kurs segelt, zeigt auch ein Blick auf die Sterbefälle. Diese entsprechen im Land dem langjährigen Durchschnitt. Während der ersten 35 Wochen dieses Jahres gab es insgesamt 620 Tote auf 100.000 Einwohner. Nur im Jahr 2012 lag die Zahl der Toten mit 650 höher. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind das rund 3.000 Todesfälle mehr als im Jahr 2020 gewesen.

Die Chinesen werden nie den Westen überholen – Ihr System gründet auf Unfreiheit – Wird Europas Kultur asiatisch oder gar chinesisch? Wird Europas Kultur asiatisch oder gar chinesisch?

Stefan Groß-Lobkowicz7.11.2020Europa, Medien

Chinas Einfluss auf die Welt wächst. Aus dem einstigen Kaiserreich, das Qin Shihuangdi 200 Jahre vor Christius gründete, ist spätestens unter Xi Jinping wieder eine Weltmacht geworden. Anstelle den chinesischen Mauer und der ehrwürdigen Dynastien sind jetzt die kapitalistischen Turbokommunisten getreten. Doch Chinas Kunst war nie so weit weg von Europa wie ein Blick in die europäische Geschichte zeigt. Aber hat das Imperium aus Fernost auch die Macht, Europa kulturell zu verändern? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Das 21. Jahrhundert wird pazifisch sein

Ausgerechnet zwei Amerikaner und ein Deutscher warnten bereits vor 30 Jahren vor einer geopolitischen Verschiebung der Machtverhältnisse von Europa und Amerika hin zu Asien. Galt das 20. Jahrhundert noch als atlantisch, sollte, so die Prophezeiung von damals, das 21. Jahrhundert pazifisch sein. Mit ihrer Analyse eilten Samuel Huntington, Francis Fukuyama und Henry Kissinger ihrer Zeit voraus. Was sie in den 1990er Jahren mit Alarmismus und kassandrahaft verstörend postulierten, ist zur neu gewonnenen Realität geworden. Doch China war nie so weit weg von Europa, wie ein Blick in die europäische Geschichte zeigt

Chinaeuphorie im 18. Jahrhundert

Die Chinaeuphorie auf dem europäischen Kontinent ist keineswegs neu. Der europäische Kontinent war einst geradezu von Fernost gefangen. Von 1650 bis1820 blühte die Chinoiserie in allen Varianten. Ob Porzellan, Fayancen, Lackmöbel, chinesische Gärten und Architekturen – überall, wie im Schlosspark Nymphenburg, im Englischen Garten in München, im chinesischen Garten von Oranienbaum bei Dessau, die von Jean-Baptiste Pillement und William Chambers ausgelöste China-Euphorie entfaltete sich buchstäblich in die europäische Kultur hinein. Selbst der große preußische Aufklärer und König, der Philosoph auf dem Thron der Macht, Friedrich der Große, hatte sein Schloss in Sanssouci fantasievoll im Chinoiseriedekor ausgestattet. Und überall in Europa wuchsen Pagoden und Pavillons zum Himmel. Sie allesamt waren Symbole für die Sehnsucht der Europäer nach den fragil- hochverfeinerten Luxusgegenständen aus einem unbekannten, märchenhaft-exotischem Reich. Der Mythos von China, dem Idealreich in Fernost, das einst Marco Polo bereist und von Zauberhand für die Europäer vermittelte, war en vogue. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts vermittelten jesuitische Missionare ein Bild von Asien, welches die fernöstliche Welt in einer Idealform darstellte, als hochkultiviert und zuhöchst zivilisiert. Selbst für den Philosophen und letzten Universalgelehrten Leibniz wird China ein Reich, „das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert“ („Novissima Sinica“). Doch dieser Chinaenthusiasmus blieb Jahrhunderte hinweg exklusiv, fokussierte sich auf die oberen Zehntausend samt gediegenem und kostspieligem Kunstenthusiasmus. Für das Volk blieb Chinas Kunst unerreichbar. Erst als umsichtige Monarchen in den 1900er Jahren die barocken und späteren englischen Landschaftsgärten für die breite Öffentlichkeit, für das Volk, die sogenannten „Volksgärten“ öffneten, stand der Blick nach Asien durch den Fokus der Kunst allen offen.

Das 20. Jahrhundert war amerikanisch

Das 20. Jahrhundert veränderte alles. Eine geradezu beispielslose Adaption, ein Amerika-Hype mit Breitenwirkung durch alle Schichten der Gesellschaft hinweg, griff tief in die Kultur und Wirtschaft nach 1945 ein. Der „American Way of Life“ hatte die Deutschen nach dem Krieg als Kulturnation verändert. Die USA wurde kulturstiftend und -gebend. Alles, was über den großen Ozean schwappte, wurde adaptiert. Breitenwirksam griff Amerika in das Rad der Geschichte und prägte über ganze Generationen und Bevölkerungsschichten hinweg den deutschen Zeitgeist, ob in der Wirtschaft oder in der Alltagskultur. Deutschland war der Schwamm und Amerika das Glück spendende Wasser, das buchstäblich aufgesogen wurde. Elvis Presley, Marilyn Monroe, Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Bill Haley, Lady Gaga, Kim Kardashian, Blue Jeans, Tupperware-Partys, Coca-Cola, Hot Dog, Hollywood-Schaukel, Straßenkreuzer und Einbauküche – Europa wurde zum Spiegel der amerikanischen Erfolgsgeschichte. Der Jazz, die „klassische Musik Amerikas“, floh aus den Kellern von New Orleans und Louisiana mit Louis Amstrong, Billy Taylor und Wynton Marsalis buchstäblich über den Atlantik, rockte die Welt mit purer Lebensfreude, brachte die Clubs von Westberlin bis hin nach Westdeutschland buchstäblich zum bersten. Sinatra und Hollywood, Walt Disney und Micki Maus, Walt Whitmann, Mark Twain, Ernest Hemingway oder Susan Sonntag, so unterschiedlich sie alle waren, verdrängten die deutschen Klassiker, alles war hipper, flippiger als die Spießbürgeridylle einer Kulturnation, die nach den Repressalien des Zweiten Weltkrieges den Taumel des Lebendigen feierte, die ungezwungene Vitalität des amerikanischen Traumes einatmen wollte. Mit der Erfindung des iPhones kam dann endgültig eine Technik nach Europa, die kultisch verehrt, fast zum Religionsersatz wurde. Mehr Amerika ging nicht. Doch in den letzten 30 Jahren ist die Stimmung gekippt – nicht erst seit Donald Trump durch die Welt poltert, Rassenunruhen die USA entflammen, Amerika zum Kriegstreiber im  Zweiten Golfkrieg und im späteren Irakkrieg wurde und den Flächenbrand im Nahen Osten ausgelöst hat: Massenmigration, Armut und Tod im Gepäck. Amerika war out, Asien wieder in.

Nach 200 Jahren kommt China in die europäische Kultur zurück

Die chinesische Kunst blüht – inmitten von Berlin. Die Spreemetropole wird zum Anziehungspunkt junger Asiaten, die die Szene immer mehr prägen und bevölkern. Nach dem bürgerlichen Biedermeier und der Ikea-Schrankwand erobern exotische Stücke aus Fernost die Wohnzimmer. Auf den europäischen Auktionsmärkten haben die Preise für Möbel aus Fernost deutlich angezogen. Der Trend gen China setzt sich innerhalb der deutschen Hochschullandschaft fort. Immer mehr Universitäten verbuchen einen Boom bei Einschreibungen in Fächern wie Sinologie. Die Religionen des Ostens, ob Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus drängen immer mehr Menschen aus der Amtskirche, untermauern sie doch den Wunsch nach persönlicher Religiosität, jenseits von protestantischer Strickpulli-Mentalität und Folklore-Gottesdiensten. Ein neues religiöses Gefühl erwacht, das immer weniger mit dem Papst in Rom, der Diktatur der alten weißen Männer im Vatikan, dem Poker um die Macht und den „Missbrauch“ des Religiösen anzufangen weiß. Jenseits vom Synodalen Weg erwächst inmitten der Säkularisierung ein Gegentrend. Die aus asiatischen Lehren und Religionen selbst zusammengezimmerte neue Religion erwacht im Stil einer emanzipierten Lebens- und Sinnsuche, die sich Religion nunmehr selbst nach dem LEGO-Baukasten schmiedet.

Die Tattoo-Kultur der Asiaten feiert eine Renaissance, wird geradezu zum neuen Köperkult. Wer was auf sich hält, veredelt seinen Körper schon lange nicht mehr mit einem Seemanns-Tattoo, sondern mit Drachen und Manga-Motiven aus Japan. Chinesische Künstler wie Ai Weiwei genießen Kultstatus und die Asiaten bringen der Kunst den Akademismus zurück. Statt postmodernem Allerlei und dem wilden Happening der 70er Jahre ist es eine neue Generation von Künstlern, die dem alten Europa die akademische Kunst, den akademischen Realismus oder Akademismus ins Gedächtnis zurückruft. Die Asiaten sind es, die dem Wildwuchs in der zeitgenössischen Kunst das Regulativ des Könnens und die Maxime der Kunstwahrheit – samt strenger Einhaltung der formalen technischen und ästhetischen Regeln – entgegenstellen.

Was den Chinesen fehlt, ist die Freiheit

Aber bei allem, was aus Asien und China gerade nach Europa schwappt oder in den letzten Jahrhunderten rezipiert wurde, ist dennoch nicht zu befürchten, dass das chinesische Reich in naher Zukunft die Kultur Europas verändern oder gar bedrohen wird. Zu sehr ist das Land um Machthaber Xi Jinping darauf bedacht, seinen poltisch-militärischen und wirtschaftlichen Einfluss zu festigen. Die globale Infiltration durch Kunst hat das China derzeit daher noch nicht auf der Agenda, gleichwohl wirtschaftliche und politische Einflüsse die Gesellschaft global auch kulturell prägen und verändern. Und so sehr es umgekehrt eine gewisse Renaissance des Asiatischen und Chinesischen in Europa geben mag, die freiheitliche Ordnung, die Errungenschaften der Aufklärung, der friedliche Sturz des Sozialismus und das Zusammenfallen des kommunistischen Ostblocks im Jahr 1989 wird bei den Europäern das Bewusstsein wach halten, dass ein Leben nur durch und in Freiheit wahrhaft vernünftig und wirklich sein kann. Diese Freiheit der Entscheidung werden sich die Europäer nach zwei vernichtenden Diktaturen nicht wieder nehmen lassen. Und ein System wie das chinesische, welches wie George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys dystopischer Roman „Brave New World“ als Überwachungsstaat daherkommt und die Freiheitsrechte beschneidet, bleibt kontraproduktiv zu einer Kultur von freien Bürgern, die sich ihre Kreativität nicht von einem repressiven System vorschreiben werden, sondern es ganz mit dem deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel halten werden: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Und dieses garantiert nicht der chinesische Turbokapitalismus samt pseudo-religiösen Allmachtsphantasien, sondern der Rechtsstaat und die freiheitliche Demokratie. Bei aller Euphorie im pazifischen Zeitalter – die Freiheit muss den Sieg davontragen.

Corona-Fallzahlen steigen, Fallsterblichkeit unter einem Prozent

Stefan Groß-Lobkowicz29.10.2020Medien, Wissenschaft

Die Corona-Fallzahlen steigen. Während bei der ersten Corona-Welle im März die Zahl der Toten explosionsartig nach oben katapultierte, zeigt sich Ende Oktober ein anderes Bild. Selbst wenn die kritische Marke bei 16.000 neuen Covid-19-Infektionen täglich sehr hoch ist, liegt der Anteil der an einer bestätigten Corona-Infektion verstorbenen Personen niedriger als im Frühjahr. Auch die sogenannte Infektionssterblichkeit dürfte noch wesentlich geringer ausfallen.

Aus einem aktuellen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) geht Ende Oktober hervor, dass der Anteil Verstorbener an allen laborbestätigten Sars-CoV-2-Infektionen seit der Kalenderwoche 34 (17.8. bis 23.8.) bei deutlich unter einem Prozent liegt. Im Klartext bedeutet das: Weniger als jeder Hundertste der gemeldeten mit Corona infizierten Personen ist an oder mit Beteiligung der Infektion in der Bundesrepublik gestorben. 85 Prozent der über 10.056 Corona-Toten (Stand 26. Oktober 2020)  war 70 Jahre oder älter.

Hatte die Zahl der Todesfälle Anfang April 2020 mit 1600 ihren Höchststand erreicht, ist seitdem die Zahl der Todesfälle stetig gesunken. Anfang September und im Oktober stieg sie wieder leicht an und lag zuletzt bei etwa 200 Fällen binnen sieben Tagen.

Fallsterblichkeit und Infektionssterblichkeit darf man nicht miteinander verwechseln

In der ersten Welle war die Fallsterblichkeit deutlich höher. Damals hatten sich vermehrt ältere Menschen angesteckt. Heute hingegen infizieren sich eher Jüngere. Mit Blick auf den Gesamtverlauf der Pandemie in Deutschland gab das RKI die Fallsterblichkeit am 20. Oktober 2020 mit 2,6 Prozent an. Dass diese Zahl nun wesentlich höher ist als die Sterblichkeit in den vergangenen Wochen, liegt daran, dass im Frühjahr mehr Menschen an Covid-19 verstorben sind.

Doch wie berechnet sich die Sterblichkeit? In seinem Berichten gibt das RKI immer die Fallsterblichkeit an, die nicht mit der Infektionssterblichkeit verwechselt werden darf. Die Fallsterblichkeit gibt Auskunft über den Anteil der Verstorbenen an nachgewiesenen Corona-Fällen. Da es trotz der inzwischen vielen Tests eine womöglich hohe Dunkelziffer bei Neuinfektionen gibt, dürfte der Anteil der Toten an allen Infizierten noch niedriger sein. Diesen Wert bezeichnet die Infektionssterblichkeit.

Wert der Infektionssterblichkeit dürfte deutlich niedriger liegen

Eine Studie zur Infektionssterblichkeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte in der vergangenen Woche (The European berichtete) für Aufsehen gesorgt. Laut dieser, die federführend von Professor John Ioannidis von der kalifornischen Stanford University durchgeführt wurde, werden in den meisten Weltregionen vermutlich weniger als 0,2 Prozent aller Corona-Infizierten sterben. Diese Sterblichkeit variiere, so der Wissenschaftler, stark von verschiedenen Faktoren ab: von der Altersstruktur der Gesellschaft zum einen und zum anderen davon, wie sehr es gelingt, Risikogruppen zu schützen.

Seit dem Ausbruch des Coronavirus wird immer wieder darüber diskutiert, welche Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus überhaupt sinnvoll sind: In den vergangenen Tagen hatten Experten vorgeschlagen, dass bei der Abwägung über neue Corona-Einschränkungen auch andere Parameter als nur die Fallzahlen herangezogen werden sollten – so etwa auch die Sterblichkeit und die Hospitalisierungen, also die Zahl der behandelten Patienten in Kliniken.

Bundesregierung verhängt „Lockdown light“

Am 28. Oktober 2020 hatte die Bundesregierung erneut einen Lockdown verhängt. Nach dem ersten im Frühjahr soll der zweite eine Art „Lockdown light“ sein. Doch so „light“ ist er nicht. Wie im Frühjahr werden durch diese leicht modifizierte Version viele Grundrechte der Bundesbürger eingeschränkt. Das rigide Vorgehen von Bund und Ländern hatte als Reaktion eine ganze Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen. Kritik an den Beschlüssen kommt nicht nur von Gastronomen und aus der Eventbranche. Auch Politiker haben sich unterdessen kritisch gegen die gemeinsame Entscheidung von Bund und Ländern ausgesprochen. Als erster wollte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die LINKE) eine Zustimmung seiner Regierung zu einem derartigen Beschluss nicht geben.

Im Gegensatz zu einer Vielzahl von Politikern aus der Union, die einen erneuten Lockdown legitimierten und für bundeseinheitliche Regeln plädierten, sieht das FDP-Fraktionsvize Christian Dürr anders. Er hat bei erneuten Schließungen von Betrieben in der Coronakrise vor massiven Folgen für die Wirtschaft gewarnt. „Ein neuer Lockdown wird vielen Betrieben den Boden unter den Füßen wegziehen.“ „Bund und Länder hatten monatelang Zeit, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Statt die Gastronomie und andere Branchen stillzulegen, hätte ich erwartet, dass die Kanzlerin einen Akut-Plan für mehr Personal in den Gesundheitsämtern und Konzepte für eine digitale Kontaktnachverfolgung vorlegt.“

Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hält die aktuellen Einschränkungen des zweiten Lockdowns für rechtswidrig und hat Betroffene aufgerufen, rechtliche Mittel gegen stark einschneidende Corona-Maßnahmen einzulegen. „Ich halte die aktuellen Beschlüsse in Teilen für rechtswidrig. Wenn die Runde der Regierungschefs Maßnahmen verabredet, die bereits mehrfach von Gerichten aufgehoben wurden, wie das Beherbergungsverbot, dann ignorieren die Beteiligten bewusst die Gewaltenteilung. Ich rufe alle Betroffenen auf, rechtliche Mittel gegen diese Maßnahmen einzulegen”, sagte der FDP-Politiker der „Rheinischen Post”.

Hintergrund

Die Zahl der Corona-Infizierten ist in den letzten wieder Wochen ständig gestiegen. Am Donnerstag, den 29. Oktober, überschritten sie die 16.000er-Marke. Immer mehr Menschen in der Bundesrepublik infizieren sich mit dem Coronavirus, dennoch ist die Sterblichkeit im Gegensatz zum Frühjahr weiterhin kontinuierlich niedrig. Kritiker von Lockdown und strengen Anti-Corona-Maßnahmen hatten schon zu Sommer-Ende eine zweite, aber harmlosere Corona-Welle vorhergesagt, mit weit weniger Toten. Trotz vieler Experten hat die Bundesregierung mit ihrem soften Lockdown alle Geschütze wieder vollgeladen. Es bleibt zu hoffen, dass sie damit nicht auf Spatzen schießt.

Warum Hegel nichts von Corona-Partys hält

28.10.2020

Der Philosoph Hegel gilt als Meisterdenker. Doch mit Corona-Partys hätte er große Schwierigkeiten. Einen Hauptgrund sieht er darin, dass die Protestler nicht zwischen Freiheit und Willkür unterscheiden könnten.

 

Der Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ist zu seinem 250. Geburtstag in aller Munde, war er doch neben den deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joeseph Schelling der prominenteste Denker des Deutschen Idealismus. Auch er war Schüler des Königsberger Meisterdenkers Immanuel Kant und ging doch eigenständige Wege. Mit Hölderlin und Schelling teilte er sich im Tübinger Stift, der damaligen Intellektuellenschmiede, ein Zimmer. Vielleicht vergleichbar, wenn die Superhirne Bill Gates, Steve Jobs und Elon Musk in einer WG ihre Visionen von morgen geschmiedet hätten. Idealist war Hegel, weil er ein Prinzip suchte, das über der sinnlichen Welt als allgemeingültiges Prinzip regiert. Idee, absoluter Geist wird er dazu sagen, aber es wird immer die Freiheit sein, die er in sein groß angelegtes System einzubetten sucht.

Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Er stammte aus einem typischen Beamtenhaushalt, in dem – ganz wie in der damaligen Zeit üblich – der Pietismus regierte. Strenge Gläubigkeit war jedoch Hegels Sache nicht und so wurde er nicht Pfarrer, sondern Philosoph. Als dieser hat er Weltgeschichte geschrieben, denn seine Dialektik hatte später Karl Marx maßgeblich beeinflusst und mit ihm die kommenden Generation, die in die Fußstapfen des Dialektischen Materialismus treten sollten. Böse Zungen behaupten gar, ohne Hegel hätte es Faschismus und Kommunismus gar nicht gegeben, ohne ihn, wenngleich falsch interpretiert, wäre das gesamte 20. Jahrhundert nicht zum Millionengrab geworden. Doch all diese Interpreten haben den Stuttgarter letztendlich falsch verstanden. Hegel ging es um die Freiheit. Er kritisierte die bürgerliche Gesellschaft, die sich immer weiter in arm und reich spaltete. Er hielt wenig vom Neoliberalismus und sah in ihm die eigentliche Gefahr seiner Zeit. Und dieser Hegel war es, der noch vor Marx den Begriff der Arbeit mit der Anerkennung in Zusammenhang brachte.

Insbesondere der Philosoph Reimund Popper hatte Hegel als preußischen Staatsphilosophen verunglimpft, begriff ihn als Denker des Totalitarismus. Bei ihm sei der einzelne Mensch letztendlich nichts und der Staat alles, so ein Vorwurf, der dem Stiftler immer wieder gemacht wurde. Doch Hegel war von früh an liberal gestimmt. Er galt als einer der frenetischsten Verehrer der Französischen Revolution und ihrer Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Ideen sollten ihn sein Leben lang begleiten und jedes Jahr wird er am Nationalfeiertag, den 14. Juli, ein Glas Champagner auf die Revolution erheben. Und so wird er nicht müde, Preußens Restaurationsbemühungen nach den Karlsbader Beschlüssen zu kritisieren.

Doch so sehr Hegel sich die Freiheit auf die Fahnen schreibt, gibt es Zeiten, wo der Philosoph vor allzu viel Freiheit warnen würde. Dies wäre der Fall in Zeiten von Pandemien. Hegel hatte sie selbst erlebt und ist 1832 an der Cholera gestorben. So verwundert es kaum, dass er heute gegen Corona-Partys wäre, sich für ein Verbot derselben aussprechen würde. Wenn sich in der Berlin vor dem Reichstag oder bundesweit Menschenansammlungen finden, die ihre Proteste gegen die von der Bundesregierung erlassenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als Freiheitskampf verstehen, würde Hegel dem entgegensetzen: Hier handelt es sich nicht um Freiheit, sondern um Willkür. Gegen die wütenden Bürger, die ihre Freiheitsrechte unter Corona in Frage gestellt glauben, keine Masken tragen und keinen Abstand halten, würde Hegel entgegenschleudern: Eine Freiheit, die sich nur als Verantwortungslosigkeit zeigt, ist das Ende der Freiheit. Sein Veto gegen die Protestler findet sich in seiner Unterscheidung von Freiheit und Willkür. Was in Berlin passiert sei pure Willkür und hat letztendlich nichts mit Freiheit oder höchstens mit einer falsch verstandenen zu tun. Grund dafür ist Hegels Begriff vom Staat, den er ausführlich in seinen „Grundlinien einer Philosophie des Rechts“ entwickelt. Der Staat repräsentiert für Hegel die höchste Freiheit, ja, er ist die Sittlichkeit selbst. Und dieser hegelsche Staat muss die Freiheit aller seiner Bürger garantieren. Daher auch die Willkür begrenzen. Und für diese Willkür stünden heutzutage Reichsbürger, „Covidioten“ und alle Kritiker, die gegen den Staat in der Coronakrise protestieren. Hegel versteht unter Freiheit eben nicht die Möglichkeit zu tun, was man will. Genau in diesem Auswählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten sieht er nur die Willkür am Werk. Von Freiheit kann man erst dann sprechen, wenn die Vernunft den Willen bestimmt, denn „die Freiheit ist das Denken selbst.“ Und „wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet.“ „Der Wille ist nur als denkender frei.“

Nur der Ausnahmezustand rechtfertigt die Einschränkung bestimmter Rechte

Wer also glaubt, den Reichstag zu stürmen, wilde Corona-Partys zu feiern oder Kontaktsperren zu umgehen, ist auf dem Holzweg, wenn er sich als Teil des Staates als Gemeinwesen begreift und diesem zu dienen, so die Auffassung Hegels, verpflichtet ist. Die vom Staat erlassenen Beschränkungen, dies klingt für moderne Ohren sehr gewöhnungsbedürftig, heben nur die Willkürfreiheit, nicht die Vernunftfreiheit auf. Wenn der Staat also in die Bewegungsfreiheit eingreift, Quarantänen und Ausgangssperren verhängt, um die Bürger vor Covid-19 zu schützen, dienen diese Maßnahmen einzig und allein dem Zweck der Sicherung und der Garantie des Rechts auf Leben und der Gesundheit aller. Dieses höhere Recht auf körperliche Unversehrtheit versteht er als etwas weitaus fundamentaleres. Aber weitreichende Eingriffe in die Natur des Rechts, wie derzeit in der Corona-Pandemie, würde auch der deutsche Idealist nur in gewissen Ausnahme- oder Notsituationen tolerieren. Nur im Fall von Naturkatastrophen, Kriegen oder eben Epidemien darf der Staat den Not- oder Ausnahmezustand verhängen – doch dieser Eingriff ist zeitlich zu legitimieren.

Eine Pandemie wie Corona wäre auch für Hegel genau jene Ausnahmesituation mit allen ihren verhältnismäßigen Folgen. Doch mit dem Ende der Pandemie muss auch der Staat zur Normalität zurückkehren. Sollte er dennoch die Rechte der Einzelnen über die Ausnahmesituation hinaus weiter einschränken, hat der einzelne Bürger ein unbedingtes Recht auf Widerstand – ein ebenso gültiges und grundlegendes Freiheitsrecht. Sollte der Staat dennoch seine unbeschränkte Macht und die Einschränkung gewisser Grundrechte weiterhin ungerechtfertigt aufrechterhalten, in Notstandsgesetzen oder gar sich peu à peu in eine Diktatur verwandeln, darf der Bürger tatsächlich gegen den Staat aufstehen. Und erst dann gehört es zu seinen staatsbürgerlichen Pflichten, gegen den Leviathan auf die Straße zu gehen, gegen staatliche Willkür zu protestieren. Wenn der Staat ohne Legitimation in einer Notsituation sein Vetorecht missbraucht, hätte auch Hegel nichts gegen Demonstrationen und womöglich auch nichts gegen die Besetzung des Reichstages. Doch bis dahin bleibt Hegel zu Haus, allein ist er dabei nicht. Für viele bleibt Corona ein tödliches Virus – und die staatlichen Eingriffe seitens der Bundesregierung in die Bewegungsfreiheit nachvollziehbar, sinnvoll und legitim.

Setzt Angela Merkel auf Armin Laschet und lässt Merz fallen?

Stefan Groß-Lobkowicz27.10.2020Medien, Politik

In London, Manchester, Cardiff oder Edinburgh geht seit Tagen die Diskussion in Richtung befristeter Lockdown. Auch Deutschland scheint nun von dieser Taktik überzeugt. Nachdem bereits SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und Virologe Christian Drosten diese Form des Shutdowns begrüßen, ziehen nun die Bundeskanzlerin und mit ihr einmütig NRW-Ministerpräsident Armin Laschet nach. Das scheint ein neues Strategiespiel zu sein, um Laschet mehr für Berlin zu profilieren. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die Corona-Zahlen steigen weiter dramatisch. Doch keiner der führenden Politiker will einen Lockdown wie im Frühjahr. Anstatt über einen längeren Zeitraum hinweg, das öffentliche, gesellschaftliche und politische Leben auf Eis zu legen, ist das Zauberwort der Stunde ein kurzer und zeitlicher befristeter Lockdown. Eine britische Studie, die dieses Vorgehen nahelegt, rückt nun in den Fokus der Aufmerksamkeit des politischen Berlins und der Länder.

Die Lauterbach-Strategie

Auf einer drastischen Reduzierung von Kontakten setzt Karl Lauterbach seit Wochen immer wieder. Ein Lockdown sei nur abwendbar, so der Gesundheitsexperte, der nach wie vor an die Möglichkeit eines zweiten Shutdowns glaubt, wenn sie die Bevölkerung an die sogenannten AHA-Regeln hält. „Es wird darauf ankommen, wie sich die Bevölkerung verhält. Das ist wichtiger als einzelne Maßnahmen“, sagte der SPD-Gesundheitsexperte den Funke-Zeitungen. Die Frage sei, ob es gelinge, einen ausreichend großen Teil der Bundesbürger davon zu überzeugen, ihre Kontakte einzuschränken. Ansonsten würden Kliniken und Gesundheitsämter überlaufen werden, sagte Lauterbach. Die Folge seien „lokale Shutdowns“.

Lauterbach und Drosten für englische „Lockdown Light“-Strategie

Schon am Montag hatte Lauterbach auf die britische Studie verwiesen, die interessant sei, weil „mit systematischen Kurz-Shutdowns die Unterbrechung eines exponentiellen Wachstums gelingen könnte, bei gleichzeitiger Minimierung der ökonomischen und schulischen Kosten. Auch wären Unterbrechungen planbar, was Akzeptanz erhöhen würde.“ Deutschlands Chefvirologe Christian hatte ebenfalls den Blick auf das alte Empire gerichtet und getwittert: „England diskutiert über einen vorsorglichen, zeitlich befristeten Lockdown (#circuitbreaker/”Überlastschalter”), um die Zunahme von Neuinfektionen zu verzögern. Option wäre Herbst- und/oder Weihnachtsferien, um wirtschaftliche Auswirkungen zu begrenzen.“

Sowohl Drosten als auch Lauterbach, eher die Mahner in der Krise, haben damit grünes Licht für einen sogenannten „Lockdown Light“ gegeben. Mittlerweile fährt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fahrwasser der beiden Corona-Experten. Anstatt eines absoluten Stillstands sollen nun – im Unterschied zum Frühjahr –Schulen und Kitas weiter geöffnet bleiben. Ausgenommen bleiben Regionen mit katastrophal hohen Infektionszahlen.

Merkels neuer „Lockdown Light“-Strategie hatte sich jetzt auch Nordrhein-Westfalen unter CDU-Ministerpräsident Armin Laschet angeschlossen. Das Bundesland, neben Bayern und Baden-Württemberg derzeit mit den höchsten Corona-Fällen, will bei der Bund-Länder-Runde am Mittwoch mehrere Kontaktbeschränkungen vorschlagen. Aber auch hier sollen Schulen, Kitas und Betriebe von der Radikal-Beschränkung ausgespart bleiben, wie es in einem Thesenpapier aus dem nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium heißt. Konkret sieht dieses vor, das THE EUROPEAN vorliegt, dass es einen vollständigen Lockdown aus Sicht der nordrhein-westfälischen Landesregierung nicht geben soll. Stattdessen setzt man weiter darauf private Kontakte zu reduzieren.

„Lockdown Light“-Strategie der Kanzlerin spielt Armin Laschet in die Hände

Wurde Armin Laschet im Frühjahr noch wegen seines eigenständigen Vorgehens bei der Bekämpfung der Pandemie von der Bundeskanzlerin kritisiert, so scheinen Merkel und der Bewerber um das Amt des CDU-Parteivorsitzes jetzt die gleiche „Lockdown Light“-Strategie  zu verfolgen. Von der einstigen Kritik Merkels an Laschet, den diese für seine Öffnungs-Orgien während der ersten Corona-Welle kritisierte, ist nicht viel geblieben. Dieser neue Strukturwechsel hin zu Laschets moderater Anti-Lockdown-Politik mag den Verdacht bestätigen, dass die Bundeskanzlerin nun am Kurs von Laschet festhält und diesen gern als CDU-Vorsitzenden krönen will. Für Merkel ist Laschet einer ihrer treuesten Gefolgsleute der vergangenen Jahre. Er stand in der Flüchtlingskrise 2015 wie ein wärmendes Schild an ihrer Seite und hat die Politik der offenen Tore gemeinsam mit ihr getragen.

Wie sehr sich Merkel einen Lascht als CDU-Chef wünscht, zeigte sich am Montag eklatant mit der Absage des für den 4. Dezember geplanten Parteitages, wo aber nicht Laschet als siereicher Kandidat hätte die Lorbeeren ernten können, sondern Merkels Intimus Friedrich Merz. Denn aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge der Noch-CDU-Vorsitzenden Annegret Kamp-Karrenbauer war und ist Friedrich Merz, der nicht nur in den Umfragen weit vor Laschet und Norbert Röttgen liegt, sondern auch von den Parteimitgliedern der Basis sowie von der für die CDU hochbedeutsamen Mittelstandsvereinigung und von den Wertkonservativen in der Union starke Rückendeckung hat. Mit der Verschiebung des Parteitages und der neuen „Lockdown-Light“-Strategie könnte der linke Flügel der CDU nun doch gezielt Merz ausspielen, der die Verschiebung der Parteiversammlung als entschiedenen Angriff des Establishments auf seine Person deutete und dessen Möglichkeit, Kramp-Karrenbauer im Amt zu beerben durch die neue Koalition der Kanzlerin mit Laschet nun doch möglicherweise geringer wird. Anders als Merz kann sich Laschet aufgrund seines Amtes besser in der Corona-Krise profilieren, Merz hingegen kann immer nur zeitversetzt reagieren.

Die ganze Strategie, die die CDU gerade gegen Merz fährt, gleicht einer unheiligen Allianz. Dass sich etwas gegen den ehemaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusammenbraut, liegt offenkundig auf der Hand. Und selbst die Noch-CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer rückt selber in kein gutes Licht, wenn sie Merz oberlehrerhaft maßregelt und ihm vorwirft, dass er im Unrecht liege, wenn er verkündet, dass das Partei-Establishment ihn verhindern will. „Es ist jetzt nicht die Stunde des Taktierens oder für Spekulationen, was angeblich persönlich wem nützt. Corona ist eine Zumutung für uns alle. Es geht hier allein um die Frage, was nützt unserem Land und was nützt der CDU,“ so die ehemalige Ministerüräsidentin des Saarlandes und Verteidigungsministerin.

Dem politischen Diskurs und der CDU ist sicherlich mit solchen Statements wenig geholfen – und Corona nur der Vorwand, um den linken CDU-Kurs in der CDU weiter zu zementieren.

Friedrich Merz holt zum Angriff auf Parteiführung aus

Stefan Groß-Lobkowicz26.10.2020Medien, Politik

Lange wurde darüber diskutiert. Doch jetzt wird der Parteitag der CDU verschoben. Grund sind die steigenden Infektionszahlen innerhalb der zweiten Corona-Welle. Friedrich Merz, der in den Umfragen vor seinen Herausforderern Armin Lascht und Norbert Röttgen liegt, sieht in der Absage ein Komplott seiner eigenen Partei gegen seine Person. „Ich merke das seit einigen Wochen, es gibt Teile des Partei-Establishments, (…) beachtliche Teile, die verhindern wollen, dass ich Parteivorsitzender werde.“ so Merz. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Anfang Dezember sollte er sein, der große Parteitag der CDU. Und er wäre einer der wichtigsten gewesen – gerade auch mit Blick auf die kommende Bundestagswahl im nächsten Jahr. Ein neuer Parteivorsitzender sollte gewählt und damit auch die Nachfolge von  Bundeskanzlerin Angela Merkel, die für eine erneute Kanzlerschaft nicht mehr zur Verfügung steht, geregelt werden. Richtungsweisend sollte er sein, der Parteitag am 4. Dezember und zugleich für ein neues Profil der Partei stehen. So hatten sich die Kontrahenten, der Ministerpräsident der CDU von Nordrhein-Westfalen, Friedrich Merz und Ex-Bundesumweltminister Norbert Röttgen schon für das Finale warmgelaufen. Einer von ihnen sollte die derzeit noch amtierende Verteidigungsministerin Annegret-Kramp-Karrenbauer beerben.

Am Montagmorgen hatte Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer im CDU-Präsidium breite Zustimmung für ihren Vorschlag bekommen, den für den 4. Dezember in Stuttgart geplanten Parteitag abzusagen. Alternativ dazu soll nun Mitte Januar bei einer CDU-Bundesvorstandsklausur erneut darüber beraten werden, ob und wann ein CDU-Parteitag überhaupt möglich ist. Das Präsidium bevorzugt einen Präsenzparteitag. Ist dies aber aufgrund der aktuellen Corona-Situation auf absehbare Zeit nicht möglich, so  soll über Alternativen wie etwa eine Briefwahl entschieden werden.

CDU-Vize Armin Laschet hatte am Montag bei einem fünfstündigen Krisengespräch der CDU-Spitze auf eine Verschiebung des Parteitages gedrängt. Auch Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus sowie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und CDU-Präsidiumsmitglied Mike Mohring von der Thüringer CDU sprachen sich für eine Verschiebung des Kongresses aus.

Merz ist für Parteitag im Dezember – Laschet dagegen: Merz schießt gegen eigene Partei: „Gibt beachtliche Teile, die mich verhindern wollen”

Anders als seine Kontrahenten Laschet und Röttgen hatte der – in Umfragen derzeit aussichtsreichste Kandidat – Friedrich Merz derzeit keine Dringlichkeit für eine Verschiebung gesehen. Merz wollte in den kommenden Wochen endlich die Führungsfrage klären, notfalls in einem digitalen Format oder per Briefwahl. Sollte ein digitaler Parteitag am 4. Dezember nicht möglich sein, „dann lässt sich das mit Corona nicht mehr begründen. Dann gibt es offensichtlich Gründe, die mit Corona wenig oder gar nichts zu tun haben“, sagte Merz im ARD-Morgenmagazin. Wie der liberale Wirtschaftspolitiker Merz betonte, bemerke er seit einigen Wochen einen unguten Geist seiner Person gegenüber. Gleichwohl Merz gerade der Lieblingskandidat der Wirtschaftsliberalen in der Partei sei, wird gegen ihn jetzt Stimmung gemacht: Es „gibt Teile des Partei-Establishments, es sind Teile, es sind nicht alle, aber beachtliche Teile, die verhindern wollen, dass ich Parteivorsitzender werde”, so Merz. Und er hinzu: „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen Parteitag machen können.(…) Wenn ein Präsenz-Parteitag nicht möglich ist, dann müssen wir einen digitaler Parteitag und wenn wir das jetzt auch nicht machen” ist das unbegründbar.

Für Armin Laschet, der mit einer Hin- und Her-Coronapolitik bisher in der Wählergunst nicht punkten konnte und in den Umfragen deutlich hinter Friedrich Merz liegt, könnte die Verschiebung des Parteitages eine neue Chance sein, in der zweiten Coronawelle doch noch zu punkten und Merz vielleicht zu überholen. Laschet hatte sich erneut für die Verschiebung der CDU-Versammlung in der gestrigen Sendung bei „Anne Will“ stark gemacht. Begründet hatte er seine Entscheidug damit, dass die Bundeskanzlerin in einem Podcast am Samstag die Bundesbürger dazu aufrief, alle Kontakte in den nächsten Monaten radikal zu beschränken, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden und die Zahl der Infizierten nicht weiter in die Höhe zu katapultieren. Es sei, so die Argumentation von Laschet, ein widersprüchliches Zeichen, wenn man Künstlern Auftritte verbietet, das öffentliche Leben radikal herunterfährt und dann dennoch eine Veranstaltung mit über 1000 Personen zulässt. Das lasse sich nicht losch mit den derzeitigen Anti-Corona-Strategien vereinbaren und werfe zugleich ein schlechtes Licht auf das Corona-Management der Bundesregierung, das dann noch uneinheitlicher erscheine.

Auch die WerteUnion hatte sich gegen eine Verschiebung ausgesprochen. „Die unselige Diskussion um den Parteitag schadet der CDU bereits jetzt. Es gäbe nämlich trotz Corona ausreichende Möglichkeiten zur Durchführung der turnusmäßigen Vorstandswahlen, beispielsweise im Rahmen einer Online-Veranstaltung oder auch einer Briefwahl. Die Zeit drängt, denn der Nachfolger Annegret Kramp-Karrenbauers hätte bereits vor Monaten bestimmt werden sollen. Gerade im Hinblick auf die Vorbereitung der nächsten Bundestagswahl ist ein weiterer Aufschub inakzeptabel,“ so der Chef der Konservativen, Alexander Mitsch.

Hintergrund

Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte im Februar ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz angekündigt. Die Wahl ihres Nachfolgers war eigentlich für April geplant; wegen der Corona-Pandemie wurde der Termin auf den 4. Dezember verschoben. 1001 Delegierte sollen sich dann nach den bisherigen Planungen unter strengen Hygienevorschriften in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg, in Stuttgart versammeln. Erst vergangene Woche hatte die Junge Union ein Casting mit Friedrich Merz, Armin Lascht und Norbert Röttgen veranstaltet, um die Positionen der einzelnen Bewerber für den CDU-Vorsitz deutlicher zu akzentuieren. In einem Pitch suchte die junge Union den Superstar.

Covid-19 weniger tödlich als vermutet – Infektionssterblichkeit liegt bei 0,23 Prozent

Stefan Groß-Lobkowicz23.10.2020Wissenschaft

Die WHO hat eine Metastudie publiziert, die weltweite Antikörper-Studien ausgewertet hat. Der Grund: es geht darum, die Infektionssterblichkeit von Covid-19 zu bestimmen. Das Ergebnis ist erstaunlich: Möglicherweise ist das neuartige Coronavirus deutlich weniger tödlich, als bisher vermutet wurde.

Die Infektionszahlen steigen rasant an. Europa ist inmitten der zweiten Corona-Welle vor der Wissenschaftler gewarnt haben. Wahrend Deutschlands-Chefvirologe Christian Drosten auf Alarmstufe Rot schaltet und für den Ausnahmezustand plädiert, weil er mit weitaus mehr Corona-Toten rechnet, fährt sein rheinländischer Kollege Hendrik Streeck eine völlig andere Strategie. Er geht anders als Drosten von einer geringen Sterblichkeit aus und plädiert in der Notsituation für keinen zweiten Lockdown. Gleichwohl auch Streeck die Gefahr, die vom Virus aus Wuhan ausging, nicht herunterspielt, sieht der doch in den Maßnahmen der Bundesregierung und im Alarmismus des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach eine dramatische Überzeichnung der Gefährlichkeit von Covid-19.

Die Frage bleibt: Wie tödlich ist Covid-19 wirklich? Ein Streit unter Experten verunsichert derzeit alle Bevölkerungsgruppen. Handelt es sich bei der Krankheit nicht mehr um eine saisonale Grippe, die nur qualitativ und quantitativ dramatischer als Corona ist? Einigkeit hingegen herrscht darüber, dass an Corona mehr Menschen gestorben sind als an einem gewöhnlichen Influenza-Virus, der alljährlich für eine hohe Mortalität – insbesondere unter älteren Risikopatienten sorgt. Immer wieder wird auf die hohe Sterblichkeit der Influenza in den Jahren 2018/2019 angespielt – und die jetzt beschlossen drakonischen Anti-Corona-Maßnahmen dagegen ausgespielt. Damals, so die Kritiker, hatte man weder die Alten geschützt noch über so etwas wie einen Lockdown überhaupt nicht nachgedacht. Doch welch tödliche Kraft das Virus entfalten kann, zeigte sich exponentiell in der ersten Welle ab März.

Ende Oktober hatte das Bulletin der WHO eine Metastudie der Stanford-Universität veröffentlicht, die zu einem anderen Befund kommt. In dieser wurde die sogenannte Infektionssterblichkeit anhand von weltweiten Antikörper-Studien ermittelt. Dabei kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Covid-19 zwar tödlicher als die Grippe sei, aber weitaus nicht so gefährlich wie bisher angenommen wurde.

Renommierter Wissenschaftler veröffentlicht Studie, die die Sterblichkeit durch Covid-19 deutlich nach unten korrigiert

Federführend bei der neuen Studie war John P. A., Professor für Medizin und Epidemiologie an der Stanford-Universität. Er gilt, so die Berliner Einstein-Stiftung, als einer der derzeit einflussreichsten und meistzitieren Wissenschaftlern der Welt. Wenn es um die Einordnung der Gefährlichkeit des Virus geht, steht Ioannidis als Mister 10 auf der Top-Liste der Experten – zudem wurde seine Studie bereits geprüft und editiert.

Insgesamt hat der Epidemiologe 61 Studien ausgewertet. Im Fokus stand dabei, wie viele Personen eines Landes oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut haben. Diese Untersuchung ist wichtig, weil sich daraus ermitteln lässt, wie hoch in dieser Gruppe die tatsächliche Infektionsrate ist, wie viele davon sich tatsächlich infiziert haben.

Zwar handelt es sich bei den sogenannten Seroprävalenzen nur um ungefähre Werte, weil insbesondere früh Antikörpertests als relativ unzuverlässig gelten, dennoch könnte die Studie recht zuverlässig sein. Ioannidis bezog sich dabei auch auf die Gangelt-Studie von Hendrik Streeck.

Der Epidemiologe hatte immer wieder eingeräumt, dass Antikörper-Studien nicht perfekt sind. Letztendlich weiß man nie genau, ob sie tatsächlich ein repräsentatives Bild einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zeichnen und ob man die regionalen Ergebnisse schließlich auf die Situation in einem ganzen Land übertragen kann. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass in den meisten Gebieten eine Infektionssterblichkeit unter 0,20 Prozent existiere.

Durchschnittliche Infektionssterblichkeit liegt nur bei 0,23 Prozent

Ioannidis hatte in seiner Metastudie eine durchschnittliche Infektionssterblichkeit über 51 Standorte hinweg von 0,27 Prozent errechnet. Korrigierte sie später auf 0,23 Prozent. Zu einem noch überraschenderen Ergebnis kam er dort, wo weniger als 118 Todesfällen pro eine Million Menschen verzeichnet wurden. Dort betrug die Rate lediglich 0,09 Prozent. Wo 118 bis 500 Covid-19-Tote pro eine Million Einwohner gezählt wurden, betrug sie 0,20 Prozent. Und an Orten, die am schlimmsten von der Covid-Pandemie betroffen wurden errechnete er eine Infektionssterblichkeit von 0,57 Prozent. Auch mit Blick auf Bevölkerungsgruppen, die unter 70 Jahre alt sind, kam er zu einem anderen Befund als Christian Drosten. Während Deutschlands Corona-Virologe von einer Sterblichkeit in der Bundesrepublik von rund einem Prozent ausgeht, ist sich Ioannidis sicher, dass die durchschnittliche Rate sogar nur 0,05 Prozent betrage.

Urlaub – Aber bitte nur mit dem Coronavirus

Stefan Groß-Lobkowicz22.10.2020Medien, Politik

Haben Sie dieses Jahr schon Ihren Urlaub geplant und hatten Sie Corona? Dann dürfen sie zumindest auf die brasilianische Atlantikinsel Fernando de Noronha. Es ist grotesk, aber während auf der ganzen Welt die Zahl der Coronazahlen dramatisch steigt, verfolgt ein Inselparadies im Atlantik ein völlig anderes Programm. Corona ist erlaubt, ja Pflicht bei der Einreise.

Verschwindend klein liegen die idyllischen Inseln vor der Küste Brasiliens, inmitten das Urlaubsparadies Fernando de Noronha. Die Idylle, 1503 von Amerigo Vespucci erstmals erwähnt, ein Pflanzen-, Tier- und Tauchparadies mit weltweitem Ruf, liegt nur 350 km vom Festland entfernt. Von paradiesischen Zuständen kann man dort nur träumen, sei es in São Paulo, Brasilia, Rio de Janeiro oder Salvador. Das Coronavirus fräst sich seit Monaten hinweg wie eine gefräßige Raupe durch die Bevölkerung  und lässt die Todeszahlen rasant wie dramatisch nach oben klettern. In Brasilien, wo Rechtsaußen Jair Messia Bolsonaro mit harter Hand regiert und wie sein amerikanisches Vorbild Donald Trump die Gefahr es Coronavirus herunterspielt, wurden bis Mitte Oktober 5.251.127 Personen mit dem Coronavirus infiziert; 154.226 sind mittlerweile gestorben. Von Bolsonaro, selbst mehrfach an Corona erkrankt, hat man auf Fernando de Noronha die Nase gestrichen voll. Es ist bekannt, dass Bolsonaro die Umwelt egal und er nichts von Corona, trotz Mehrfach-Corona-Infektionen, und nichts von Maskenpflicht, Abstandsregeln und Kontaktsperren hält.

Nach Monaten der Isolation lässt die Insel wieder Touristen rein

Corona hatte die Atlantik-Inseln mit dem Inseln schünen Archipel Fernando de Noronha in den letzten fünf Monaten fest in Schach gehalten. Ende März zogen die Verantwortlichen dann die Konsequenzen und sperrten das Eiland sowohl für nationale wie internationale Touristen. Das ganze Areal, das zum Weltnaturgut der UNESCO zählt, wurde verbarrikadiert und erklärte Tabuzone. Unter den 3000 Einwohnern, die seit rund vierhundert Jahren die Inseln besiedeln, gab es 93 bestätigte Fälle. 17 Menschen wurden positiv auf das Virus getestet.

Das neue Gesundheitskonzept: Bitte nur mit Corona

Die Bewohner der kleinen Insel im Atlantik hatten daraufhin ein alternatives Konzept zur Bekämpfung einer der weltweit schwersten Pandemien entwickelt. Auf die Insel dürfen nur noch Urlauber, die schon Corona hatten. Seit September müssen diese ein positives Testergebnis nachweisen. Erlaubt ist ein positiver PCR-Test, der mehrere Tage vor dem Anreisetag durchgeführt werden muss. Schnelltests werden nicht akzeptiert.

Wer keinen Laborbericht vorlegen und damit nachweisen kann, dass er bereits an Covid-19 erkrankt war, dem versagt das Paradies die Einreise. Spätestens am Flughafen Recife in Nordbrasilien ist dann Schluss. „Wir können keine Ausnahme machen“, erklärt der Mann am Schalter. Dennoch: Die Flugzeuge sind gut gefüllt. Mitte Oktober startete der Flieger Richtung Fernando de Noronha – vollbesetzt mit 80 Touristen an Bord mit Corona-Antikörpern im Blut.

Insel-Chef Guilherme Rocha will nach den harten Coronazeiten, wo einzig und allein die gute Nachbarschaftshilfe die Insulaner vor dem völligen finanziellen Ruin rettete, um jeden Preis verhindern, dass das Coronavirus seine Insel durch die Touristen nachträglich doch noch einmal erreicht. „Wir haben rigorose Maßnahmen ergriffen, um Corona von uns fern zu halten.“ Das flächenmaschige Überwachungsnetz wird von den Gesundheitsbehörden der Insel stichprobenartig überprüft, eine fast lückenlose Überwachung. Und man ist sich bei so viel gebotener Vorsicht sicher: „Wir werden mit zunehmendem Tourismusansturm keinen Ausbruch erleben“, so Leticia Maria vom Gesundheitsamt.

Das Paradies Fernando de Noronha war schon immer exklusiv

Schon vor der weltweiten Pandemie galt ein Besuch auf Fernando de Noronha als etwas Besonders. Für die Zahl der Touristen gab es eine Obergrenze, eine Naturtaxe wurde fällig und der Naturschutz stand an erster Stelle. Einer der exklusivsten Reiseziele in Brasilien hatte sich immer wieder vor dem Massenansturm samt Kreuzfahrtschiffen gewehrt. Die Bewohner waren stolz auf ihre Heimat, wo sich eine Vielzahl endemischer Pflanzenarten erhalten konnte und eine Tierpopulation der Superlative. Das wollen sie sich weder vom Virus noch vom inkarnierten Corona-Populisten Bolsonaro zerstören lassen, der den Regenwald gewissenlos abrodet und vom dem bekannt ist, dass er ein Gegner strenger Umweltauflagen ist. Bitte ohne Bolsonaro, aber bitte mit Corona – so lautet die Maxime der Insulaner, die mit ihrer Anti-Corona-Strategie sicherlich ein sehr ungewöhnliches Projekt verfolgen.

 

Interview mit Norbert Bolz – Die grüne Apokalypse ist die einzige gesellschaftspolitische Botschaft

Stefan Groß-Lobkowicz19.10.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Im Grunde gibt es nur noch eine gesellschaftspolitische Botschaft – und das ist die grüne Apokalypse. Alle anderen Parteien, sei es die CDU oder die SPD, passen sich da an. Egal, wer eine Regierung bildet, es wird eine Regierung aus diesem Geist sein, meint Norbert Bolz im Gespräch mit The European.

 

Herr Professor Bolz: Wie würden Sie die gesellschaftliche Rahmenlage der Bundesrepublik derzeit beurteilen? Ist die Demokratie auf dem Rückzug?

 

Die Demokratie ist tatsächlich auf dem Rückzug. Rein formal juristisch, verfassungsrechtlich betrachtet, ist ja alles in Ordnung. Aber zur Demokratie gehören auch die Bürger, die die formalen Rahmenbedingungen des demokratischen Zusammenhalts ausfüllen und sie tun das in der Öffentlichkeit mit ihren freien Meinungsäußerungen. Hier sehen wir tatsächlich einen sehr deutlichen Rückzug der Demokratie. Es fehlt immer mehr am Bürgermut, in der Öffentlichkeit die eigene Meinung zu artikulieren. Hierbei spielen Angst vor Mobbing, Shitstorm, aber auch vor einem möglichen Jobverlust und der Repression eine große Rolle. Es scheint sich derzeit, wie schon vor Jahrzehnten Elisabeth Noelle-Neumann warnte, eine Art Schweigespirale aufzurichten. Das aber ist für eine funktionierende und lebendige Demokratie tödlich.

 

Derzeit sprechen alle über Cancel Culture als dem neuen Maulkorb. Was darf man eigentlich noch sagen und warum lassen sich das die Leute gefallen?

 

Cancel Culture ist ja nicht nur deutschlandspezifisch, sondern auch im England als dem Mutterland der Demokratie stark ausgeprägt. Ein Grund dafür, warum sich das die Leute gefallen lassen, ist, dass eine gut artikulierte intelligente Minderheit sehr rasch den Eindruck erwecken kann, die Mehrheitsmeinung zu präsentieren. Und alle diejenigen, die de facto sogar in der überwiegenden Mehrheit sind, normale Bürger mit gesundem Menschenverstand also, gewinnen dann den Eindruck, sie seien in der Minderheit und würden so von einem Grundkonsens der Gesellschaft abweichen. Und weil die Cancel Culture es nicht bei Propaganda belässt, sondern im Grund alle abweichenden Meinungen auch mit Karriereverlust, Isolation, sozialem Boykott bedroht, sind die meisten Menschen wohl ängstlich geworden. Da sie aber gleichzeitig immer noch im Wohlstand leben, denken sie dass das Risiko, den persönlichen Wohlstand aufs Spiel zu setzen, nur um sich der Meinungsfreiheit anzudienen, zu groß ist. Es ist bei den meisten Menschen eine Güterabwägung, und sie sagen sich: Ich halte einfach meinen Mund. Es ist zwar alles Wahnsinn was da geschieht, aber solange ich und meine Familie ein gutes Auskommen haben, will ich das nicht gefährden. In dieser Art würde ich mir die Duldung des Wahnsinns erklären.

 

Es ist wie in der DDR?

Richtig

 

Virologen sind in der Coronakrise die neuen Orakel. Geraten wir wieder in eine mythische Welt? Oder: Verfallen wir derzeit in eine neue Wissenschaftsgläubigkeit und damit eigentlich in eine neue Metaphysik?

 

Es ist leider Gottes wahr. Das ist aber nicht ursprünglich eine Schuld der Wissenschaft selbst. Wissenschaftsgläubigkeit ist ja eigentlich ein Begriff, der sich selbst widerspricht. Der Wissenschaft soll man ja gerade nicht glauben, sondern sich an ihren Hypothesen orientieren, um dann selber zu einem vernünftigen Urteil zu gelangen. Gerade der berühmte Slogan: „Folge der Wissenschaft“ ist so unwissenschaftlich wie nur möglich. Jeder moderne Wissenschaftler weiß, dass er nur Hypothesen entwickelt, von denen er nur hoffen kann, dass diese besser geeignet sind als mögliche konkurrierende. Aber kein Wissenschaftler kann als Wissenschaftler Wahrheitsansprüche vertreten. Niemand, der sich als Wissenschaftler versteht, würde sich als Führer einer Gesellschaft betrachten.  Zu einer Wissenschaftsgläubigkeit kommt es, wenn zwei Dinge mit ins Spiel kommen: Zum einen, weil sich die Politiker gern hinter den sogenannten wissenschaftlichen Experten verstecken, also die Last der politischen Entscheidungsverantwortung nicht tragen wollen, sondern diese auf die wissenschaftlichen Berater abschieben. Ein anderer Grund ist, dass in Zeiten hoher existentieller Verunsicherung die Menschen gern glauben, dass es einen wahren und richtigen Weg, dass es eine Wahrheit gibt. Das ist verständlich, aber es widerspricht vollkommen dem Geist der Wissenschaft. Und wenn es einige Wissenschaftler gibt, die zu Medienstars avancieren, dann ist das diesen Wissenschaftlern, so meine ich, selbst peinlich. Jeder Mensch ist schwach genug, da nehme ich mich nicht aus, um noch schwächer zu werden, wenn er in die Massenmedien kommt, ein Star wird. Der Wissenschaftler als Wissenschaftler weiß aber, dass dies seinem Berufsethos widerspricht. Auch die Virologen als die neuen Medienstars praktizieren ihre Starrolle, so glaube ich, nur mit schlechtem Gewissen.

 

Sie waren immer ein kritischer Zeitgeist, sind dies immer noch und wurden darob auch immer angefeindet. Sie haben wieder ein neues Buch geschrieben. Diesmal mit dem Titel „Avantgarde der Angst“. Der Titel erinnert ein wenig an Sören Kierkegaard. Warum gerade das Thema Angst und warum gerade 2020?

 

Kierkegaard und Heidegger sind philosophische Bezugspunkte, die man nicht ignorieren darf, wenn man über so ein Thema schreibt. Der Anlass, dieses Buch zu schreiben, war allerdings ein anderer, ein pragmatischer. Ich hatte das Buch bereits vor Corona geschrieben. Bei vielen großen politischen Themen ist mir deutlich geworden, dass sich die Menschen gar nicht von konkreten Befürchtungen, Dinge die ihren also Alltag prägen, irritieren lassen, sondern dass sie sich von Apokalypsen und Visionen mehr oder minder fangen und in die Unmündigkeit treiben lassen – also von den apokalyptischen Visionen vom Untergang der Welt. Da existiert eine große Kontinuität zu den großen Themen wie Eiszeit, Waldsterben, CO2 bis hin zur Klimakatastrophe. Es gibt eine Fülle von imaginären Angstszenarien, die die Menschen schon seit langer Zeit in Atem halten. Und ich habe mich gefragt, was das bedeuten könnte. Und die Antwort, die ich gegeben habe, ist, dass es sich hierbei um eine Art Ersatzreligion handelt. Früher war man auf das Heil ausgerichtet, solange man religiös war. Heute ist man an seinem Gegenpol angekommen. Man erwartet das Unheil und richtet sein Leben an diesem imaginären Unheil aus. Das funktioniert aber genauso wie die religiöse Heilserwartung. Das Ganze wird aber noch durch die Verheißung gesteigert, dass man glaubt, dieses drohende Unheil noch im letzten Augenblick mit Mitteln der Vernunft retten zu können, die jedem einzelnen Bürger zur Verfügung stehen. Also ganz pragmatisch: im Hotel – die Handtücher mehrfach benutzen; die Aufforderung, den Müll zu trennen; kein Fleisch zu  essen. Alle diese Verbote haben den gemeinsamen Nenner, der darauf hinausläuft: Du selbst kannst heute im Konkreten etwas dazu beitragen, dass das Unheil, das die Welt bedroht, im letzten Moment noch abgewendet werden kann. Und dies ist natürlich ein fantastisches Angebot, eine Ersatzreligion, die ein Unheil, eine Apokalypse heraufbeschwört und zugleich das Angebot für jeden Einzelnen macht: er kann seine Seele und die Welt mit ganz konkreten Handlungen des Alltags retten. Das fasziniert unendlich viele Menschen gerade in der westlichen Wohlstandwelt. Dieses Geschäft mit der Angst, oder diese Angstindustrie, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, ist eine der dominierenden Wirklichkeiten der modernen Gesellschaft.

 

Sie haben jahrelang die Medienlandschaft mitgeprägt. Wie sieht diese heute aus, gerade auch im Hinblick auf den Journalismus? Was hat sich mit Blick auf die letzten dreißig Jahren verändert?

 

Was sich geändert hat, kann man deutlich sagen. Auf der einen Seite die technologische Veränderung. Es gibt die Konkurrenz zu den klassischen Massenmedien durch die Sozialen Medien, die Internetmedien, die so eine Art Autoritätsverlust der klassischen Medien gebracht haben. Das geht bis hin zur Vorstellung des Bürgerreporters, der glaubt seine Meinung journalistisch zu erbringen. Dem entspricht auf der anderen Seite ein vollkommener Strukturwandel der klassischen Medien. Da beobachtet man das Ende der Objektivität, wie man dies auch nennen könnte. Was wir jetzt haben, ist ein Haltungsjournalismus oder werteorientierter Journalismus. Und das heißt: Der Journalist versteht sich als Oberlehrer der Nation. Er will nicht berichten, sondern belehren. Dafür gibt es eine wunderbare Anekdote. Anja Reschke hatte im vergangenen Jahr den Hanns-Joachim Friedrichs-Preis bekommen. Bei der Preisverleihung wurde das berühmteste Zitat von Hajo Friedrich eingeblendet. „Ein Journalist soll sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten.“ Als die Preisträgerin ihre Dankesrede hielt, sagte sie: Hajo Friedrich hat genau das Gegenteil gemeint. Wir sollen Haltung zeigen und Partei ergreifen. Man scheut heute also auch in den Reihen der Journalisten selbst nicht mehr davor zurück, Sätze buchstäblich auf den Kopf zu stellen, den entgegengesetzten Sinn zu unterstellen. Dies läuft letztendlich auf einen Verzicht des Journalismus hinaus. Man will eher als Missionar und als Aktivist auftreten, wenn man heute Journalist ist – und mal will gar keine journalistischen Leistungen mehr bringen. Der „Stern“ hat mit seiner Aktion, „Fridays for Future“ macht den neuen Stern und die Aktivisten sind die Autoren für die neue Nummer, das wunderbar auf den Begriff gebracht: Man verzichtet auf Journalismus zugunsten von Haltung, Propaganda, Engagement und Aktivismus. Damit einher geht die sogenannte Cancel Culture, das zum-Schweigen-Bringen. Man entzieht allen abweichenden Meinungen und Plattformen die Existenz. Aber nicht nur in der politischen, sondern auch in der in der Welt der Unterhaltung wird seit Jahren radikal politisiert. Jan Böhmermann ist nur ein Beispiel für Entertainer, die sich als politische Aktivisten verstehen.

 

Sie hatten „Fridays for Future“ schon genannt. Unlängst sagten Sie: „In der Welt der Mahner und Warner wird die Apokalypse zur Ware“. Das wirft man beispielsweise Greta Thunberg und den Vermarktern der Klima-Ikone vor. Gibt es noch weitere Beispiele, die Sie hier im Blick haben?

 

Die Apokalypse als Ware ist das Betriebsgeheimnis der Grünen. Alle Grünen, bis auf die Realos in Baden-Württemberg, folgen dieser Spur. Die Grünen von heute, ob Robert Habeck, Annalena Baerbock oder Luisa Neubauer als Marketing-Chefin von „Fridays of Future“ – sie sind Apokalyptiker. Im Grunde steht die ganze Umweltbewegung dafür, die sich bis in die 60er Jahre zurückverfolgen lässt. Paul Erlich hat mit seinem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ geradezu die Apokalypse an die Wand gemalt. Dort hieß es schon: Die Welt geht unter, die Ressourcen werden knapp, es gibt kein Erdöl und keine Bodenschätze mehr usw. Diese apokalyptischen Szenarien sind eine große ersatzreligiöse, fast gnostische Bewegung, die sich seit Jahrzehnten – mit immer wechselnden Schwerpunkten, aber der immer gleichen Botschaft – in der westlichen Wohlstandswelt entwickelt hat. Die Botschaft bleibt immer dieselbe – es ist fünf vor Zwölf. Auch die berühmte Weltuntergangsuhr passt in dieses Bild. Diese wurde auf 100 Sekunden vor Weltuntergang von Wissenschaftlern selbst gestellt. Also als Intellektueller schämt man sich in Grund und Boden, wenn man derartigen Unfug hört. Aber es läuft und funktioniert. Die Aktivisten der Umweltbewegung haben mit den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wunderbare Organisationsplattformen gefunden. Und sie erhalten mittlerweile größte Unterstützung aus der Politik und der Wirtschaft, die seit Jahrzehnten ein groß angelegtes Greenwashing betreibt. Das greift alles in einen perfekten Mechanismus ineinander. Es werden immer mehr Parteien, die sich dafür zu Plattformen machen, sei es aber auch die grüne oder die blaue Industrie. Sie alle machen ein Geschäftsmodell aus dem Protest und der Apokalypse.

 

Spiegelt sich dieses Denken auch in der Wahl der Grünen, in ihrem derzeitigen Hype wider? Grüne und die Union stehen derzeit wieder ganz vorn in der Wählergunst.

 

Absolut. Ich sehe da auch gar keine Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Sowohl bei rot-rot-grün als auch bei schwarz-grün dominiert grün, egal wie letztendlich die Prozentzahlen sein werden. Es ist der einige gemeinsame Nenner, weil es die ersatzreligiöse Faszinationskraft ist, die die Menschen derzeit anzieht. Die anderen Parteien haben gar kein Programm mehr. Sie sind allesamt konturlos. Im Grunde gibt es nur noch eine gesellschaftspolitische Botschaft – und das ist die grüne Apokalypse. Alle anderen Parteien, sei es die CDU oder die SPD, passen sich da an. Egal, wer eine Regierung bildet, es wird eine Regierung aus diesem Geist sein.

 

Immanuel Kant stellt für seine Philosophie die großen vier Fragen auf: „Was soll ich tun?“ „Was darf ich hoffen?“ „Was ist der Mensch?“ „Wann kann ich wissen?“ Sie haben das „Was soll ich hoffen?“ in ein „Was muss ich fürchten?“ umgewandelt. Ist das die große Frage, die die Zukunft bestimmen wird?

 

Ich denke schon. Dafür spricht vieles auch außerhalb meines engeren Themas Umweltapokalypse. Wenn man an den wachsenden Sicherheitsbedarf denkt, an das Bedürfnis wachsender Sicherheit, sieht man, dass der Staat als solcher immer problematischer wird. Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Urversprechen, welches Thomas Hobbes formuliert hat, dass der Staat Schutz bietet und im Gegenzug dafür Gehorsam verlangt, dass dieses Urversprechen beziehungsweise dieser Urvertrag immer brüchiger wird. Derzeit gibt es neue Motive für Verunsicherung und Verängstigung der Bürger. So die permanente Bedrohung durch Terrorismus, durch Massenmigration und durch multikulturelle Zumutungen. Die Gründe für Verunsicherungen, Angst und Furcht wachsen. Sie sind fast koextensiv mit der modernen Gesellschaft und deshalb wächst auch das Bedürfnis nach Sicherheit – und das ist mit Sicherheit eine der großen Industrien. Die Angstindustrie produziert das Bedürfnis nach Sicherheit und schafft so einen wachsenden Bedarf für die Sicherungsindustrie. In vielen Bereichen sind die Ausgaben, die man für Sicherheit ausgibt, viel höher als die Ausgaben für die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Techniken. Beispiel: Ein Computernetzwerk zu sichern ist kostspieliger als der Computer selbst. Die Hoffnung reduziert sich fast darauf, dass es dieser Gesellschaft doch noch gelingt, genügend Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, um die Bedrohungen einigermaßen in Schach zu halten.

 

Wenn wir in einem Zeitalter der Angst leben, kann dieses ja vielleicht nicht das letzte Wort sein, oder? Hölderlin sagte bekanntlich einmal: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Haben wir in der Welt, die sich zeichnen, noch so etwas wie Hoffnung?

 

Ich muss Ihnen ehrlich sagen, da muss ich passen. Mir fällt es schwer, eine utopische Wende in die ganze Sache zu bringen. Das liegt daran, weil zu viele Faktoren dabei eine Rolle spielen, auf die man überhaupt keinen Einfluss haben kann. Dazu gehört beispielsweise die weltweite Völkerwanderung, deren Ende überhaupt nicht abzusehen, sondern gerade erst begonnen hat. Auch die Besitzergreifung hochmoderner Technologien durch bisher noch unterentwickelte Länder gehört ebenso dazu wie die Undurchschaubarkeit der globalen Weltwirtschaft und der Finanzströme. Kein Mensch kann diese Dynamiken durchschauen. Wenn man bescheidener bei der Frage nach dem Rettenden ist, dann ist es für mich nur die Hoffnung, dass demnächst eine junge Generation heranreift, die sich nicht alles bieten lässt. Die eben „Nein“ dazu sagt, dass wir im Land der unbegrenzten Zumutungen und Zumutbarkeiten leben und das nicht länger ertragen will. Ich hoffe auf eine junge Generation, für die Freiheit wieder der oberste Wert wird. Dann könnte sich vielleicht etwas ändern. Und das könnte auch die Atmosphäre, in der wir leben, reinigen und das würde den sozial-psychologischen Druck von uns allen nehmen, der in dieser Cancel Culture Welt auf uns allen lastet. Auf das Genie der Jugend, der irgendwann aufflammen muss, setze ich meine Hoffnung, auf einen Mentalitätswechsel.

 

Was sagt der Medienwissenschaftler und Professor zum Phänomen Donald Trump? Die nächste Präsidentschaftswahl steht an!

 

Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären. Und diese Erklärung wurde auch vielfach gegeben. Die Leute haben Donald Trump gewählt, weil sie die Nase vom Washingtoner Establishment und den geradezu hündisch nachfolgenden Medien, die eine schwarz-weiß-Zeichnung zwischen guten und bösen Menschen gemacht haben, voll haben. Das Washingtoner Establishment, wie das unsrige in Deutschland auch, war gekennzeichnet durch maßlose Heuchelei und durch ein elitäres Bewusstsein der Intellektuellen, die die Ideologie dieses Establishment entwickelten und das gemeine Volk zu Idioten degradierten, die man belehren und an die Hand nehmen muss. Das war vielen Menschen in Amerika einfach zu viel. Deswegen haben sie lieber einen groben Typen als Alternative gewählt, der bei aller Brutalität wenigstens ehrlich war. Bei der Neuwahl, die jetzt ansteht, ist das genau die Frage. Gibt es wieder einen Rückschlag und versöhnen sich die Amerikaner erneut mit dem alten Washingtoner Establishment, das mit Joe Biden ein Musterbeispiel in den Wahlkampf geschickt hat? Bislang bleibt alles offen.

 

Fragen: Stefan Groß

Brutaler Terror in Paris: Wer es wagt, Mohammed zu kritisieren, stirbt

Stefan Groß-Lobkowicz19.10.2020Europa, Medien

Wer es wagt, Mohammed zu kritisieren, stirbt. Kritische Stimmen, die den fundamentalen Islam hinterfragen, sind weiterhin unerwünscht. Wer Mohammeds Lehren hinterfragt, wird enthauptet. Fünf Jahre nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ hat ein Flüchtling tschetschenischer Herkunft einen Lehrer in Paris enthauptet, weil dieser im Schulunterricht die Mohammed-Karikaturen zeigte.

Eine Bluttat erschüttert Frankreich. Der Attentäter ein 2002 geborener Mann russischer und tschetschenischer Herkunft. Der Flüchtling, der seit diesem Frühjahr mit einer Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich lebt, hatte in einen Pariser Vorort einen Lehrer enthauptet, der im Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammed zeigte. Nach der Ermordung des Lehrers hatte der Angreifer noch ein Foto des Opfers im Netz veröffentlicht und richtete eine Nachricht an Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, den er als „Anführer der Ungläubigen“ bezeichnete. „Ich habe einen Ihrer Höllenhunde hingerichtet, der es wagte, Mohammed herabzusetzen.“

Bildungsminister Jean-Michel Blanquer hatte die Tat als Angriff auf die Trennung zwischen Religion und Kirche bezeichnet. „Es gibt eindeutig Feinde der Republik, sie sind gegen die Republik und damit gegen die Schule, denn die Schule ist das Rückgrat der Republik“. Die Franzosen haben eine lange laizistische Tradition. Im Land, wo einst die Aufklärung mit der Französischen Revolution ihren Ausgang nahm, sind Kirche und Staat sind seit mehr als 100 Jahren getrennt. In der Verfassung für die fünfte Republik von 1958 ist die Religionsfreiheit festgeschrieben.

Frankreich kämpft seit Jahren vergeblich gegen den Terror islamischer Fundamentalisten

Seit Jahren kämpft das Land immer wieder mit islamistischen Anschlägen. Allein in vergangenen Jahren starben 250 Menschen durch Terror. Erst vor  einigen Wochen gab es vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude von „Charlie Hebdo“ in Paris eine Messerattacke. Zwei Menschen wurden verletzt. Tatmotiv war auch hier – wie bei der Enthauptung des Geschichtslehrers am vergangenen Freitag –  die Mohammed-Karikaturen. Damit setzt sich die Reihe von Terroranschlägen weiter fort. Vor fünf Jahren hatte es einen verheerenden Mordanschlag auf die Satirezeitung gegeben, bei dem die wichtigsten Zeichner des Blattes getötet wurden.

Auch die Enthauptung des Lehrers im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine passt ins Bild eines immer wieder aufflackernden Islamismus. Wer gegen Mohammed ist, verdient den Tod, so die überzeugten Dschihadisten. Der 18-jährige Angreifer tötete den 47 Jahre alten Lehrer und hatte diesen anschließend enthauptet. Am Tatort fanden die Ermittler auch ein rund 30 Zentimeter langes blutverschmiertes Messer. Der Täter selbst wurde bei seiner Festnahme von der französischen Polizei erschossen und starb an den Folgen seiner Verletzung.

Die Republik sei vom islamistischen Terrorismus in ihrem Herzen getroffen worden, erklärte Premierminister Jean Castex und der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach kurze Zeit nach der Tat bereits von einen islamistischen Terrorakt. Es sei kein Zufall, dass ein Terrorist ausgerechnet einen Lehrer ermordet habe, weil er das Land in seinen Werten habe angreifen wollen, so der sichtlich getroffene Staatschef in der Nähe des Tatorts.

Seit Jahren setzt die französische Regierung im Kampf gegen den radikalen Islamismus auf Bildung „Die Schule bildet den freien Geist, aufgeklärte Bürger – und genau das ist es, was die Islamisten, die von Dummheit, Unwissenheit, Indoktrination und Hass leben, nicht tolerieren können“, so die Beigeordnete Ministerin im Innenministerium, Marlène Schiappa dem Sender Franceinfo.

Dem Angriff auf den Geschichtslehrer waren seit Anfang Oktober Drohungen vorausgegangen. Der Lehrer hatte Anfang Oktober im Rahmen des Unterrichts das Thema Meinungsfreiheit aufgegriffen. Anlass war die erneute Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen seitens des Satiremagazins “Charlie Hebdo”. Der Lehrer zeigte im Unterricht entsprechende Karikaturen.

Ein Vater hatte daraufhin Posts in den Sozialen Netzwerken veröffentlicht und sich bei der Schulleitung beschwert sowie gegen den Lehrer mobil gemacht. Wie inzwischen klar wurde, wurde er von einem bekannten Islamisten in die Schule begleitet. Auch er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft.

Politiker aus dem internationalen Ausland haben unterdessen ihre Anteilnahme gegen den brutalen Angriff zum Ausdruck gebracht. „Von Terror, Extremismus und Gewalt dürfen wir uns nie einschüchtern lassen“, schrieb der deutsche Außenminister Heiko Maas auf Twitter. „Meine Gedanken sind auch bei den Lehrern, in Frankreich und in ganz Europa. Ohne sie gibt es keine Bürger. Ohne sie gibt es keine Demokratie“, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Hintergrund

Seit Jahren ist die Terrorgefahr fast ständig im Bewusstsein der Menschen. Frankreichs Regierung machte den Kampf gegen den Terror zur Priorität und hatte stets davor gewarnt, dass die Gefahr von Terrorangriffen sehr hoch sei.

Beim Beherbergungsverbot ist Deutschland gespaltener denn je

 

Stefan Groß-Lobkowicz16.10.2020Medien, Politik

Viele Bundesbürger sind aufgrund der lokal verhängten Corona-Bestimmungen verunsichert. Das Vertrauen, dass Berlin die Probleme löst, scheint in den Reihen der Bevölkerung zu schwinden. Beim Beherbergungsverbot zeigt sich der ganze Flickenteppich von Maßnahmen, die zunehmend Verärgerung hervorrufen.

Viele Bundesbürger können die lokalen Maßnahmen zur Pandemie nicht nachvollziehen und fühlen sich anhand der vielen Regeln und Verbote überfordert und von der Regierung im Stich gelassen. Zwei Drittel (68 Prozent) sind, wie aus dem am Donnerstag veröffentlichten ARD-“Deutschlandtrend” hervorgeht, eher für einheitliche Regelungen für Deutschland. Nur 30 favorisieren dabei unterschiedliche regionale Lösungen. Laut Umfrage sind es auch nur 37 Prozent der Wahlberechtigten, die vor Corona Angst haben; 62 Prozent hingegen machen sich keine Sorgen, mit dem Virus infiziert zu werden.

Berlin agiert beim Kampf gegen Corona uneinheitlich

Bei einem Treffen der Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich am Mittwoch in Berlin die Runde der Regierungschefs zu keinen einheitlichen Kurs beim Beherbergungsverbot einigen können. Wo Einigkeit zwischen Bund und Ländern bestand, war allerdings bei der Begrenzung der Gästezahl bei Privatfeiern, einer Ausweitung der Maskenpflicht, bei Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und eine Sperrstunde für die Gastronomie.

Die neue Unübersichtlichkeit zeigte sich zuletzt im Streit um das Beherbergungsverbot. Wie unterschiedlich in dieser Sache die einzelnen Länder verfahren, zeigt das Beispiel Nordrhein-Westfalen. Das Land unter Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte diese Vorschrift nie angewendet. Am Donnerstag hatten Gerichte in Baden-Württemberg und in Niedersachsen bereits das Beherbergungsverbot gekippt. Später auch der Freisstaat Sachsen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) betonte: „Hier werden Menschen getroffen, die mit dieser Krankheit nichts zu tun haben“. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte sich am Freitag zum umstrittenen Beherbergungsverbot geäußert: „Ich habe den Eindruck, wir kommen zu einer Einheitlichkeit, die bedeutet, so gut wie kein Beherbergungsverbot mehr in Deutschland.“

In Bayern gibt es ab Samstag kein Beherbergungsverbot mehr

Nun zog auch der Freistaat nach. Das umstrittene Verbot für Reisende aus Corona-Hotspots läuft in Bayern an diesem Freitag aus. Der Chef der bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann (CSU), hatte zu Wochenende gegenüber der dpa betont, dass das Land vorerst auf eine Verlängerung verzichtet. „Wir lassen es dabei.“ Angesichts der steigenden Corona-Zahlen in Deutschland will Bayern das Beherbergungsverbot aber weiter im „Instrumentenkasten“ für den Notfall behalten. Sollte es notwendig werden, könne es somit wieder angewendet werden. Dies sei derzeit aber auch weniger relevant, weil die Ferien in vielen besonders von der Pandemie betroffenen Regionen bereits wieder vorbei seien. Erst am gestrigen Donnerstag hatte das bayerische Kabinett beschlossen, das Verbot vorerst in Kraft zu lassen. Allerdings kündigte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) später am Abed an, die Maßnahme werde „Stück für Stück“ auslaufen.

Der Norden hält am Beherbergungsverbot fest

Mecklenburg-Vorpommern hingegen macht die Einreise aus Corona-Hotspots mit hohen Neuinfektionszahlen von einem negativen Corona-Test abhängig, sonst müssten sich die Reisenden in Quarantäne begeben. Ebenso verfährt auch Schleswig-Holstein. Im nördlichsten Bundesland bleibt die Regel erhalten. Zuvor hatte eine Familie aus dem nordrhein-westfälischen Kreis Recklinghausen, die auf Sylt Urlaub machen wollte, den Antrag gestellt, der aber vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt wurde. Das Gesamtwohl der Bevölkerung, so die Argumentation der urteilenden Richter, sei höher als das Interesse einer einzelnen Familie gerade in Krisenzeiten Urlaub zu machen.

Deutschland bleibt in Corona gespaltener denn je. Ein besseres Krisenmanagement ist daher das Gebot der Stunde. Der Bundesregierung muss es wieder gelingen, hier Einheitlichkeit – auch mit den Ländern – herzustellen, sonst wird die Politik vielleicht nach dem Ende der Pandemie durch die Bürger abgestraft – spätestens bei der nächsten Bundestagswahl 2021.

Interview mit EVP-Chef Manfred Weber – Wir müssen unsere Naivität gegenüber China ablegen

Stefan Groß-Lobkowicz18.10.2020Europa, Medien

Der EVP-Vorsitzende im EU-Parlament, Manfred Weber, betont im Interview: Europa wird bald keine Rolle mehr spielen, wenn wir nicht eigene funktionierende Militärkapazitäten haben.

Herr Weber: Nach 2015 ist das Thema Flüchtlingspolitik wieder in aller Munde. Warum tut sich die EU mit der Verteilung so schwer?

Die Migrationspolitik ist aus vielerlei Gründen sicher ein sehr emotionales Thema. Seit Jahren diskutieren wir in der EU über einen gemeinsamen Weg. Dass es so schwer ist, liegt an unterschiedlichen Erfahrungen beim Umgang mit Migranten, etwa in den westlichen und östlichen EU-Staaten, unterschiedlichen Betroffenheiten, etwa in den südlichen und nördlichen Staaten, und unterschiedlichen Ansätzen. Zudem hat die Flüchtlingskrise 2015 einen tiefen Riss in der EU erzeugt, da in relativ kurzer Zeit weitreichende Entscheidungen getroffen werden mussten. Das steckt uns heute noch in den Knochen. Es braucht aber eine Lösung, weil die EU auch an der Migrationspolitik scheitern könnte, Stichwort Schengen. Für mich ist klar: Voraussetzung ist eine funktionierende Sicherung der EU-Außengrenze und eine effektive Kontrolle der Migration. Das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger von uns. Wenn vor Ort über einen Asylantrag oder Schutzstatus entschieden wird und die Rückführung funktioniert, wenn die Hilfe in Drittstaaten und die Zusammenarbeit mit ihnen gut organisiert ist, dann kann man über die Solidarität zwischen den EU-Staaten bei der Aufnahme reden.

EU hat die Verschärfung der Klimaziele gefordert. Wird es hier perspektivisch eine europäische Lösung geben?

Der Klimaschutz ist die große politische Aufgabe der Gegenwart. Die vorgeschlagenen Ziele sind extrem ambitioniert. Wir wollen bis 2030 den Verbrauch von Kohle um 70 Prozent senken, den von Gas um 25 Prozent. Das sind gewaltigste Veränderungen in einer Dekade. Aber ich finde das richtig und werde es unterstützen. Wer, wenn nicht Europa, soll hier vorangehen? Wenn uns das gelingt, werden wir die Produkte für die Märkte von morgen entwickeln. Aber wir müssen jetzt rauskommen aus der theoretischen Debatte und das praktisch umsetzen. Die Diskussion ist manchmal zu ideologisch. Es geht nur darum: Wer fordert mehr? Jetzt müssen wir der Wasserstofftechnologie zum Durchbruch verhelfen, wir brauchen den kerosinfreien europäischen Airbus, wir brauchen eine Welle der Gebäudesanierung in Europa.

Sie werben immer wieder für eine europäische Armee. Warum ist dieses viel diskutierte Thema immer noch auf dem Tisch?

Eine gemeinsame europäische Armee war nach dem Zweiten Weltkrieg mit die Ursprungsidee für die europäische Integration. Nach dem Scheitern damals ist es bisher nicht gelungen, substanziell voranzukommen. Derweil ist klar: Angesichts zahlreicher Bedrohungen in unserer Nachbarschaft, der zunehmenden Orientierung der USA Richtung Pazifik, der schnell wachsenden Militärmächte in Asien und der Krisen in Afrika muss Europa in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen und auch bei Missionen außerhalb Europas geschlossen aufzutreten. Das ist heute nur ansatzweise der Fall. Meine These ist, dass die Europäer schon sehr bald keine militärische und außen- und sicherheitspolitische Rolle mehr spielen werden, wenn wir nicht eigene funktionierende Militärkapazitäten haben. Deshalb liegt nahe, viel enger zu kooperieren und auch gemeinsame Verbände zu organisieren, die zudem deutlich billiger wären als wenn jedes Land all seine militärischen Fähigkeiten selbst unterhält, denken Sie vor allem an kleinere Staaten. Das bedeutet keine Vollintegration aller Streitkräfte, aber ein Kern gemeinsamer Verbände in den wichtigsten Bereichen.

„Das Geld der europäischen Steuerzahler sollte weder direkt noch indirekt chinesischen staatlichen Unternehmen, Projekten oder Technologien zugutekommen“, haben Sie gesagt. Aber bleibt China denn nicht unser guter Wirtschaftspartner?

China ist ein wichtiger Partner, keine Frage. Wir müssen aber die Naivität ablegen, dass China immer unser faires Gegenüber ist, wenn wir nur gute wirtschaftliche Geschäfte mit ihnen machen. Die Probleme beim Thema Menschenrechte, das massive Aufrüsten und Ausspielen ihrer Macht sowie eine aggressive Haltung in außen- und wirtschaftspolitischen Fragen sind ja offenkundig. Man kann vernünftig in vielen Punkten zusammenarbeiten, ohne dass die EU vor klaren Ansagen zurückschreckt. Und der Umgang mit den Corona-Geldern ist für mich ein wichtiger Prüfstein. Wir haben zuletzt zu oft erlebt, dass sich chinesische Firmen mit staatlichen Geldern in Europa eingekauft, die europäischen Firmen ausgebeutet, Know-How abgezogen und die Firmen dann ruiniert abgestoßen hab

Amerika wählt. Donald Trump könnte wieder US-Präsident werden. Welche Auswirkungen hätte das auf die EU?

Um die Beziehungen zwischen den Europäern und der US-Administration steht es nicht zum Besten, bei manchen Themen ist schwerer Schaden entstanden. Dennoch bleiben die USA der wichtigste politische, wirtschaftliche und militärische Partner der EU. Ich werbe dafür, immer wieder aufeinander zuzugehen, die Hand zur Zusammenarbeit auszustrecken und gemeinsame Interessen zu definieren. Die USA sind aber nicht nur der aktuelle Präsident. Auf vielen Ebenen wird zusammengearbeitet. Bei den US-Wahlen müssen letztlich die Amerikaner entscheiden, auf welche Art der Zusammenarbeit sie setzen wollen.

Das transatlantische Bündnis liegt fast in Trümmern. Amerika first. Was kann die EU diesem Amerika entgegensetzen. Müssten nicht bald die Vereinigten Staaten von Europa kommen?

Mir ist diese Diskussion zu theoretisch, auch weil die EU ein ganz eigenes politisches Gebilde ist. Auch wenn die Vereinigten Staaten von Europa von manchen als das eigentliche Ziel der europäischen Integration gesehen werden, setze ich mehr auf das de facto Notwendige und täglich Machbare. Wenn Sie sich die EU ansehen, dann wäre vieles der heutigen Zusammenarbeit vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen. Aber richtig ist: Es muss in manchen Bereichen schneller zu Ergebnissen kommen, sonst werden wir in der globalen Konkurrenz in Zukunft keine Chance haben. Das heißt etwa, dass wir wegkommen müssen von der Einstimmigkeit bei der Außen- und Sicherheitspolitik.

Der Herbst 2020 entscheidet über die Zukunft Europas, sagten sie In einem Interview. Was ist damit gemeint?

Die Corona-Krise wird für Europa in praktisch allen Bereichen des Lebens eine Zäsur sein, wie wir sie heute noch gar nicht abschätzen können. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen sind so immens, wie kaum ein Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg. Nun, im Herbst 2020 wird sich zeigen, ob die EU in der Lage ist, auf diese Veränderungen mit klugen Weichenstellungen zu reagieren, zukunftsorientiert, in der Art der Europäer. Noch dazu hat Deutschland die Ratspräsidentschaft, was diesmal eine große Chance ist. Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, kann dies über Jahrzehnte hinweg positiv wirken. Deshalb muss jetzt genau hingesehen und sehr klug und weitsichtig entschieden werden, etwa beim Wiederaufbaufonds, beim Haushalt, der Migration oder der Klimapolitik.

Was erwarten Sie von der Bundestagswahl 2021?

CDU und CSU haben gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschland in schwierigen Zeiten stabilisiert und auf Kurs gehalten. Dass unser Land in Europa und der Welt so gut dasteht, liegt auch an der Politik der Union. Im kommenden Jahr werden wir unsere Zukunftspläne für Deutschland erarbeiten und den Wählerinnen und Wählern vorlegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir erneut das Vertrauen bekommen, die Bundesregierung zu führen und den Kanzler zu stellen.

Sie haben einmal betont, dass Europa derzeit Probleme nur verwaltet, die aktuelle Krise nur managt, anstatt diese zu lösen. Was ist ihre Vision von Europa? Quo Vadis Europa?

Die Europäer müssen verstehen: Entweder wir packen die Herausforderungen gemeinsam an oder keiner wird sie gut meistern, auch nicht das vergleichsweise starke Deutschland. Die vergangenen Jahre waren und die Gegenwart ist vom Krisenmanagement geprägt. Das ist zwar wichtig, weil die europäischen Staaten so die Krisen besser meistern können, aber auf Dauer werden wir die Menschen so nicht für das Projekt Europa begeistern können. Dazu braucht es Ideen. Zum Beispiel: gemeinsam den Krebs besiegen oder Technologieführerschaft in bestimmten Bereichen, um nicht von außen digital dominiert zu werden, oder Kinderarbeit in der Dritten Welt bannen. Das sind Aufgaben, die wir nur gemeinsam schaffen. Aus meiner Sicht wird Europa in 10, 20 Jahren viel stärker sein und viel enger zusammenarbeiten. In einigen Bereichen wird die EU mehr Kompetenzen haben, zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, in anderen wird sie sich mehr zurücknehmen. Die EU ist ein sich stetig wandelndes Gebilde. Das birgt enorme Chancen, die wir nutzen müssen.

Fragen: Stefan Groß

 

Bis Weihnachten Millionen Impfungen möglich: Forscher erklärt – Wir haben einen wirksamen Impfstoff

Stefan Groß-Lobkowicz8.10.2020Medien, Wissenschaft

Durchbruch bei der Impfforschung – Noch vor Weihnachten könnten Millionen geimpft werden – Mainzer Mediziner und BioNTech-Gründer erklärt: Wir haben einen wirksamen Impfstoff

Die Coronazahlen steigen seit Wochen wieder stark an. Allein Deutschland meldet 4.000 Neuinfektionen. Viele EU-Länder haben im Kampf gegen Covid-19 erneut die Notbremse gezogen. Lokale Lockdowns bestimmen vieler Orten den Alltag. Aber immer wieder steht die Frage nach einem Impfstoff gegen das hochinfektiöse Coronavirus im Raum.

Jetzt gibt es Hoffnung am Ende des Tunnels. Das Mainzer Unternehmen BioNTech vom Paul-Ehrlich-Institut hatte Anfang April „grünes Licht“ für die ersten klinischen Tests an einem Covid-19-Impfstoff erhalten. Derzeit wird der Impfstoff bereits in einer klinischen Studie der Phase II/III geprüft. In dieser Phase wird die Wirksamkeit weiter geprüft und die passende Dosierung ermittelt. Bis Anfang Oktober wurden 37 000 Teilnehmer in die Studie eingeschlossen, 28 000 hätten bereits die zweite Impfstoff-Dosis erhalten. Wie der CEO, Gründer und Arzt Uğur Şahin betont, gehen wir “langsam auf die Zielgerade zu“, heißt es vielversprechend in einem Interview in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”. Das nur nach einem Jahr seit dem ersten Auftreten und der massiven weltweiten Verbreitung des Coronavirus ein Impfstoff zur Verfügung steht, ist keineswegs selbstverständlich. Die Zulassungen dauern oft bis zu 15 Jahren.

Uğur Şahin – Visionär, Immuntherapeut und Immuningenieur

Uğur Şahin, selbst Immuntherapeut, der sich als Immuningenieur versteht, ging es immer wieder darum, wie sich antivirale Mechanismen des Körpers nutzen lassen, um beispielsweise Krebs zu behandeln, wenn die Abwehrkräfte sonst nicht dagegen vorgehen. Şahin, der seit 2006 Professor für experimentelle Onkologie an der III. Medizinischen Klinik der Universität Mainz ist, sieht seine Vision darin, das Immunsystem dazu anleiten, „uns vor bestimmten Krankheiten zu schützen oder sie zu lindern“. Seit Jahren arbeitet Şahin, der 18 Prozent des Aktienanteils von BioNTech hält und damit seit 2020 dreifacher Milliardär ist, an der  Identifizierung und Charakterisierung neuer Zielmoleküle (Antigene) für die Immuntherapie bei Krebstumoren. Ziel des ambitionierten Forschers und Professors ist die Entwicklung eines Krebs-Impfstoffes auf der Basis von Ribonukleinsäure (RNA), einem Botenstoff mit genetischen Informationen, der eine entsprechende Reaktion des Immunsystems auslösen und so zur Hemmung und Rückbildung von Tumoren im Idealfall führen soll. Die RNA-Impfstoffe bewirken aber keine dauerhafte genetische Veränderung im Erbgut der Zellen, sondern werden nach „Einmalgebrauch“ zur Bildung von Eiweiß wieder aufgelöst.  Was für die Krebsforschung gilt, soll auch bei der Corona-Pandemie nicht außer Acht gelassen werden: „Auf die Medizin kommen insgesamt große Aufgaben zu […]. Es wurde zu lange ignoriert, aber wir brauchen mehr innovative, biopharmazeutische Forschung.“

Wir brauchen mehr innovative, biopharmazeutische Forschung

Wie Şahin betont, war es das Hauptproblem, das man so wenig darüber wusste, wie das Coronavirus funktioniert und „wie man es am besten inaktivieren kann. Deshalb haben wir verschiedene Bestandteile des Virus für die unterschiedlichen Impfstoffkandidaten genutzt und in einer Vielzahl von Tests miteinander verglichen.“

Die Tests am neuen Impfstoff laufen schon seit Juli. Mehr als 30.000 Probanden haben mittlerweile Injektionen erhalten. „Wobei eine Hälfte der Impfgruppe angehört, die andere erhält Placebo-Injektionen zur Kontrolle: Es ist eine Doppelblindstudie und eine der größten zu Covid-19“, erklärt der Mediziner Şahin. Bis Mitte Oktober will BioNTech 44000 Probanden in die Studie einschließen, und sehr viele haben schon ihre zweite Dosis erhalten. Der CEO und Gründer ist sich sicher: „Bis Ende Oktober, Anfang November sollten wir genug Daten haben, um deklarieren zu können: Wir haben einen wirksamen Impfstoff.“

Der 55-jähige Wissenschaftler und renommierte Krebsforscher Şahin ist überzeugt. “Der Impfstoff besitze ein exzellentes Profil, und er gehe davon aus, dass „wir ein sicheres Produkt haben und in der Lage sind, die Effektivität zu demonstrieren“. Und er geht sogar noch einen Schritt weiter: „Die erste Generation an Impfstoffen könnte noch 2020 kommen, dazu gehören mRNA-Ansätze wie unsere, die traditionelleren Konzepte sind auch schon recht weit.“

Wer bringt den ersten Impfstoff gegen Corona?

Weltweit arbeiten Wissenschaftler an der Impfstoffforschung, investieren Regierungen Millionen in die Entwicklung. In Deutschland lieferten sich das Tübinger Unternehmen Curevac und Şahin BioNTech ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei dem Impfstoffkandidaten des Mainzer Biotechnologieunternehmens BioNTech handelt es sich um einen sogenannten RNA-Impfstoff, der die genetische Information für den Bau des sogenannten Spikeproteins des CoV-2 oder Teilen davon in Form der Ribonukleinsäure (RNA) enthält. Daraus wird im Körper ein Eiweiß des Virus hergestellt, das Oberflächenprotein, mit dessen Hilfe das Virus in Zellen eindringt. Ziel der Impfung ist es, den Körper zur Bildung von Antikörpern gegen dieses Protein anzuregen. Sind dann Antikörper erst einmal vorhanden, fangen diese die Viren ab, bevor diese in die Zellen eindringen und sich vermehren. Darüber hinaus soll der Wirkstoff andere Abwehrwaffen des Immunsystems aktivieren.

Der Impfstoff, an dem Curevac forscht, basiert auf der sogenannten mRNA, oft auch als Boten-RNA bezeichnet. Dieser Botenstoff bringt Körperzellen dazu, spezielle Proteine zu produzieren, die der Oberfläche des Coronavirus ähnlich sind. In der Folge erkennt und markiert der menschliche Körper die Proteine als „Eindringlinge“, so dass im Optimalfall auch eine Immunantwort gegen das echte Virus erfolgt.

Lange war bei der neuen Covid-19 Infektion unklar, ob Menschen überhaupt eine Immunität gegen diesen Erreger aufbauen und ob ein Impfstoff überhaupt sinnvoll sei, wenn das Virus immer wieder mutiert. Doch Şahin geht davon aus, dass auch „dieses Virus eine Immunität bei Erkrankten induziert. Die ist nun nicht besonders stark, die Antikörper-Titer sind vergleichsweise gering, aber genesene Personen sind vermutlich mindestens sechs, acht Monate gegen eine schwere Neuinfektion geschützt.”

Ein Impfstoff kann funktionieren

Wie lange allerdings die Immunität letztendlich anhält, kann auch der türkische Wissenschaftler Şahin nicht vorhersagen. Doch er betont: Das „Vorhandensein einer Immunität sagt uns, dass prinzipiell auch ein Impfstoff funktionieren kann. Wir wissen außerdem, dass das erwähnte Spike-Protein als Angriffsziel nicht nur geeignet ist, sondern wahrscheinlich das einzige ist, dass eine virusinaktivierende Immunantwort auslösen kann. Zahlreiche unabhängige Evidenzen zeigen, dass eine Spike-Immunantwort vor Infektion schützt, und es gibt bisher keinerlei Anhaltspunkt, dass ein effektiver Impfschutz die Krankheit verstärkt.”

Für 2020 haben wir bis zu 100 Millionen Dosen geplant

Wenn die Behörden mitspielen, davon ist der Gründer von BioNTech überzeugt, könnte bereits Ende des Jahres ein Impfstoff zur Verfügung stehen. Das „hängt von den Behörden ab, welche Daten sie sehen wollen und welche Ansprüche sie haben.“ „Wir werden jedenfalls unsere Datensätze entsprechend vorlegen – und transparent Wirkung sowie Nebenwirkungen darstellen. Auch werden Impfstoffdosen auf Lager sein, wir produzieren bereits. Für 2020 haben wir bis zu 100 Millionen Dosen geplant.”

Wie läuft eine Impfung ganz konkret ab?

Rein pragmatisch, so der Chef von BioNTech, wird eine erste Impfung in den Muskel im Arm gegeben. Auf die erste Injektion folgt eine zweite, die nötig sei, um eine „ausreichende Immunantwort zu stimulieren. Das Virus bindet über seine Spike-Proteine stark an die Zell-Rezeptoren; da es mit sehr vielen dieser Spikes besetzt ist, müssen wir möglichst alle ausschalten, und dafür wird ein hoher Antikörper-Titer gebraucht. Für andere Viren konnten wir zeigen, dass eine Injektion genügt, im Fall von Sars-CoV-2 ist das schwieriger.”

Zulassungsprozess für Impfstoff von BioNTech startet

Am 6. Oktober 2020 meldete BioNTech, dass der vom Mainzer Unternehmen entwickelte Corona-Impfstoffkandidat in den Zulassungsprozess geht. Nun muss die europäische Arzneimittelbehörde EMA den Wirkstoff BNT162b2 in einem sogenannten Rolling-Review-Verfahren prüfen, so BioNTech und das Pharma-Unternehmen Pfizer in einer Pressemitteilung. Dort versicherten sie auch, dass der Impfstoff-Kandidat den strengen Qualitäts-, Sicherheits- und Wirksamkeitsstandards der EMA unterliegen werde: „Während wir daran arbeiten, einen potenziellen Impfstoff in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit zu entwickeln, um dieser Pandemie ein Ende zu bereiten, ist es unsere Pflicht, sicherzustellen, dass wir dies mit den höchsten ethischen Standards sowie unter Einhaltung fundierter wissenschaftlicher Prinzipien tun“, so BioNTech-Chef und Mitgründer Ugur Şahin.

Der „rollierende Einreichungsprozess“ soll die Zulassung eines Impfstoffes beschleunigen. Sind genügend Daten eingereicht und vom zuständigen EMA-Ausschuss bewertet, kann ein Antrag auf Marktzulassung gestellt werden. Die Genehmigung dafür wird von der EU-Kommission in Brüssel erteilt.

Aber selbst wenn der neue Impfstoff auf dem Markt zugelassen ist, bedeutet das nicht, dass BioNTech mit seinen Untersuchungen aufhört. Das betont auch Sahin: “Es ist nicht damit getan, die Wirksamkeit nachzuweisen. Wir werden unsere Probanden noch über zwei Jahre nachverfolgen. Zwar wird die Kontrollgruppe auch irgendwann geimpft, da es unethisch wäre, der Placebo-Gruppe einen wirksamen Impfstoff vorzuenthalten, trotzdem werden wir aufschlussreiche epidemiologische Daten erhalten.”

Selbst nach der Zulassung des Impfstoffs bleiben Fragen

Sollte es noch in diesem Jahr oder erst – wie  Bundesforschungsministerin Anja Karliczek erwartet – in der Mitte des kommenden Jahres einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben, bleiben noch Fragen. Wer soll die Vakzine erhalten und wie werden diese gelagert oder transportiert? Auf einer Pressekonferenz zur Impfstoffentwicklung am 8. Oktober ging Karliczek davon aus, dass dann „breite Teile der Bevölkerung geimpft werden können“. Uğur Şahin erklärt zuvor: Die Verteilung „ist Aufgabe der Gesundheitsminister und der zuständigen Impfkommissionen, die sich damit befassen und jetzt ihre Empfehlungen ausarbeiten für die Versorgung in der Pandemie. […] Auch hoffe ich, dass wir Risikogruppen wie unsere Krebspatienten, die sich teilweise gar nicht mehr auf die Straße trauen, wieder Kontakt zu Mitmenschen ermöglichen.“

Selbst wenn das Unternehmen von Uğur Şahin derzeit auf der Überholspur fährt und für 2021 1,3 Milliarden Impfdosen in einer Partnerschaft mit Pfizer produzieren will, er weiß: „Hinter den großen Zahlen, stehen einzelne Individuen, die davon profitieren können.“

Norbert Bolz: Die Apokalypse als Ware ist das Betriebsgeheimnis der Grünen

Stefan Groß-Lobkowicz7.10.2020Europa, Gesellschaft & Kultur

Die Cancel Culture regiert. Auch in Deutschland fallen immer mehr Meinungen unter das Diktat. Freie Meinungsäußerung ist schwieriger denn je. Wir sprachen mit dem Medienprofessor Norbert Bolz über die neue Unkultur, den Journalismus, der immer mehr Haltungsjournalismus wird und über die Grünen, die mit ihren Apokalypsen zu Marktschreiern werden.

Sie haben jahrelang die Medienlandschaft mitgeprägt. Wie sieht diese heute aus, gerade auch im Hinblick auf den Journalismus? Was hat sich mit Blick auf die letzten dreißig Jahren verändert?

Was sich geändert hat, kann man deutlich sagen. Auf der einen Seite die technologische Veränderung. Es gibt die Konkurrenz zu den klassischen Massenmedien durch die Sozialen Medien, die Internetmedien, die so eine Art Autoritätsverlust der klassischen Medien gebracht haben. Das geht bis hin zur Vorstellung des Bürgerreporters, der glaubt seine Meinung journalistisch zu erbringen. Dem entspricht auf der anderen Seite ein vollkommener Strukturwandel der klassischen Medien. Da beobachtet man das Ende der Objektivität, wie man dies auch nennen könnte. Was wir jetzt haben, ist ein Haltungsjournalismus oder werteorientierter Journalismus. Und das heißt: Der Journalist versteht sich als Oberlehrer der Nation. Er will nicht berichten, sondern belehren. Dafür gibt es eine wunderbare Anekdote. Anja Reschke hatte im vergangenen Jahr den Hanns-Joachim Friedrichs-Preis bekommen. Bei der Preisverleihung wurde das berühmteste Zitat von Hajo Friedrich eingeblendet. „Ein Journalist soll sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten.“ Als die Preisträgerin ihre Dankesrede hielt, sagte sie: Hajo Friedrich hat genau das Gegenteil gemeint. Wir sollen Haltung zeigen und Partei ergreifen. Man scheut heute also auch in den Reihen der Journalisten selbst nicht mehr davor zurück, Sätze buchstäblich auf den Kopf zu stellen, den entgegengesetzten Sinn zu unterstellen. Dies läuft letztendlich auf einen Verzicht des Journalismus hinaus. Man will eher als Missionar und als Aktivist auftreten, wenn man heute Journalist ist – und mal will gar keine journalistischen Leistungen mehr bringen. Der „Stern“ hat mit seiner Aktion, „Fridays for Future“ macht den neuen Stern und die Aktivisten sind die Autoren für die neue Nummer, das wunderbar auf den Begriff gebracht: Man verzichtet auf Journalismus zugunsten von Haltung, Propaganda, Engagement und Aktivismus. Damit einher geht die sogenannte Cancel Culture, das zum-Schweigen-Bringen. Man entzieht allen abweichenden Meinungen und Plattformen die Existenz. Aber nicht nur in der politischen, sondern auch in der in der Welt der Unterhaltung wird seit Jahren radikal politisiert. Jan Böhmermann ist nur ein Beispiel für Entertainer, die sich als politische Aktivisten verstehen.

Sie hatten „Fridays for Future“ schon genannt. Unlängst sagten Sie: „In der Welt der Mahner und Warner wird die Apokalypse zur Ware“. Das wirft man beispielsweise Greta Thunberg und den Vermarktern der Klima-Ikone vor. Gibt es noch weitere Beispiele, die Sie hier im Blick haben?

Die Apokalypse als Ware ist das Betriebsgeheimnis der Grünen. Alle Grünen, bis auf die Realos in Baden-Württemberg, folgen dieser Spur. Die Grünen von heute, ob Robert Habeck, Annalena Baerbock oder Luisa Neubauer als Marketing-Chefin von „Fridays of Future“ – sie sind Apokalyptiker. Im Grunde steht die ganze Umweltbewegung dafür, die sich bis in die 60er Jahre zurückverfolgen lässt. Paul Erlich hat mit seinem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ geradezu die Apokalypse an die Wand gemalt. Dort hieß es schon: Die Welt geht unter, die Ressourcen werden knapp, es gibt kein Erdöl und keine Bodenschätze mehr usw. Diese apokalyptischen Szenarien sind eine große ersatzreligiöse, fast gnostische Bewegung, die sich seit Jahrzehnten – mit immer wechselnden Schwerpunkten, aber der immer gleichen Botschaft – in der westlichen Wohlstandswelt entwickelt hat. Die Botschaft bleibt immer dieselbe – es ist fünf vor Zwölf. Auch die berühmte Weltuntergangsuhr passt in dieses Bild. Diese wurde auf 100 Sekunden vor Weltuntergang von Wissenschaftlern selbst gestellt. Also als Intellektueller schämt man sich in Grund und Boden, wenn man derartigen Unfug hört. Aber es läuft und funktioniert. Die Aktivisten der Umweltbewegung haben mit den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wunderbare Organisationsplattformen gefunden. Und sie erhalten mittlerweile größte Unterstützung aus der Politik und der Wirtschaft, die seit Jahrzehnten ein groß angelegtes Greenwashing betreibt. Das greift alles in einen perfekten Mechanismus ineinander. Es werden immer mehr Parteien, die sich dafür zu Plattformen machen, sei es aber auch die grüne oder die blaue Industrie. Sie alle machen ein Geschäftsmodell aus dem Protest und der Apokalypse.

Spiegelt sich dieses Denken auch in der Wahl der Grünen, in ihrem derzeitigen Hype wider? Grüne und die Union stehen derzeit wieder ganz vorn in der Wählergunst.

Absolut. Ich sehe da auch gar keine Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Sowohl bei rot-rot-grün als auch bei schwarz-grün dominiert grün, egal wie letztendlich die Prozentzahlen sein werden. Es ist der einige gemeinsame Nenner, weil es die ersatzreligiöse Faszinationskraft ist, die die Menschen derzeit anzieht. Die anderen Parteien haben gar kein Programm mehr. Sie sind allesamt konturlos. Im Grunde gibt es nur noch eine gesellschaftspolitische Botschaft – und das ist die grüne Apokalypse. Alle anderen Parteien, sei es die CDU oder die SPD, passen sich da an. Egal, wer eine Regierung bildet, es wird eine Regierung aus diesem Geist sein.

Was sagt der Medienwissenschaftler und Professor zum Phänomen Donald Trump? Die nächste Präsidentschaftswahl steht an!

Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären. Und diese Erklärung wurde auch vielfach gegeben. Die Leute haben Donald Trump gewählt, weil sie die Nase vom Washingtoner Establishment und den geradezu hündisch nachfolgenden Medien, die eine schwarz-weiß-Zeichnung zwischen guten und bösen Menschen gemacht haben, voll haben. Das Washingtoner Establishment, wie das unsrige in Deutschland auch, war gekennzeichnet durch maßlose Heuchelei und durch ein elitäres Bewusstsein der Intellektuellen, die die Ideologie dieses Establishment entwickelten und das gemeine Volk zu Idioten degradierten, die man belehren und an die Hand nehmen muss. Das war vielen Menschen in Amerika einfach zu viel. Deswegen haben sie lieber einen groben Typen als Alternative gewählt, der bei aller Brutalität wenigstens ehrlich war. Bei der Neuwahl, die jetzt ansteht, ist das genau die Frage. Gibt es wieder einen Rückschlag und versöhnen sich die Amerikaner erneut mit dem alten Washingtoner Establishment, das mit Joe Biden ein Musterbeispiel in den Wahlkampf geschickt hat? Bislang bleibt alles offen.

Fragen: Stefan Groß

Fundstück: Lothar de Maizière: Ich bin die DDR nicht ganz losgeworden

Stefan Groß-Lobkowicz1.10.2020Gesellschaft & Kultur

Am 3. Oktober 2020 wird der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit gefeiert. Wir haben in unserem Archiv geblättert und ein Interview mit dem ersten und letzten Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Maizière gefunden. De Maizière wirkte vom Herbst 1989 bis zum Spätsommer 1991 als deutscher Politiker und wurde besonders durch seinen Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung bekannt. In einem zurückliegenden Gespräch zieht er Bilanz.

Ist die heutige Bundesrepublik, das Land von dem Sie als DDR-Bürger träumten?

Ich habe als DDR-Bürger nicht von einem anderen Land geträumt, sondern ich wollte, dass mein Land, Brandenburg-Berlin, die ostdeutschen Länder, in Demokratie und Freiheit leben können – das hat sich erfüllt.

Was hätten Sie sich gewünscht, was verändert?

Ich habe mir gewünscht, dass wir die Situation mental erlebbarer gemacht hätten, und dass wir auch in symbolischen Handlungen deutlich gemacht hätten, dass eine neue Zeit beginnt. Ich habe damals vorgeschlagen, dass wir nicht den 12. Deutschen Bundestag wählen, sondern den ersten gesamtdeutschen Bundestag, dies wäre ein Signal für die Menschen gewesen. Da herrschte zunächst im Westen die Meinung, wir wären nur eine vergrößerte Bundesrepublik und machen so weiter wie bisher. Dass die Vereinigung das Leben aller Deutschen verändert, ist bei den Westdeutschen erst sehr viel später angekommen.

25 Jahre sind nach dem Fall der innerdeutschen Grenze vergangen. Wo stehen wir heute, wo steht die CDU?
Wir stehen als Deutschland in Europa, auch in internationaler Verantwortung. Deutschland ist erwachsen geworden, außenpolitisch souverän, es hat eine wichtige Rolle bei der Ost-Erweiterung der europäischen Union gespielt, da waren die anderen westeuropäischen Länder anfangs gar nicht davon begeistert. Die CDU hat sich aus einem rheinisch-katholischen Wahlverein zu einer Partei der Mitte entwickelt; sie ist die einzige Partei, die im echten Sinne heute Volkspartei ist. Ich bedaure, dass die Personaldecke der CDU so dünn ist, so dass man Mühe hat, mitunter Posten verantwortlich zu besetzen. Das ist aber eine Frage, die mit der Gesamtfrage von Glaubwürdigkeit und Politik – und wie Politik sich darstellt – zusammenhängt. Dies ist damit nicht unbedingt ein CDU-spezifisches Phänomen.

Gibt es heute noch einen Unterschied zwischen der Ost- und der West – CDU, von der Sie auch in Ihrem Buch sprechen?

Nach vielen Jahren sind auch die handelnden Personen andere geworden, und ich glaube, dass die jetzt politisch Handelnden gesamtdeutsch sozialisiert sind. Die anderen waren westdeutsch, die anderen ostdeutsch sozialisiert; ich gestehe, dass ich die DDR nicht ganz losgeworden bin, will ich auch nicht, weil es ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen ist, aber die Politiker, die jetzt handeln, wie Angela Merkel, sind in der Wendezeit politisch sozialisiert worden und sind gesamtdeutsche Politiker, empfinden auch eine gesamtdeutsche Verantwortung. Ich bin mir aber sicher, dass die Arbeitslosen in Sachsen Angela Merkel genauso anerkennen wie die in Gelsenkirchen.

In Ihrem biografischen Erinnerungen reflektierten Sie über das Thema Lüge, warum nimmt diese Thematik so einen großen Stellenwert ein?

Ich habe in DDR-Zeiten erlebt, dass mich meine Kinder immer wieder fragten, ob sie das, was wir zuhause politisch geäußert haben auch in der Schule sagen könnten. Oder, dass sie mich fragten, ob es zwei Wahrheiten gebe, eine private und eine für die Öffentlichkeit bestimmte. Dieses Gefühl, seine eigenen Kinder von vornherein zur Janusköpfigkeit zu erziehen, und zu sagen, aus taktischen Gründen würde ich die Frage in der Schule anderes beantworten als zuhause, dies hat mich so umgetrieben, und das war eigentlich der Hauptgrund, eigentlich die Hoffnung, diese Missstände zu ändern, das ich damals in die Politik gegangen bin. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt, überhaupt Politik zu machen.

Was verbinden Sie mit Michael Gorbatschow?
Es ist komisch. Er ist einer der großen Weltveränderer und trotzdem ist er fast eine tragische Figur. Er ist angetreten, einen neuen Sozialismus, eine reformierte UdSSR, zu schaffen. Er hat den Zerfall der Sowjetunion mitbewirkt, aber den Sozialismus eben nicht dahin führen können, wohin er wollte. Er ist mit Sicherheit einer der großen Weltbeweger der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts. Ich bin mit ihm sehr eng befreundet und wir hatten gemeinsam den „Petersburger Dialog“ geleitet. Er ist eine historische Persönlichkeit, denn kaum einer wie er hat die Welt im 20. Jahrhundert so dramatisch verändert.

Wie beurteilen Sie die soziale Lage in Ostdeutschland?

Besser, als die öffentliche Darstellung, aber schwierig genug noch immer.

Bevölkerungsabwanderung, demographischer Wandel, welche Zukunft hat der Osten Deutschlands?

Wir werden noch einige große Umbrüche erleben. Wir haben nach der Wiedervereinigung festgestellt, dass die Landbevölkerung nicht in die Selbständigkeit gehen wollte, sondern die Großbetriebe behalten hat, die LPGs, die sich jetzt zwar anders nennen, haben keine Erben, die Kinder sind nicht mehr in der Landwirtschaft geblieben. Wir werden also eine wirkliche Umkrempelung auf dem Land erleben und damit auch der Landeskultur. Der Landwirt ist nicht nur Bauer, sondern betreibt die Landeskultur, ist der Ökologe. Dies wird schwierig werden. Zudem haben wir eine starke Überalterung im Osten, die fast dramatisch ist. Vor allem in Leipzig, Görlitz, in all diesen Städten, die schön hergerichtet sind, aber wo die Stadtabwanderung stattgefunden hat. Diese Städte locken jetzt westdeutsche Bundesbürger an, damit diese dort billige Wohnungen beziehen. Wir werden in zehn Jahren Pflegeheime brauchen. Ich glaube dennoch an eine Durchmischung mit den anderen Osteuropäern. Wir erleben zunehmend, dass auch an den Randgebieten Polen in Deutschland arbeiten und umgekehrt. Ich hoffe doch, dass er mit der zunehmenden Industrialisierung zu einer gewissen Rückwanderung kommt. Wir werden uns aber darauf einstellen müssen, dass die Bevölkerung in Deutschland schwindet. Desto wichtiger ist gerade die Frage der Integration von Ausländern bei uns, und dass wir dort vernünftige Wege gehen.

Fragen Stefan Groß

Interview mit Wolfgang A. Herrmann: Wir müssen mehr in die Zukunft der Bildung investieren – Ein Gespräch mit Stefan Groß-Lobkowicz

Stefan Groß-Lobkowicz18.09.2020Europa, Medien, Wirtschaft

The European sprach mit dem am längsten amtierenden Universitätspräsidenten in Europa, Professor Wolfgang A. Herrmann. Für den Wissenschaftler bleibt der unternehmerische Aspekt wichtig. Unter seiner Ägide wurde die TU München drei Mal Exzellenzuniversität. Wie der Naturwissenschaftler betont, ist die Kombination von Ausbildung, Forschung und Unternehmertum, das „europäische Wissensdreieck“, was die Zukunft am besten beschreibt.

Porträt Präsident Emeritus Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang A. Herrmann 2017, Foto: Kay Herschelmann

 

Herr Professor Herrmann. Sie haben 24 Jahre die TU München als Präsident geleitet und diese Universität zu Weltruhm geführt. Sie sind der am längsten amtierende Präsident einer europäischen Universität. Was ist das Erfolgsrezept?

Es gibt kein Patentrezept. Das wichtigste ist, dass man die Leute mag, dass man Enttäuschungen wegsteckt und sich gemeinsam mit dem am Projekt Beteiligten über den Erfolg freut. Dass man sich in die Menschen hineinhört. Man muss einfach gern mit Menschen arbeiten, was natürlich für alle Führungspersonen das Erfolgsrezept ist.

Corona hat nach wie vor die Welt und Deutschland fest im Griff – sehen Sie Auswirkungen auf den Universitätsalltag von morgen. Wird es die Präsenzvorlesungen vielleicht gar nicht mehr geben?

Die Auswirkungen werden gewaltig sein. Teilweise waren sie schon vorher überfällig. In der Coronakrise haben wir gelernt, wie wichtig das Thema Blended/Distance-Learning ist. Der Frontalunterricht spielt nicht mehr die entscheidende Rolle, sondern vielmehr das begabungsadäquate Lernen in unterschiedlichen Formaten. Die Wissensvermittlung kommt heute stark aus den Internetmedien und aus Datenbanken. Die akademischen Lehrer müssen diese Heterogenität strukturieren.

Die Wirtschaft schwächelt coronabedingt. Hat das Auswirkungen auf die Universität und in welcher Form? Gerade die TU München ist eine Intellektuellenschmiede – auch für den Automobilbau!

Die Automobilindustrie ist eine sehr starke Säule der deutschen Volkswirtschaft. Diese Automobilindustrie wird zu neuen Ufern aufbrechen müssen. Die Autofirma von morgen sieht ganz anders aus als die von heute. Es werden immer mehr alternative Antriebssysteme eine Rolle spielen. Elektromobilität, Wasserstoffantrieb und Brennstoffzellen werden stark vorankommen. Das Auto wird immer mehr – zusätzlich – ein Informationssystem sein, man denke an das autonome Fahren.

China greift nach der Macht – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch immer mehr im Bereich der Bildung. Müssen wir jetzt Angst vor den Chinesen auch im Wissenschaftssektor, an den Universitäten haben?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Wir haben im internationalen Vergleich ein sehr qualifiziertes Bildungssystem, das stärker auch als in Amerika auf die einzelnen Begabungen Rücksicht nimmt, denken Sie an unsere Handwerkerschaft! Wir haben exzellent ausgebildete Lehrkräfte, ein differenziertes Hochschulsystem mit Universitäten und Fachhochschulen. Und wir haben – aus unserer Geistesgeschichte kommend – einen Sinn für das Schöngeistige, für die Musik und die Literatur, und wir besinnen uns auf unsere Geschichte. Der Bildungshorizont in unserem Land ist doch viel größer als in den sogenannten Aufbruchsregionen. Amerika und China sind da anders. Da gibt es, was ein ausgewogenes Bildungssystem betrifft, erheblichen Nachholbedarf. Wir Deutschen haben doch immer wieder die Benchmarks in Naturwissenschaft, Technik und der kulturellen Welt gesetzt. Insofern habe ich keine Angst, wenn wir uns weiter so anstrengen wie in der Vergangenheit.

Deutschland hat die Digitalisierung verschlafen, wie können wir das aufholen?

Verschlafen ist sicherlich zu hart formuliert. Freilich müssen wir uns jeden Tag aufs neue anspornen lassen. Wir müssen die technische Struktur noch verstärken. Die deutsche Befindlichkeit – durchaus wohlstandsbedingt – spielt hier sicherlich eine Rolle. So möchte jeder beispielsweise gern telefonieren aber keinen Funkmast in der Nähe haben. Aus der Corona-Erfahrung müssen wir lernen, dass wir im technologischen Bereich massiv durchstarten sollten. Die Lebenswelt von morgen wird eine andere sein, sehr geprägt von großen Datenmengen. Das hat aber auch den Vorteil, dass Menschen in jedem Alter sich am Wertschöpfungs- und Produktionsprozess beteiligen können. Es gibt also auch große Vorteile. Aber ich denke, die Vorurteile gegen die technische Entwicklung sind durch Corona sehr stark zurückgedrängt worden. Man ist dadurch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen.

Sie betonen, dass gute Lehrer die eigentlichen Helden der Gesellschaft sind. Doch insbesondere an den Schulen zeigt sich, dass der Lehrerberuf nicht attraktiv ist, die Gehälter oft zu klein, die Anforderungen und die sozialen Umwälzungen in der Gesellschaft zu hoch. Überforderung allenthalben. Was muss man ändern?

Ja, das ist leider so. Die Lehrerbildung müsste in den Mittelpunkt unserer Bildungsanstrengungen gestellt werden. Die Lehrer sind es ja, die unsere jungen Menschen für die Zukunft konditionieren, die eigentlich lebendiges Vorbild für den technischen und Wissenschaftsfortschritt sein sollten. Sie sind es auch, die den technischen Fortschritt im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung vermitteln sollen. Das ist ganz zentral. Der Lehrer hat den schwersten Beruf von allen, schwerer als ein Physikprofessor. Sie sind jeden Tag der Jugend „ausgesetzt“. Und das müssen sie sehr differenziert und sehr individualisiert angehen, um die Motivation der jungen Menschen zu entfachen und wach zu halten. Ich habe allerhöchsten Respekt vor unseren Lehrkräften. Man kann immer wieder darüber klagen, dass sie nicht genug für die Moderne ausgebildet sind, aber Zauberer sind Lehrer eben auch nicht.

Ein Zauberwort Ihrer Karriere war immer die Exzellenzuniversität. Was hat man darunter zu verstehen?

Akademische Exzellenz heißt in einer großen Zahl von Wissenschaftsgebieten international an der Spitze zu stehen oder sogar die Standards zu definieren. Anders gesagt: Exzellenz bedeutet, sich ständig neu an den international Besten zu messen, um selbst der Beste zu werden.

Sie fordern als Naturwissenschaftler mehr soziale Ausbildung für die Wissenschaftlerzunft.

Unsere Studierenden sollen an das anknüpfen, was sie an der Schule als breiten Bildungshorizont bekommen haben. So sollte der Techniker ständig den Rückbezug zur gesellschaftlichen Entwicklung suchen. Dazu ist es notwendig, dass erhebliche Lehranteile der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer aus den Geistes- und Sozialwissenschaften kommen. Dar war meine letzte durchgängige Initiative an der TU München, 2012 mit der Exzellenzinitiative begonnen und 2018/19 zum Hauptthema gemacht. Ich hoffe sehr, dass die Geistes- und die Sozialwissenschaften ihre eigene Wertigkeit prominent gewinnen, allerdings in der unmittelbaren Wechselwirkung mit der Technik. Nicht untergeordnet, sondern als Begleiter und Wegweiser. Das ist eine große Herausforderung. Ja, mehr noch: Das wäre ein wirkliches Novum in der Hochschullandschaft, wenn Deutschland diese schwierige Aufgabe meistert.

Sie sind ein Professor im „Unruhezustand“. In der drittgrößten Stadt Georgiens, in Kutaisi, eröffnet eine neue Universität. Sie waren dabei federführend. Was versprechen Sie sich davon?

Zunächst soll man sich über jede vergleichbare Aktivität dieses Kalibers freuen. Es sind über eine Milliarde Euro aus einer Stiftung für den Aufbau dieser Universität disponiert. Gerade in diesen Regionen ist die Internationalität des Bildungsanspruchs und der Wirtschaft noch nicht zu Hause. Wir haben vor 150 Jahren erlebt, welchen Impetus die damalige Polytechnische Schule München, die heutige TUM, der Wirtschaft gegeben hat. Da gab es als einen der ersten Professoren Carl Linde, der den Kühlschrank und die Luftverflüssigung erfunden hat und auch Rudolf Diesel hervorbrachte. Das ist ein prominentes Beispiel dafür, was Investition in freie Forschung leisten kann. Der Erfinderingenieur und Unternehmer Linde war dieser Freigeist. Er hatte die wilde Idee, künstliche Kälte zu machen. Wenn das Umfeld gegeben ist, ein fruchtbares und intellektuelles eben, kann auch der Fortschritt kommen. Da sehe ich auch eine Chance für Georgien und die Region Kaukasien.

Wie kann man in Georgien die Wissenschaftsfreiheit garantieren?

Indem man auf die Standards der Berufungen und des Personals achtet. Da bin ich beteiligt, als Antreiber internationaler Berufungen. Das gilt zugleich für die Studierenden. Die Universität wird in ihrem ersten Lauf mit 250 Studierenden beginnen, die aus 1200 ausgewählt wurden. Das ist der richtige Weg. Und wenn die Universität dann von politischen Einflüssen frei ist, wonach es derzeit aussieht, kann sich Qualität entwickeln und es kann Reputation aufgebaut werden. Aber das wird nicht von heute auf morgen gehen. Sicherlich wird es auch nicht so funktionieren wie damals bei der Gründung der Stanford University. Damals fragte Leland Stanford, der Eisenbahnpionier, den späteren Präsidenten: „Was braucht man für eine erfolgreiche Universität?“ Die Antwort: „Man braucht hundert Jahre und einen Haufen Geld.“ Da ist wohl ein Kern Wahrheit dran. Hoffen wir, dass es keine hundert Jahre braucht.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wünschten Sie sich für die deutsche Hochschule?

Ich wünsche mir mehr unternehmerischen Geist. Die Agenda selbst in die Hand zu nehmen. Ich würde mir keine uniformen, sondern auf das jeweilige Hochschulprofil zugeschnittene Verfassungen wünschen. Auch sollten diese weniger vom Staat beeinflusst werden, sondern unternehmerisch agieren, wettbewerblich ticken, sich international orientieren, interdisziplinär arbeiten. Dazu gehört der Mut, riskante, neue Forschungsthemen aufzugreifen und in die Lehre umzusetzen. Man sollte dabei nicht bei der Erfindung stehenbleiben, sondern auch den Innovationsweg gehen. Es ist wichtig, wie wir das bei der TU München mit gutem Erfolg machen, die jungen Firmengründungen zu unterstützen. Das Beispiel zeigt, dass man eine Gründerszene tatsächlich generieren kann, wenn man Geduld und Ausdauer hat, und wenn man die jungen Menschen auf dem Weg in die unternehmerische Selbständigkeit unterstützt.

250. Geburtstag des Philosophen und Deutschen Idealisten Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Würde der Philosoph Hegel Corona-Partys erlauben?

Stefan Groß-Lobkowicz, 16.September 2020

Karl Marx hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel einst einen toten Hund gescholten. Doch so tot ist Hegel in Zeiten von Corona nicht. Vor 250 Jahren geboren, ist der Ausnahmeathlet des Deutschen Idealismus aktueller denn je. Anti-Corona-Proteste würde er ablehnen.

„Die Freiheit führt das Volk“ ist eines der bekanntesten Gemälde der Weltgeschichte. Das französische Malergenie Eugène Delacroix (Siehe Bild) hatte ihr 1830, einundvierzig Jahre nach dem Sturm auf die Bastille und ein Jahr vor Hegels Tod in Berlin, ein Gesicht gegeben. Die Freiheitsmütze der Jakobiner auf dem Kopf und die von den Bourbonen verbotene Tricolore in der Hand, stürmt in Zeiten jenseits der Emanzipation gerade eine Frau, die Nationalfigur der Französischen Republik, barbusig und barfuß die Barrikaden. Marianne wirkt fast irreal, doch Delacroix verwandelt sie in eine moderne römische Göttin, die in persona die Libertas symbolisiert. Sie selbst ist es, die das Zeitenfeuer entfacht, die der geknechteten Freiheit zum Siegeszug verhilft. Enthusiastisch, leidenschaftlich aufmunternd ihr auffordernder Blick zurück, mitreißend der Schritt nach vorn in das Wagnis der Freiheit hinein. Und das war sie die Freiheit – eine Zumutung, die die feudale Welt samt rühriger Besinnungslosigkeit in die Weltgeschichte als „Weltgericht“ auflöste, sie zum Moment der sich entfaltenden Vernunft machte.

Alles Konkrete ist im Werden

Wie die Gesetze in der Natur universal gelten, sind dies für Hegel die Begriffe der Vernunft und der Freiheit. Sie werden zu Motoren, setzen die Welt beständig in Bewegung, lassen Zeitalter zu Stufen des Weltgeistes werden, sich setzend, sich aufhebend – thetisch, antithetisch, synthetisch. Alles Konkrete ist im Werden. Kein Statisches bleibt, sondern alles ist auf dem Weg, auf das Ziel hin, absolutes Wissen zu werden. Den Triumph des Weltgeistes als dieses Wissen will der Schwabe als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ denken. Aber dies eben nicht zu realer Freiheit hin, „sondern dass es im Laufe der Geschichte fortschreitend zum Bewusstsein komme, dass alles Recht aus der Freiheit hervorgeht“. Und Hegel wird nicht müde, die Kerzen der Freiheit und Vernunft anzuzünden, gegen die Romantik, gegen die Pressezensur im preußischen Staat, gegen die Karlsbader Beschlüsse, gegen das System Metternich und die Restauration, die die Ideale der Französischen Revolution in einem Überwachungsstaat wieder auflösen werden und die Freiheit in die Tyrannei führen.

Es war ein bewegtes Jahrhundert, in das Hegel hineingeboren wurde. Gotthold Ephraim Lessing warb für Religionsfreiheit, Immanuel Kant stellte die Freiheit über alles. Der Stürmer und Dränger Friedrich Schiller zündelte mit seinen „Die Räuber“ gegen die Ständegesellschaft und forderte eine Umverteilung der Güter im Sinne einer neuen Gerechtigkeit. Später forderte er gar eine Ethik unterfüttert durch die Ästhetik, eine ästhetische Erziehung zur freiheitlichen Bürgerlichkeit. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 und die Französische Revolution 1889 waren das bacchantische Feuer, an dem sich Hegel erwärmte. Er feierte die Revolution als „herrlichen Sonnenaufgang“ der modernen Welt, als „Morgenröte“ schlechtin. Jedes Jahr wird er auf den Sieg der Freiheit über die Tyrannei mit einem Glas Champagner anstoßen.

Die dialektische Methode

Der 1770 in Stuttgart geborene Beamtensohn – ein Spätzünder in Vielem, von Jugend an schwergängig. Hegel war kein begnadeter Rhetoriker, der seine tiefschürfende Dialektik wortgewaltig verkündete, eher ein ungelenker Akteur, dem das Reden in der Öffentlichkeit schwerfiel, zudem mit Mundart ohnehin schwer verständlich. Als alter Mann wurde er von seinen damaligen Kommilitonen gehänselt – er, der immer überzeugter Patriot mit nationaler Gesinnung war. Seiner Zeit damit weit voraus. Der spätere Hauslehrer, Journalist, Gymnasiallehrer, Heidelberger und Berliner Professor wollte die Welt nicht aus einer Perspektive allein betrachten, nicht in ein Schema brechen, sondern Gesamtschau war das magische Wort. Eine Phänomenologie des Geistes, des erscheinenden Bewusstseins, hatte er meisterhaft ausgearbeitet, alles hart am Begriff und der Logik.

Zusammen mit Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, dem intellektuellen Dreigestirn der damaligen Zeit, wirbt Hegel für die unsichtbare Kirche der Freiheit. Die intellektuellen Superstars wollten vor allem eines: eine ideale Kirche jenseits von Pietismus und Frömmelei, jenseits von Amt und Dogmatik. Und Hegel wird selbst den Begriff Gottes verändern. Dieser bleibt ihm nicht das statisch Unbegreifliche, sondern entwickelt und vollendet sich in der christlichen Trinitätslehre als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er setzt sich aus Freiheit in die Welt, wird in Christus Fleisch und kommt als Heiliger Geist wieder zu seinem Ursprung zurück. Gottes Sein ist im Werden. Dieser Gott Hegels treibt vielmehr die Welt buchstäblich vor sich her und aus sich regelrecht heraus. Erst durch seine Manifestation in der Endlichkeit vermag er sich selbst als Ganzer zu erkennen. Dieser Gott des Werdens wird eine Provokation bleiben, nicht nur Hegels pietistischer Heimat. Wie Gott über allem, der Sohn für die Natur steht und der Heilige Geist den Kreis der Offenbarung beschließt und zu seinem Ursprung zurückgeht, ist die ganze Welt zuerst Idee, dann Natur und letztendlich absoluter Geist. Diese Dynamik war es, die Hegel auch seiner Geschichtsphilosophie zugrunde legte. Bewegen und Aufheben sind es, die seine Welt umstellen. Eine „flüssige“ Natur attestiert er allen Dingen, eine Trias, die vom Subjektiven hin zum Objektiven und schließlich zum Absoluten führt. In allen Stadien der dialektisch voranschreitenden Bewegung wird alles aufbewahrt, in seiner Besonderheit und Einmaligkeit gesetzt und dient so zugleich einem höheren Ganzen. These und Antithese, Idee und Welt, sollen sich nicht unvermittelt gegenüberstehen, sondern sich in einer qualitativ höherwertigen Einheit wieder finden. Synthese wird es bei Hegel heißen. Doch auch diese bringt er wieder auf den Weg. Die Synthese wird der Anfang weiterer Synthesen bleiben – und so fort. Bereits in seinerPhänomenologie des Geistes“ von 1807 entwickelte er sein „flüssiges“ Prinzip; die Wissenschaft von den Erscheinungsweisen des Geistes und das Emporsteigen desselben. Er ruft das Unfassbare aus! „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“

Hegels Staat

Wie bei Delacroix’ Marianne ist es bei Hegel der unverstellte Drang nach vorn. Die Bewegung wird zum Uhrwerk aller Unruhe. Sie gleicht einem Federmechanismus, der durch den Geist immer wieder aufgezogen wird. Sie ähnelt einer Aktivität, die nie zur Ruhe kommt. Für den Stuttgarter Freiheitsenthusiasten wird es keinen Nullpunkt geben, wo der Geist ruht und wo er stille steht. Geist, Vernunft und Freiheit halten Hegels Universum im Innersten zusammen und überbieten sich doch ständig. Dieser stete Drang zur Veränderung aus Freiheit ist das ungeschriebene Gesetz. Es ist die List der Vernunft, die das Gegebene, das Faktische in ihren Widersprüchen denkt und ununterbrochen dagegen rebelliert. Das Denken treibt immer wieder über sich hinaus, dann auf den Mitmenschen, dann auf die Gesellschaft und schließlich in den Staat als „Hieroglyphe der Vernunft“ hinein.

Den Staat als die Vereinigung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft wird Hegel zum vernünftigen Subjekt erklären, den er „als die Verwirklichung der sittlichen Idee“ begreift. Erst im Staat erlangen Freiheit und Sittlichkeit ihre vollendete Gestalt. Und diesen Staat will er nicht als etwas Beliebiges begreifen, sondern ihm zu dienen, schenkt letztendlich wahre Freiheit. Ja, mehr noch: Des Menschen höchste Pflicht, sein staatstheoretischer Imperativ, ist es, „Mitglied des Staates zu sein“. Als ein an und sich vernünftiger wird der Staat Hegels subjektive und objektive Freiheit miteinander verbinden. Sein Endzweck wird die Synthese von subjektiver und objektiver Freiheit, freiheitliche Selbstvollendung bleiben. Nur der Staat allein vermag letztendlich die Freiheit aller seiner Bürger zu garantieren. Und genau daher muss er aus Gründen der Vernunft auch die Willkür der einzelnen Bürger begrenzen.

Dieser starke Hegelsche Staat war Sprengstoff pur. Auslegbar in alle Richtungen. Und ausgelegt wurde sein Denken des Kreises, seine Dialektik und seine Staatsphilosophie so unterschiedlich wie nur denkbar. Hegel wird Linkshegelianer und Rechtshegelianer auf den Plan heben. Die einen werden ihn kurzerhand – wie der Trierer Karl Marx – auf den Kopf stellen. Statt Freiheit und Vernunft wird nunmehr der Sieg des Materialismus über den Idealismus seine Triumphe feiern. Der „umgekehrte“ Hegel, der in Marx die politische Bühne betritt, verwandelt die Hegelsche Freiheitsphilosophie in ihr pures Gegenteil. Im Gewand des dialektischen Materialismus und letztendlich im sozialistischen Systemgedanken wird die Freiheit auf dem Schafott gerichtet und der Wille des einzelnen Menschen geopfert. Marx ist der Totengräber Hegels. Wo einst Freiheit war, wird die Tyrannei aufgerichtet. Individuelle Freiheit wird nichts und der Staat alles. Die materialistische Weltgeschichte erweist sich damit zugleich als Weltgericht und fordert ihre Bauernopfer. Und dieses sozialistische Weltgericht fällt bekanntlich verheerend aus. Es endete auf den Folterbänken der Gulags, in den Zuchthäusern und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Extreme eines Nationalsozialismus in Personalunion, eines allgewaltigen Führers einerseits und eines dialektischen Materialismus – von Marx über Lenin zu Stalin hin – andererseits, wären für Hegel unvereinbar mit seinem Menschenbild, das er wie folgt umschrieb: „Es gilt der Mensch, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“.

Aber auch die sich auf Hegels Staatsphilosophie berufende Schule des Rechtshegelianismus geht fehl, wenn sie ihn radikal vereinnahmt und als preußischen Staatsphilosophen per se interpretiert und damit einseitig auslegen wird. Hegel war zu sehr Enthusiast, als dass er sich durch den konservativ restaurativen Geist anbiedern, geschweige denn diesen legitimieren würde. Hegel, der sich seit seiner Tübinger Zeit den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit leidenschaftlich verschrieben hatte, wird trotz seiner Lehre vom starken Staat in Preußen kritisch beäugt. Immer wieder begleitet ihn die Geheimpolizei wie ein dunkler Schatten. Seine liberal-republikanische Gesinnung steht im Visier der preußischen Zensur. Und dennoch äußert er immer wieder eine beißende Kritik an den herrschenden und unvernünftigen Verhältnissen seiner Zeit. Dies alles macht der gelernte Journalist sehr intelligent, kleidet es in Formulierungen, die auf den ersten Blick konformistisch aussehen, es tatsächlich aber nicht sind. Was er um keinen Preis will, ist ein Zurück hinter die Freiheitsideale der Französischen Revolution, genauso wenig die Marianna, die Barrikadenstürmerin. Zensur und die Beschneidung der Meinungsfreiheit, wie sie das System Metternich aufrichtete, bleiben ihm ein Gräuel. Für den Philosophen ist eben doch nicht alles „wirklich“, was existiert. Nur das Vernünftige wird zur wahren Wirklichkeit, die die Welt im Innersten zusammenhält. Oder anders formuliert: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“

Warum Hegel nicht zu Corona-Demos gehen würde

Als vernünftig würden sich auch die Anti-Corona-Protestler begreifen, die in der Bundesrepublik allenthalten die Straßen füllen, und die im Staat einzig den unliebsamen und gewalttätigen Leviathan sehen, der ihre Freiheitsrechte permanent beschränkt. Diese „Alu-Hut-Träger“, Corona-Verächter, die Covid-19 einer banalen Grippe gleichsetzen und die an Verschwörungen Glaubenden sind, wie Hegel monieren würde, so unbelehrbar, dass sie die weitere Verbreitung der Corona-Pest unbedingt riskieren wollen – und dies ausgerechnet unter dem Deckmantel des Eintretens für Grundrechte und als wahre Verfechter der liberal freiheitlichen Rechtsordnung.

Gleichwohl Freiheit des Philosophen letztes Wort bleibt, gibt es Situationen, in denen die Entscheidungen des Staates zu respektieren sind. Und Anti-Corona-Partys würde Hegel kategorisch mit folgendem Argument ablehnen: Hier handelt es sich nicht um Freiheit, sondern um Willkür. Und den wütenden Bürgern, die ihre Freiheitsrechte unter Corona in Frage gestellt glauben, keine Masken tragen und keinen Abstand halten, hätte er entgegengeschleudert: Eine Freiheit, die sich nur als Verantwortungslosigkeit zeigt, ist das Ende der Freiheit.

Hegel, der ab 1829 Rektor der Humboldt-Universität Berlin und der 1831 mit 61 Jahren selbst Opfer der Choleraepidemie wurde, begreift die Hauptaufgabe des Staates darin, die Freiheit aller zu garantieren. Daher muss dieser aus Vernunft die Willkür einzelner Bürger begrenzen. Das Freiheitsverständnis, von dem Hegel dabei ausgeht, ist völlig anders als das von Reichsbürgern oder „Covidioten“. Versteht der Autor der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten nur als Willkür, kann man von Freiheit erst dort sprechen, wo die Vernunft den Willen bestimmt. „Die Freiheit ist das Denken selbst.“ Und „wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet.“ „Der Wille ist nur als denkender frei.“

Wer also glaubt, den Reichstag zu stürmen, wilde Corona-Partys zu feiern oder Kontaktsperren zu umgehen, widerspricht dem Staat als vernünftigen und demokratischen Gemeinwesen. Eingriffe des Staates – wie Kontaktsperren oder die Einschränkung der Bewegungsfreiheit – dienen nach Hegel einzig und allein dem Zweck der Sicherung und der Garantie des Rechts auf Leben und der Gesundheit aller. Dieses höhere Recht auf körperliche Unversehrtheit versteht er als etwas weitaus fundamentaleres. Aber Eingriffe in die Natur des Rechts, der Beschränkung desselben, wie derzeit in der Corona-Pandemie, würde auch der deutsche Idealist nur in gewissen Ausnahme- oder Notsituationen tolerieren. Nur dann, im Fall von Naturkatastrophen, Kriegen oder eben Epidemien, darf der Staat den Not- oder Ausnahmezustand verhängen – doch dieser Eingriff sei auch nur zeitlich zu legitimieren.

Eine Pandemie wie Corona wäre jedoch für Hegel genau jene Ausnahmesituation, durch die sich eine zeitweilige und verhältnismäßige Ausweitung der Quarantänevorschriften rechtfertigen lässt. Doch die Freiheitsbeschränkung verliert ihre Gültigkeit mit dem Ende der Pandemie. Sollte der Staat dennoch die Rechte der Einzelnen über die Ausnahmesituation hinaus weiter einschränken, hat der einzelne Bürger ein unbedingtes Recht auf Widerstand – ein grundlegendes Freiheitsrecht. Oder anders formuliert: Ist die Notlage nach einer Pandemie nicht mehr gegeben oder aus Gründen der Vernunft nicht mehr rechtfertigbar, muss das Recht in vollem Umfang wieder Gültigkeit erlangen. Sollte der Staat dennoch seine unbeschränkte Macht und die Einschränkung gewisser Grundrechte weiterhin ungerechtfertigt aufrechterhalten, darf der Bürger tatsächlich gegen den Staat aufstehen. Und erst dann gehört es zu seinen staatsbürgerlichen Pflichten, gegen den Leviathan auf die Straße zu gehen, gegen staatliche Willkür zu protestieren. Wenn der Staat ohne Legitimation sein Vetorecht gebraucht, hätte auch Hegel nichts gegen Demonstrationen und womöglich auch nichts gegen die Besetzung des Reichstages. Doch bis dahin bleibt Hegel zu Haus, allein ist er dabei nicht. Für viele bleibt Corona ein tödliches Virus – und die staatlichen Eingriffe seitens der Bundesregierung in die Bewegungsfreiheit nachvollziehbar, sind sinnvoll und legitim.

 

Philosoph Hegel: Nicht nur „Covidioten“ und Reichsbürger müssten zu Hause bleiben

Stefan Groß-Lobkowicz9.09.2020Wissenschaft

Der deutsche Philosoph Hegel feierte am 27. August seinen 250. Geburtstag. Karl Marx nannte ihn einen toten Hund. Doch der Philosoph des Weltgeistes ist gerade aktueller denn je. Aber auf Anti-Corona-Partys würde man ihn nicht finden.

Die  Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) war Sprengstoff pur. Sowohl rechte wie auch linke Politiker, Ideologen und Diktatoren haben sich immer auf den Idealisten berufen, der mit seiner Philosophie vom Weltgeist, vom Weltgericht und der Vernunft ganze Epochen prägte. Mancher geht soweit, zu behaupten, dass ohne Hegel der Sozialismus und Kommunismus gar nicht stattgefunden hätten. Was sich Hegel einst am Reißbrett als idealen Staat erdachte, hatten die Marxisten dann in die Tat umgesetzt. Allerdings war es nicht mehr die Vernunft, die bei allem federführend sein sollte, sondern die Materie, die Arbeit, die Produktivkräfte und die Arbeiterschaft selbst als oberste Klasse.  Marx stellte Hegel buchstäblich auf den Kopf – und Lenin, Stalin und Co begruben die Geistesfreiheit in ihren Diktaturen. Millionen von Menschen wurden für das System geopfert, das den Totalitarismus über die individuellen Freiheitsrechte stellte.

In Zeiten von Corona erlebt der Stuttgarter Denker eine Renaissance. Einst hatte er mit Schelling und Hölderlin die berühmteste intellektuelle Kommune im Tübinger Stift gegründet. Die großen Genies waren hier versammelt, vergleichbar vielleicht heutzutage, wenn sich Bill Gates, Steve Jobs und Elon Musk ein Zimmer geteilt hätten. Freiheit war das Lösungswort der jungen Studenten. Sie alle sind begeistert von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution von 1789 gewesen und hatten Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben.

Denker der Freiheit – Und der Unterschied zwischen Freiheit und Willkür

Hegel, der zumeist als biederer Verfechter des preußischen Staates interpretiert wurde, dem über Jahrhunderte hinweg vorgeworfen wurde, dass der Einzelne nichts, der Staat hingegen alles sei und der so Preußens Restaurationsbemühungen nach den Karlsbader Beschlüssen goutierte, war aber in Wirklichkeit der Philosoph der Freiheit. Diese wurde ihm zum A und O seines Denkens. Doch in gewissen Situationen, wie in einer Pandemie, sind die vernünftigen Entscheidungen des Staates zu respektieren.

Gleichwohl Freiheit Hegels letztes Wort bleibt, würde er sich dennoch nicht an sogenannten Anti-Corona-Partys beteiligen, sondern eine Teilnahme an diesen im höchsten Grade kritisieren. Wenn sich in der Berlin vor dem Reichstag oder bundesweit Menschenansammlungen finden, die ihre Proteste gegen die von der Bundesregierung erlassenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie als Freiheitskampf verstehen, würde Hegel dem entgegensetzen: Hier handelt es sich nicht um Freiheit, sondern um Willkür. Gegen die wütenden Bürger, die ihre Freiheitsrechte unter Corona in Frage gestellt glauben, keine Masken tragen und keinen Abstand halten, würde Hegel entgegenschleudern: Eine Freiheit, die sich nur als Verantwortungslosigkeit zeigt, ist das Ende der Freiheit. Der Philosoph begründet das einmal mit seiner Idee vom Staat, andererseits mit der Unterscheidung von Freiheit und Willkür. Für Hegel gründet der Staat im Prinzip der selbstbewussten und individuellen Freiheit. Den höchsten Zweck des Staates sieht Hegel, später Rektor der Humboldt-Universität in Berlin und selbst Opfer einer Epidemie, der Cholera, darin, dass dieser die Freiheit aller seiner Bürger zu garantieren habe. Und daher  muss er aus Vernunft, als vernünftiger, die Willkür begrenzen. Zum anderen versteht Hegel unter Freiheit etwas anderes als Reichsbürger oder  „Covidioten“ darunter subsumieren. Freiheit bedeutet nicht tun zu können, was man will. Das Auswählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten ist eben nur Willkür. Von Freiheit kann man erst dann sprechen, wenn die Vernunft den Willen bestimmt, denn „die Freiheit ist das Denken selbst.“ Und „wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet.“ „Der Wille ist nur als denkender frei.“

Nur der Ausnahmezustand rechtfertigt die Einschränkung bestimmter Rechte

Wer also glaubt, den Reichstag zu stürmen oder wilde Corona-Partys zu feiern oder Kontaktsperren zu umgehen, widerspricht den Maßnahmen gegen die Pandemie, die der Staat als vernünftiges demokratisches Gemeinwesen gesetzt hat und handelt bloß willkürlich, ja mehr noch, verstößt fundamental gegen die Freiheit und die Rechte der Menschen im staatlichen Gemeinwesen. Die vom Staat erlassenen Beschränkungen heben nur die Willkürfreiheit auf. Der Eingriff des Staates, so Hegel, bei Kontaktsperren oder bei der Einschränkung der Bewegungsfreiheit, ist keine bloße Beschränkung der Freiheit, sondern geschieht vielmehr zu dem Zweck der Sicherung und der Garantie des Rechts auf Leben und Gesundheit, das nach Hegel ein fundamentaleres Freiheitsrecht aller Bürger ist und damit über dem individuellen Willkürrecht steht. Diese Begrenzung freiheitlicher Rechte darf der Staat aber nur in gewissen Ausnahme- oder Notsituationen, also im Fall von Naturkatastrophen, Kriegen oder eben Epidemien verhängen. Der Notzustand oder Ausnahmezustand bleibt auch bei Hegel begrenzt, seine Gültigkeit auf einen bestimmten zeitlichen Rahmen beschränkt. Und eine Pandemie ist für den Begründer des absoluten Idealismus ebenfalls eine Ausnahmesituation, durch die sich eine zeitweilige und verhältnismäßige Ausweitung der Quarantänevorschriften rechtfertigen lässt. Überstrapazieren darf der Staat die Ausnahmesituation nicht, denn dann muss das unbedingte Recht auf Widerstand greifen, das für Hegel ein grundlegendes Freiheitsrecht in einer Not- oder Ausnahmesituation ist, wie der Jenaer Hegel-Forscher Klaus Vieweg betont. Oder anders formuliert: Sollte die Pandemie vorbei sein, dann muss das Recht in vollem Umfang wieder gelten, sollte es nicht so sein, dann ist es eine vernünftige Pflicht des Staatsbürgers auf die Straßen zu gehen und womöglich auch den Reichstag zu besetzen. Aber soweit wird es in der Demokratie nicht kommen.

Schweden: Masken sind nicht wirksam genug, um einen Masseneinsatz zu rechtfertigen

Stefan Groß-Lobkowicz1.09.2020Europa

Schweden widersetzt sich auch Anfang September dem europäischen Pandemie-Trend und weigert sich weiterhin, Gesichtsmasken zu empfehlen. Masken seien nicht wirksam genug, um einen Masseneinsatz zu rechtfertigen, so die Gesundheitsbehörde des Landes. Liegen die Schweden richtig?

Schweden geht seit dem Ausbruch des Coronavirus einen Sonderweg. Das skandinavische Land hatte nie einen Lockdown zu verantworten, reduzierte selbst in der Hochphase der Corona-Pandemie nie das öffentliche Leben – Schulen, Geschäfte und Bars blieben offen. Dafür wurden und werden die Schweden immer wieder kritisiert. Was man praktiziere, sei „verantwortungslos“ und „hartnäckig“, ein Kurswechsel unbedingt geboten, so die Vorwürfe am schwedischen Sonderweg Anfang September. Ein Kurswechsel sei unbedingt geboten.

Schweden bleiben Maskenmuffel

Doch die Schweden bleiben in Sachen Maske resistent – Maskenmuffel nicht wider den Zeitgeist, sondern aus wissenschaftlicher Überzeugung heraus. Während in der Bundesrepublik aus Angst vor einer zweiten Welle, die Maskenpflicht wieder anzieht, der Berliner Senat nach den Ausschreitungen auf der Anti-Corona-Party vor dem Berliner Reichstag sogar gesetzlich verfügt und die Maskenpflicht gar auf den privaten Raum und die Feierkultur der Bundesbürger ausweitet und mit drakonischen Geldstrafen flankiert, machen die Schweden das, was sie in Coronazeiten man besten können. Sie leben maskenlos. Sei es in der U-Bahn oder im Bus, sei es beim Einkaufen oder in der Schule. Masken haben sich, so Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens, nicht als ausreichend wirksam erwiesen, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen, d.h. einen Masseneinsatz zu rechtfertigen. Stattdessen setzt man in dem Land, das 1995 der Europäischen Union beigetreten ist, auf soziale Distanzierung und persönliche Hygienemaßnahmen.

Das mit 10 Millionen Einwohnern verhältnismäßig kleine Land, das seit 2014 von Ministerpräsident Stefan Löfven regiert wird, hat zwar mit 575 Todesopfern pro Million Einwohner die siebthöchste Todesrate der Welt, was jedoch hauptsächlich darauf zurückzuführen sei, dass es in der Frühphase der Pandemie versäumt hatte, ältere Menschen in Pflegeheimen zu schützen.

Fallende Zahlen und Reproduktionswert unter 1

Im Gegensatz zu vielen Ländern in Europa, wo ein Neuanstieg der Coronafallzahlen zu registrieren ist, ob in Frankreich, der Niederlande, Deutschland, Belgien, Spanien und Italien, gehen die Coronazahlen seit Juli permanent nach unten.

Während die Zahl der täglichen Todesfälle im April ihren Höhepunkt erreichte, ist der sogenannte Reproduktionswert seit über zwei Monaten unter 1 geblieben. Die niedrigen Zahlen, so die schwedische Gesundheitsbehörden um Chef-Epidemiologe Anders Tegnell, geben auch im Herbst keinen Anlass, die bisherige Strategie zu verändern. Schwedens Wissenschaftler berufen sich dabei auf wissenschaftliche Studien, die nicht bewiesen haben, dass Masken die Ausbreitung des Virus wirksam eindämmen. Vielmehr argumentieren sie: Bei schlampiger Anwendung würden diese mehr Schaden als Nutzen anrichten.

Masken helfen auch nichts

Wie Tegnell betont, sind die Coronazahlen rückläufig, seitdem man Risikogruppen, insbesondere in den Alten- und Pflegeheimen besser schütze. Ein weiterer Grud für die niedrigen Infektionsraten sieht er darin, dass die Schweden im Krankheitsfall zu  Hause bleiben, Home-Office machen und soziale Abstandsregeln respektieren. „Der Versuch, diese Maßnahmen durch Gesichtsmasken zu ersetzen, wird nicht funktionieren“, betont Tegnell und fügte am 14. August hinzu: „In mehreren Ländern, die Masken eingeführt haben, sind jetzt große Wiederauferstehungen zu verzeichnen.“

Es bleibt abzuwarten, ob die Covid-19-Übertragung in Schweden weiter abnehmen wird. Die schwedische Bevölkerung zumindest ist so liberal, dass sie dann Masken tragen würde, wenn der Staat es zur Pflicht machen würde. So lange es ohne diese geht, vertraut man Anders Tegnell.

Der Weimarer Olympier Goethe mochte keine Englischen Gärten

Stefan Groß-Lobkowicz28.08.2020Wissenschaft

Johann Wolfgang von Goethe – das Genie aus Frankfurt, der im thüringischen Weimar Karriere machte, war Dichter, Maler und vor allem auch Kunstkritiker. Nicht nur in seinen vielen Schriften zur Kunst machte er sich Gedanken, welche Kunstgattung denn nun im Kanon der Künste den obersten Platz einnehme. Mit Friedrich Schiller, dem innigsten Freund der mittlerern Schaffensperiode, war er sich einig: Die Englische Gartenkunst ist eher Spielerei denn wahrhaft große Kunst. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Es war Karl Jaspers, der den Begriff „Achsenzeit“ prägte und darunter eine Zeit von kulturellen Hochblüten verstand. Weimar, die Weimarer Klassik, war so ein spätes Juwel im jasperschen Sinne, eine Zeit der Genies und Allrounder.

Goethe und Schiller sind beides gewesen, aber in erster Linie Menschen mit einem Gespür für ihre Zeit und einem unendlichen Drang, das Wissen zu kategorisieren und diesem in der lebendigen Gestalt der Kunst zu neuer Blüte zu verhelfen. Sie waren Genies von Weltrang, insbesondere aber für die europäische Kunst- und Kulturgeschichte. Und dennoch waren sie zwei Denker, die unterschiedlicher nicht sein konnten, die aber ihre Verschiedenheit im Freundschaftsbund besiegelten und das Gegenüber in seiner Selbständigkeit akzeptierten, tolerierten und ein Gespräch auf Augenhöhe suchten und fanden. Dass sie von verschiedenen Standpunkten aus reflektierten, war der eigentliche Reiz, der den alten Goethe stets am jüngeren Schiller faszinierte. Beide liebten die Natur, sangen Lobeshymnen auf diese, beide waren Landschaftspoeten und Gartenliebhaber. Für beide gehörten Gärten, Parks sowie die unbezähmbare Natur zum literarischen Repertoire. Und bei der Frage, welchen Rang die Gartenkunst im Rahmen der Hierarchie der Künste einnimmt, waren sie sich – trotz unterschiedlicher Denkansätze – einig.

Goethe, der Geist der Aufklärung und die Verirrungen der englischen Gartenkunst

Die englische Gartenkunst war zu Goethes und Schillers Zeiten en vogue. Im Unterschied zu den barocken Gartenanlagen atmeten die Landschaftsparks den Geist der Freiheit, der aufgeklärten Freiheit, in ihrem ganzen Facettenreichtum. Goethe, der geniale Dichter und jugendliche Freigeist war vom englischen Garten, von der gespielten Formlosigkeit desselben fasziniert, war dieser doch Ausdruck seines eigenen Gestaltungswillen und der unbändigen Kraft des Willens zur Schöpfung. Um so mehr verwundert es, dass er schon früh, im Jahr 1777, im Triumph der Empfindsamkeit Abstand von den Gartenspielereien nach englischen Vorbild nimmt. Goethe ist nicht mehr der Stürmer und Dränger, er ist zum Klassiker geworden und hat damit auch seine Formsprache verändert. Nun kritisiert er diese Gattung, ihre gekünstelten Affekte und „Spielereien“.

Während Autoritäten wie Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Gottlob Heinrich von Rapp, Johann Christian August Grohmann und Wilhelm Gottlieb Becker den Versuch unternahmen, der Gartenkunst ein festes wissenschaftliches Fundament zu geben, um sie im Gattungsdiskurs zu nobilitieren, versagt Goethe dieser Kunst einen höheren Geltungsanspruch für die „Bildende Kunst“. Damit ist der Weimarer Klassiker in Deutschland der erste, der öffentlich gegen die englisch-sentimentale Gartenkunst rebelliert. So sehr er sich in seiner Jugend als auch später für den englischen Garten begeisterte, nie war ihm diese Kunst es wert, diese theoretisch zu legitimieren, nie verfasste er, im Unterschied zur Malerei, Bildhauerkunst und Architektur, eine Schrift, wo er nach Regularien sucht, diese ästhetisch-wissenschaftlich aufzuwerten.

Goethe bleibt als Dichter ein leidenschaftlicher Naturverehrer, als Wissenschaftler und Theoretiker, dem es immer wieder und in erster Linie um allgemeine Prinzipien der Kunst geht, bleibt die Gartenkunst für ihn ein randständiges Terrain, dem er insonderheit nach seinem Italienaufenthalt keine schwärmerische Verklärung wie noch 1776 zukommen lässt. Was Goethe nunmehr interessiert, ist eine Gehaltsästhetik die klare Prinzipien formuliert und Regularien aufstellt, die für jede objektive Kunst und damit für die Kunstmaximen das theoretische Fundament liefern. Sie wird bis zu Goethes Tod sein Kunstverständnis bestimmen und prägen. Und so verwundert es kaum, dass er die englische Gartenkunst immer wieder als schlechte Nachahmung kritisiert und damit diskreditiert, da diese die Natur nur kopiert, anstatt dieselbe zu einer zweiten Kunst, zu einer zweiten Natur, zu erhöhen. Im Rückblick auf die Kunstausstellung von 1803 rückt er dann den allgemeinen Hang zum „Sentimental = Unbedeutenden und zum Platt = Natürlichen“ noch eindringlicher in den Fokus. Immer deutlicher akzentuiert sich dabei: Der englischen Gartenkunst ermangelt es an „Kunstwahrheit“. „Echte Kunst“ hat einen „idealen Ursprung und eine ideale Richtung“; sie hat ein reales Fundament, ist aber nicht realistisch. Wo die Idee fehlt, wie in der Gartenkunst und in der „neu = deutsche(n)“ und „religiös = patriotische(n)“ Kunst, da ist es auch mit der Kunst nicht weit her. Eine Kunst, die sich auf Neigung, Sentimentalität und blinde Religiosität reduziert, führt zwar zu religiöser Begeisterung, nicht aber zu den Gesetzen der Kunst.

Die synthetische Aufgabe wahrer Kunst

Die Aufgabe aller wahrhaften Kunst beschreibt Goethe als ein Vorgehen vom „Formlosen zur Gestalt überzugehen“. Und das Ziel jeder Kunst sei es nun, von der sinnlich fassbaren Natur ausgehend, ein Werk hervorzubringen, „das, indem es das sinnliche Anschauen befriedigt, den Geist in seine höchsten Regionen erhebt“, denn wer nicht rein zu den „Sinnen“ spricht, der spricht auch nicht rein zum Gemüt. Diejenige Kunst, der es gelingt, diese Maxime zu verwirklichen, der kommt innerhalb der Gattungshierarchie dann ein höherer Rang zu. Für Goethe ist es die Landschaftsmalerei, die er über der Gartenkunst und Architektur verortet, aber der Plastik oder Bildhauerei unterordnet. Damit ist ein Kunstkanon oder eine Nomenklatur bereits erkennbar. Die Gartenkunst ist lediglich „Naturwirklichkeit“, die Malerei wahrhafte Kunst, weil sie nach Grundsätzen – statt nach dem Prinzip regelloser Willkür – arbeitet. Was der Gartenkunst englischer Prägung fehlt, ist die Kategorie der „Erfindung“.

Die Baukunst

Seine Kritik an der Regellosigkeit des Dilettantismus und damit an der Gartenkunst wiederholt er in seinem Werk Über strenge Urtheile und straft die Gattung samt ihrer „Formensprache „ als „Nullität“ ab. Die englische Gartenkunst bleibt, anders als die barocke und der Nutzgarten, für die Goethe hier mehr Sympathien entwickelt, eine, die auf halben Weg siedelt. Damit hat er die einst frenetisch gefeierte und als Bühne vieler seiner Inszenierungen gepriesene englische Gartenkunst aus dem Olymp in die niederen Ebenen der Kunst verwiesen. Aber welche Kunst ordnet er über diese? Diesen Versuche unternimmt der Weimarer Dichterfürst in seiner zweiten Schrift zur Architektur, der Baukunst von 1795. Im Unterschied zur Gartenkunst versteht er die Architektur eben nicht als bloß imitierende und mimetische Kunst, sondern als eine die nach einem höchsten Zweck der Darstellung arbeitet, als eine schöpferische Tätigkeit also. Fehlt der Kunst die Regel, so der reife Goethe in seinem Aufsatz Von deutscher Baukunst von 1823, siedelt sie qualitativ auf einer niederen Stufe.

Die Landschaftsmalerei als Landschaftsdichtung

Im Spiel der Hierarchie der Künste ist es die Landschaftsmalerei ruysdaelscher Prägung, die Goethe fasziniert und die er im strengen Sinn als Landschaftsdichtung auszeichnet, so zumindest in seinem Aufsatz, Ruysdael als Dichter. In und durch diese gemalte Dichtung, und dies versteht Goethe als Qualitätsmerkmal hoher Kunst, kommt das Objektive der Kunst zur Geltung, spricht sich gleichsam ihr Begriff aus, offenbart sich die Synthese von Natur- und Kunstschönheit, die für die Vereinigung von objektiver Darstellung und subjektivem Erleben steht. Was an Ruysdael fasziniert, ist, dass dieser eine „vollkommene Symbolik“ erreicht, die die Gesundheit des äußeren und inneren Sinnes befriedigt.

Vollendete Form – die Plastik

Zum Maßstab aller „Bildenden Kunst“ wird für Goethe die Plastik oder Bildhauerei. Sie führt den Gattungsreigen an und steht damit an höchster Stelle innerhalb der Gattungshierarchie. Das Wahrhafte dieser Kunst symbolisiert sich für den Olympier in der Laokoon-Gruppe, die Goethe zum Ideal der plastischen Kunst erklärt. Im Laokoon verbinden sich das Anmutige und das Schöne, das Sinnliche und das Geistige zu einer höheren Einheit, zu einer zweiten Natur, die weder des Allegorischen bedarf, sondern jenseits des Geschichtlichen die ewige Idee der genialischen Kunst versinnbildlicht. Mehr als die Darstellung der vollendet „tragischen Idylle“ kann die „Bildende Kunst“ nicht erreichen, wobei die ästhetischen Parameter des „Nächsten“, „Wahren“ und „Wirklichen“ in vollendeter Form angewendet werden.

Friedrich Schillerkritische Sicht auf die Gartenkunst und die Nobilitierung der Schaubühne

Friedrich Schiller war mehr als Goethe Idealist, tiefer in die Philosophie der Zeit verwoben und hatte mit seinem Werk „Die ästhetische Erziehung des Menschen“ selbst Geschichte geschrieben. Er hatte dem Begriff des „Spiels“ zur Eigenständigkeit verholfen und eine Synthese von Sinnlichkeit und Vernünftigkeit als Erziehungsideal gefordert.

Als Professor in Jena war Schiller selbst Gartenbesitzer, hier entstanden Teile des „Wallensteins“, der „Maria Stuart“ und die berühmten Balladen für den Musenalmanach. Das Gartenhaus war ein geistiges Universum der kleinen Universitätsstadt, hier versammelten sich die Intellektuellen der Zeit. Goethe war ein regelmäßiger Gast, aber auch Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ludwig Tieck, Sophie Mereau, Susette Gontard und Caroline von Humboldt.

Auch Schiller greift in den Gattungsdiskurs ein

Schillers Auseinandersetzung mit der Gartenkunst fällt in die Zeit, als die englische Gartenkunst bereits ihren Zenit überschritten hatte – sicherlich auch durch Goethes Veto. Dennoch greift der Dichterphilosoph nochmals in den Gattungsdiskurs ein. Auch Schiller hat in der mit Goethe und Meyer herausgegebenen Schrift Über den Dilettantismus zur neuen Mode Stellung bezogen. Das Resümee des Marbacher Mediziners fällt ganz in die Richtung Goethes, wenn er Kunst daran bemisst, ob sich der Künstler selbst Gesetze auferlegt oder lediglich der Mode der Zeit folge. Für eine reine Empfindsamkeit kann sich Schiller ebenso wie Goethe nicht erwärmen, da es auch ihm wie dem Frankfurter Juristen und Minister letztendlich um Objektivität in der Kunst geht, um allgemeingültige Prinzipien, um eine Architektonik im höchsten Sinne.

Schillers Kritik am barocken und englischen Garten

Schiller nimmt in einer Rezension im Journal Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 zumindest einmal theoretisch Bezug zur Gartenkunst. Im Mittelpunkt steht dabei seine kritische Distanz zur barocken Gartenkunst, die unter das „steife Joch mathematischer Formen“ gepresst wird. Die barocke Gartenkunst versteht er als eine, die die Natur ihrer Freiheit beraubt. Aber auch die englische Gartenkunst, der es an Notwendigkeit und Regelprinzipien ermangelt, kann nicht den Anspruch für sich erheben, die Gattungshierarchie anzuführen. Eine Gartenkunst, die die Natur determiniert und eine Kunst, die keine Regeln hat, vermag Schiller nichts abzugewinnen, woraus er schlussfolgert, sowohl dem barocken als auch dem englischen Gartenideal, was ihren künstlerischen Wert betrifft, eine Absage zu erteilen. Beide Gartentypen korrespondieren nicht mit Schillers Freiheits- und Harmonieverständnis. Und mit Goethe resümiert auch er: wo nicht Verstand und Gefühl zusammenspielen, kann das Kunstprodukt schließlich nur die unteren Erkenntnisvermögen beflügeln und taugt nicht für große Kunst.

Große Kunst ist mehr als Nachahmung

Damit verortet auch Schiller die Gartenkunst nach englischem Vorbild in der Hierarchie der Kunst am unteren Ende. Das Kriterium wahrhafter Kunst, und dies gilt bei Schiller auch für die Architektur, muss Sinnlichkeit und Sittlichkeit miteinander vereinen. Eine sensualistische Wirkungsästhetik sowie eine rein vernünftige Begründung des Schönen wie sie Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Georg Sulzer vor Augen haben, lehnt Schiller daher ab, weil das Wesen der Kunst auf ein synthetisches Ereignis zurückgeht, das den Dualismus von Sinnlichkeit und Sittlichkeit zwar voraussetzt, diesen aber zu überwinden sucht. Kunst lässt sich nicht auf Nachahmung reduzieren. Und die Aufgabe der Kunst sei es letztendlich, über „die formale Ähnlichkeit des Materialverschiedenen“ hinauszugehen, da im bloß „Nachgeahmten“ der Stoff den Inhalt verdrängt.

Nicht zurück nach Arkadien, sondern hin zum Elysium

Der moderne Mensch, den Schiller im Blick hat, vermag es nicht, wie der naive Gartenkünstler noch vermeinte, von einer synthetischen Einheit zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit ausgehen zu können, sondern er muss zuerst versuchen, diese Synthese allererst zu stiften. Die Realisierung dieser Aufgabe schreibt der Dramatiker aber nicht mehr der Gartenkunst zu, sondern der idyllischen Dichtkunst, der es allein gelingt, die Entfremdung des Menschen von sich und von der Natur aufzuheben, indem sie die „Hirtenunschuld auch in den Subjekten der Kultur“ darstellt und so nicht zurück nach Arkadien, sondern nach Elysium führt. Für Schiller verbietet sich damit der Rückzug in die geschichtlich-arkadische Welt der Antike, weil man diese Idylle (naive Kunst) überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann.
Ebenso kritisch bleibt Schillers Blick auf die Landschaftsmalerei. Zwar verortet er sie – wie bereits Goethe – über der Gartenkunst, aber beide Künste zielen auch für ihn nicht auf die Vernunft, sondern lediglich nur auf das Gemüt. Was beiden somit fehle, ist der propädeutische Effekt im Sinne einer Erziehung durch die Kunst. Wahrhafte Kunst hat den ästhetischen Staat als höchsten Zweck, in dem der „schöne Umgang“ und der „schöne Ton“ als kommunikative Voraussetzung gelebt leben. Aus Sicht des Gehaltsästhetikers Schiller kann damit die Landschaftsmalerei vor dem Richterstuhl der ästhetischen Vernunft und des regulierenden Verstandes auch nicht bestehen. So verwundert es nicht, dass er innerhalb der Gattungshierarchie nicht der „Bildenden Kunst“ die Kronjuwelen aufsetzt, sondern der darstellenden Kunst – der „Schaubühne“.

Die Schaubühne bleibt das A und O aller Kunst

Allein die Schaubühne als moralische Anstalt vermag für Schiller, Sinnlichkeit und produktive Einbildungskraft zu verbinden und zur praktischen Vernunft anleiten. Sie bleibt das Allheilmittel zur ästhetischen Erziehung als Endzweck einer Gesellschaft freier Bürger, die von der Schönheit und dem Herzen beflügelt in ihrer sittlichen Würde angesprochen, das Moment der Glückseligkeit beim Zuschauer hervorrufen. Zu dieser Glückseligkeit beizutragen, darin sieht Schiller den höchsten Zweck aller Kunst. Glückseligkeit und Glückswürdigkeit – sie in eine, ja auf die kantische Einheit hinzuführen, bleibt die einzigartige Aufgabe der Schaubühne, sofern es ihr gelingt, die beiden Herzen in des Menschen Brust in einen „mittleren Zustand“ zu vereinigen. Die Schaubühne steht damit als „Schule der praktischen Weisheit“ – neben Dichtung und Lyrik – über allen Gattungen der „Bildenden Kunst“.

Wenn es wahr ist, ruiniert es den Journalismus

Stefan Groß-Lobkowicz24.08.2020Europa, Medien

Vor einem Jahr hatte die Ibiza-Affäre eine heftige Regierungskrise in Österreich ausgelöst. Straches Alkohol-Abend sorgte für gehörigen politischen Sprengstoff. Das Bündnis aus ÖVP und FPÖ trat ab. Das damals geleakte Ibiza-Video ist nun auf 31 Seiten in Schriftform erschienen und bringt neues Licht in einen der medial gehyptesten Skandale der letzten Jahre. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

 

Er galt als Medienskandal der Superlative. Ein Video zwang eine ganze Regierung zum Abgang, Österreich war bis ins Mark hinein erschüttert. Die Regierung des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, im Krisenmodus und bloßgestellt. Doch Geschichte wiederholt sich, und dies nicht zugunsten der damaligen Berichterstattung von „Süddeutscher Zeitung“ und „Der Spiegel“. Selbst die „FAZ“ und „Die Welt“ berichten über die unerwartete Wendung in der Affäre um das geleakte Ibiza-Video.

Was ist passiert? – Die Fakten

Ein Video ist ein Video und die Überzeugungskraft, dass es sich dabei um reine Tatsachenwahrheit handelt, scheinbar evident. Das so genannte Ibiza-Video, das den ehemaligen FPÖ-Politiker Strache und Vizekanzler zu Fall brachte, wurde im Sommer 2017 heimlich in einer Finca auf Ibiza aufgenommen. Mit versteckter Kamera wurden die FPÖ- Politiker Strache und Johann Gudenus (damals noch FPÖ) dabei gefilmt, wie sie einer vermeintlichen russischen Oligarchennichte Angebote unterbreiteten, die den Eindruck erweckten, dass Strache korrupt und käuflich sei, gegen Spenden der Nichte sogar rechtswidrige Handlungen einräumte.

Die „Süddeutsche Zeitung“ und der „Spiegel“ veröffentlichten im Mai 2019 Sequenzen der Aufnahmen. Sowohl Strache als auch Gudenus zogen die Konsequenzen. Strache trat als Parteichef der FPÖ und Vizekanzler zurück, Gudenus beendete seine Karriere in der FPÖ. Die rechtskonservative Regierung zerbrach. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) rief Neuwahlen aus.

Schon damals sprachen Kritiker von Fake News, einem manipulierten Video, einer Diffamierungskampagne deutscher Medien gegen die hierzulande umstrittene österreichische schwarz-blaue Koalition, die sowohl in der Europapolitik als auch bei der Migrationspolitik einen völlig anderen Kurs als die deutsche Bundeskanzlerin gefahren hat. Der Rechtsruck in Österreich mit der guten, alten ÖVP war in Deutschland kein Kavaliersdelikt, zumal man innenpolitisch mit einer stark aufstrebenden AfD zu kämpfen hatte. Der damals ausgreifende Rechtsruck ist Deutschland und Europa bislang erspart geblieben, aber ein sehr schaler Nachgeschmack bleibt.

Unerwartete Wendung in der Affäre um das geleakte Ibiza-Video

Nun sind Textpassagen von weiteren fünf Minuten des geleakten Videos aufgetaucht. Diese sollen aus den Akten der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Wien stammen, die gegen die Urheber der „Ibiza-Falle“ ermittelt. Das nun erstmals zugängliche Transkript legt nahe, dass Ex-Vizekanzler Strache unlautere Angebote damals offenbar ablehnte. Schon nach der Veröffentlichung des Videos betonte der FPÖ-Politiker seine Unschuld zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen, er habe „nie etwas Unredliches machen“ wollen, „Illegales“ sei ihm fremd.

„Bewusst nachteilige Auswahl der Video-Stellen“

In dem von der Zeitung „Österreich“ veröffentlichten Transkription ist von 270 Millionen Euro die Rede, die Aljona Makarova, die vermeintliche russische Oligarchinnichte, die derzeit noch polizeilich gesucht wird, angeblich investieren will. Der Privatdetektiv, der Strache und Gudenus filmte, wollte von SPÖ-Mann Strache einen klaren Satz hören: „Schau, sie will hören: Ich bring 270 Millionen, innerhalb von so und so viel Zeitraum bekomme ich das zurück, und ihr bekommt’s das.“ Laut Transkription antwortet Strache: „Ja, aber das spielt’s nicht.“ An einer anderen Stelle sagt er: „No way, mach ich nicht. Und bei mir nur gerade Geschichten, ganz gerade Geschichten“. Und: „Ich hab es daher nicht notwendig, bei mir gibt’s nichts Angreifbares, die können mich durchleuchten was sie wollen, sie finden nichts, weil ich mir nichts zuschulden kommen lasse, was es da gibt. Der größte Fehler wäre, einmal anders zu handeln. So, die anderen machen’s, die anderen machen’s, sollen sie machen.“ In einer weiteren Passage, wo von osteuropäischen Korruptionspraktiken die Rede ist, heißt es: „Nein, nein. Aber jetzt sind wir ehrlich. Mit jedem anderen Scheiß machst du dich angreifbar, und ich will nicht angreifbar sein. Ich will ruhig schlafen. Ich will in der Früh aufstehen und sagen: Ich bin sauber.“

Ganz so moralisch bleibt Strache aber nicht – Das neue Textdokument entlastet nicht Gesagtes

Strache bleibt zwielichtig, er ist auch nach der Enthüllung, die er mittlerweile als Pyrrhussieg feiert, kein westenreiner Saubermann, selbst wenn er sich durch die neuen Textpassagen entlastet wähnt. „Es zeigt sehr gut, wie manipulativ bei der Videoveröffentlichung im Mai des Vorjahres vorgegangen worden ist. Die neuen fünf Minuten werden so wie der Rest des Videos belegen, dass ich immer wieder betont habe, nichts Illegales machen zu wollen.“

Die damals veröffentlichen Gesprächspassagen, die als Donnergroll über Strache hineinbrachen, bleiben. So mögliche Investitionen von Seiten der FPÖ und mögliche Gegengeschäfte, die die Partei von der Russin erwarte. Auch dass die vermeintliche Investorin Makarova die Mehrheit an der „Kronen-Zeitung“ übernehmen und dort für eine FPÖ-freundliche Berichterstattung sorgen könnte.

Wenn es wahr ist, was die Tageszeitung “Östereich“ schreibt, ist es ein Riesenskandal, der das Vertrauen in die Medien nicht nur unmoralisch berührt, sondern gleichsam ruiniert. Man mag kein Freund des österreichischen Rechtsaußen-Politikers Hans-Christian Strache sein, doch wenn der Journalismus nicht nur den Ruf einer Person, sondern dessen gesellschaftliche Existenz vernichtet, erinnert dieser Akt nicht an eine reflektierte Auseinandersetzung mit einem – zugegebenermaßen streitbaren – Gegner, sondern an Methoden, die aus den Zeiten des finstersten Stalinismus und den repressiv-vernichtenden Methoden der DDR-Staatssicherheit erinnern. Denn wer dort nicht ins System passte, der wurde totgeschwiegen, aufs Böswilligste gemobbt, verbrachte die düstersten Jahre seine Lebens in Waldheim und Torgau oder verlor auf ominöse Weise sogar das Leben, saß in russischen Gulags oder in Hohenschönhausen, dem „Zentrales Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit“.

Wenn man als Journalist nur die halbe Wahrheit sagt, lügt man schon?

Immanuel Kant hatte im Jahr 1797, sieben Jahre vor seinem Tod, einen kurzen Aufsatz mit dem Titel „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ geschrieben. Kant, der Begründer des kategorischen Imperativs als objektiver Sollensform und der deontologischen Pflichtethik, vertrat darin die Auffassung, dass es selbst bei Gefahr für Leib und Leben kein Recht auf eine Lüge („Notlüge“) gibt. „Weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird“, kam Kant zu dem Schluss: „Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.“ Damit wandte sich Kant gegen ethische Auffassungen, die die Zweckrationalität eines am Nutzen orientierten Utilitarismus als vorrangiges Prinzip verfolgen (Konsequentialismus). Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, so der Königsberger Philosoph und Aufklärer, ist hingegen eine unbedingte Pflicht, da das Vertrauen auf Versprechen einer der Grundsätze ist, die die menschliche Gesellschaft zusammenhält.

Für die vierte Gewalt gilt es, bei der Wahrheit zu bleiben

Die Wahrheit ist immer nur die halbe, hatte der Giessener Philosoph Odo Marquard, mit Bezug auf seine Transzendenzkritik gesagt. Wer aber bewusst nur die halbe Wahrheit sagt und diese als das Ganze darstellt, der lügt wissentlich und gehört nicht in den medialen Diskurs. Die verantwortlichen Redakteure von „Süddeutscher Zeitung“ und „Der Spiegel“ haben also vorsätzlich gelogen und dafür gebührt ihnen nicht nur Verachtung, sondern auch eine Strafe. Sie haben gegen ihre publizistische Sorgfaltspflicht und damit gegen einen allgemeinen medienrechtlichen Grundsatz verstoßen. Auch für die vierte Gewalt gilt es, bei der Wahrheit zu bleiben. Denn: Die „Presse hat nicht nur Rechte, sie hat auch Pflichten. Die Journalistinnen und Journalisten sind verpflichtet, nichts Falsches zu veröffentlichen und genau zu prüfen, ob alles, was sie berichten, seine Richtigkeit hat. Verstöße gegen das Presserecht können bestraft werden“, heißt es auf der Webseite der „Bundeszentrale für politische Bildung“.

86 Prozent sterben wegen, nicht mit Corona

Stefan Groß-Lobkowicz21.08.2020Europa, Medien

Deutschlands Pathologen haben in einer neuen Studie nun Coronaleugnern widersprochen. Aus dieser geht hervor, dass Covid-19 die entscheidende Todesursache ist. Damit wird die Frage: Stirbt man nun „wegen“ oder „mit“ Corona? zugunsten des „wegen“ beantwortet. Coronakritiker betonten immer wieder, dass es vor allem Vorerkrankungen seien, die letztendlich zum Tod führen, Corona selbst also nicht die Ursache ist. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die Zahl der mit dem Coronavirus-Infizierten wächst weltweit wieder stark an. Die sogenannte befürchtete zweite Welle ist da und mit ihr die Angst vor einem zweiten Lockdown. Ängste vor einer weiteren Isolation und emotionaler Vereinsamung, gepaart mit häuslischer Gewalt, nehmen ständig zu. Eine verunsicherte Gesellschaft ist das Ergebnis. Doch Unbelehrbare gibt es genug – und die Zahl ihrer Anhänger steigt. Sie streiten gegen Maskenpflicht, die Einschränkung ihrer Grundrechte, gegen eine mögliche Zwangsimpfung und für Neuwahlen. Inmitten der rigiden Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung feiern sie frenetische Feste ohne Abstandsregeln und Masken.

Was ist los in unserem Land?

Was die Flüchtlingskrise 2015 nicht vermochte, scheint Covid-19 zu schaffen. Nie war Deutschland so polarisiert wie im Augenblick. Was einst mitte-links war, befürwortet die rigiden Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung des Virus, nimmt Einschränkungen der Grundrechte in Kauf und vertraut dem paternalistischen Staat. Was einst rechts oder konservativ war, wird nicht müde, gegen die Bevormundungspolitik der Berliner Republik zu rebellieren und gegen jedwede amtliche Anweisung anzustreiten: die Maskenmuffel und Coronaleugner.

Der Kampf um die Deutungshoheit bedroht die Demokratie von zwei Seiten

Der derzeitige Coronadiskurs kommt einer neuen Angriffswelle auf die Demokratie gleich – und das von zwei Seiten. Falschmeldungen, Selbstinszenierer, Anti-Corona-Partys bestimmen den Alltag. Die Sozialen Netzwerke quellen über vor Ressintiments, stellen das politische Establishment, die Politische Korrektheit und die Mainstreammedien in Frage. Die Demokratie steht derzeit in der Defensive – und kann sich mittlerweile vor dem oft irrationalen Diskurs der Coronagegner nur dadurch retten, dass sie zu Zensur und Rotstift greift, also zu undemokratischen Methoden. Die Corona-Querdenker hingegen feiern sich gerade als die wahren Demokraten, weil sie für die vom Staat verbürgten Grundrechte auf die Straße gehen und sich als die letzten Verfechter der Freiheit begreifen. Dass sie dabei aber die Gefahr der tödlichen Lungenkrankheit herunterspielen und letztendlich zu einer sehr fragwürdigen Freiheit aufrufen, sehen sie nicht. Ihren Gegnern werfen sie vor, quasi einer staatsgläubigen, unkritischen, von Friedrich Nietzsche immer wieder gerügten, „Herdenmentalität“ zu verfallen und gleichzeitig die Freiheit Andersdenkender zu beschneiden, also faschistoid zu sein.

Doch so einfach wie der Diskurs zwischen beiden Lagern geführt wird, ist er nicht. Während Coronakritiker von ihren Anhängern als neue Messiasse gehandelt und ihnen eine quasi religiöse Verehrung zuteil wird, zeigt eine neue Studie, dass sie mit ihren provokanten Thesen falsch liegen könnten.

Die „Gretchenfrage“, die in Zeiten der neuen Corona-Unübersichtlichkeit dabei immer im Raum steht, lautet: „Stirbt man nun wegen oder mit Corona“? Eine Studie Deutscher Pathologenverbände hat jetzt Licht in die dunkle Diskussion gebracht.

Covid-19 ist zu 86 Prozent alleinige Todesursache

Im Auftrag des Bundesverbands Deutscher Pathologen, der Deutschen Gesellschaft für Pathologie und der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie wurden insgesamt 68 Institute beauftragt, Obduktionen an Covid-19-Patienten vorzunehmen. Anhand von 154 Eingriffen in Corona-Leichen konnte die von Coronagegnern immer wieder vorgebrachte These, dass Menschen, die Virus erkranken an Vorerkrankungen wie Herzkreislaufschwäche, Lungenschädigungen oder an den Folgen ihrer Zuckererkrankung sterben. Während, so die Studie, 14 Prozent durch Vorerkrankungen tatsächlich „mit“ Corona sterben, ist Covid-19 bei 86 Prozent die alleinige Todesursache. Bei der großen Mehrheit der Fälle der durch das Coronavirus ausgelösten Krankheit ist das Virus damit auch die finale Todesursache, die sterben „wegen“ Covid-19.

Hintergrund:

In der Bundesrepublik sind mehr als 9200 Menschen mittlerweile an den Folgen des Coronavirus gestorben, 800.000 waren es weltweit. 23 Millionen Menschen hatten sich im vergangenen halben Jahr nachweislich mit dem Coronavirus infiziert. Für Coronakritiker waren diese Fallzahlen bisher nicht ausreichend, um Einschränkungen in die Freiheitsrechte durch den Staat zu legitimieren. Eine Argumentation war immer, dass die Zahl der Grippe-Toten jährlich weitaus höher läge – und, so der Vorwurf, die normale Sterblichkeitszahl nun mit Coronatoten künstlich nach oben getrieben wird. Als Argument wird vielfach die außergewöhnlich starke Grippewelle von 2017/18 zur Begründung herangezogen, die nach Schätzungen rund 25.100 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hatte.

Wieso ist Hegel wieder so populär?

Stefan Groß-Lobkowicz20.08.2020Wissenschaft

Am 27. August feiert der berühmte deutsche Philosoph Hegel seinen 250. Geburtstag. Wir haben mit dem internationalen Hegel-Experte Klaus Vieweg über den großen Idealisten gesprochen. Vieweg hatte im vergangenen Jahr eine der besten Hegel-Biografien vorgelegt, die nicht nur in Deutschland viel beachtet wird. Warum der deutsche Idealist Hegel der Denker der Freiheit ist, fragen wir den Bestsellerautor.

 Wie aktuell ist der Philosoph Georg Wilhelm Hegel im 21. Jahrhundert?

Klaus Vieweg: Die „New York Times“ publizierte eine Kolumne des Philosophen Jay M. Bernstein mit dem Titel: „Hegel on Wall Street“, in welcher der Autor dringend die Nutzung der Ressourcen von ­Hegels praktischer Philosophie empfiehlt, als einer bis heute aktuellen Theorie von Freiheit und Modernität. Heute spricht man zu Recht von einer Hegel-Renaissance, von einem Come back seines Denkens, man könnte es als eine Wiederbelebung des wasserklaren Gedankens beschreiben, als Denken der Freiheit. Was zeichnet die Aktualität von Hegels Denken aus? Im Zentrum steht ein innovatives Verständnis des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit. Hegel ist der Begründer einer modernen Logik als neuer Metaphysik. Er liefert maßgebliche Bausteine für eine philosophische Theorie des Zeichens und der Sprache. Ernst Gombrich zufolge gilt er als Vater der Disziplin Kunstgeschichte, Hegels Ästhetik wird hoch geschätzt. Er entwirft Grundlinien für eine neue Gesellschafts- und Staatstheorie, mit der epochemachenden Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat revolutioniert er das philosophische Denken des Politischen und wird zu einem der Gründerväter der Soziologie. Hegel konzipiert die erste und bis heute gehaltvollste philosophische Theorie eines auf der Marktordnung fußenden sozialen Staates, neben der innovativen philosophischen Logik sein bedeutendster Beitrag. Nach der Corona-Krise würde Hegel vielleicht einen Aufsatz unter dem Titel „Das Ende des Kapitalismus und seine Zukunft“ publizieren und ein neues, gegen den Marktfundamentalismus gerichtetes Konzept empfehlen, das naturale und soziale Nachhaltigkeit verknüpfen kann. Auch ist Hegel ein scharfer Kritiker von allen Formen des Nationalismus und ­Antisemitismus. Einer seiner Berliner Hörer brachte Hegels Verdienst auf den Punkt: „Es ist unmöglich, den Geist, den eigentlichen Lebensnerv der Modernen zu erfassen – ohne Hegel.“

Sie haben eine viel beachtete Biografie zu Hegel geschrieben und damit 175 Jahre nach Karl Rosenkranz einen großen systematischen Einblick in Leben und Denken gegeben. ­Hegel schreibt hoch verdichtet, seine Philosophie wird immer als fast unverstehbar kritisiert. Was ist die größte Herausforderung im Denken des Stuttgarters?

Klaus Vieweg: Die große Herausforderung für Hegel war die Fortführung der Revolution im Ideen­system, die von Kant eingeleitet und von Fichte und Schelling weitergetrieben wurde, die Herausbildung eines neuen Grundmusters des Philosophierens, dem denkenden Selbstverhältnis mit dem Fundament des Denkens des Denkens: Das begreifende Denken gilt als das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser monistische Idealismus muss nicht vom Kopf auf die Füße gestellt werden, Hegels Philosophie steht auf den festen Füßen des begrifflichen Denkens. Dies verlangte die Beantwortung der Frage nach dem Anfang der Philosophie, mit welchem man Aristoteles zufolge die Hälfte der Philosophie habe. Diesem Problem widmete sich ­Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Entscheidend ist ebenfalls die Klärung des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit, ausgehend von Hegels Hauptwerk, der „Wissenschaft der Logik“ als einer Theorie der Selbstbestimmung – der Begriff ist das Freie. Das völlig neue Freiheitsverständnis hat Hegel in die schwierige Formel vom im Anderen seiner selbst bei sich selbst sein zu können gekleidet. Als ein vereinfachtes Beispiel könnte der Sachverhalt der Freundschaft stehen, ganz im Sinne Schillers: Gewährt mir die Bitte, ich sei in eurem Bund der dritte.

Selbst Hegels berüchtigten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ aus den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stelle Vieweg in ein neues Licht, heißt es in einer Rezensionsnotiz. Was ist neu?

Klaus Vieweg: Schon Hegel hatte unmissverständlich erklärt, dass in seiner Terminologie „wirklich“ nicht das gerade Bestehende, Gegebene, sondern nur das ist, was vernünftig gestaltet ist. Sein scharfsinniger Schüler Heinrich Heine verlangte in diesem Sinne, das Bestehende vernünftig und somit wirklich zu machen. In der neuen Hegel-Biografie ging es darum zu zeigen, dass Hegel der Philosoph der Französischen Revolution und eben nicht der ­Philosoph der Restauration war. Die sollte auch an seinem durchgängigen politischen Engagement belegt werden: Hegel soll jedes Jahr am 14. Juli, dem Tag des Beginns der Französischen Revolution, ein Glas Champagner genossen haben. Diese Revolution war das prägende weltgeschichtliche Ereignis für sein Leben und Denken. Er trat stets als vehementer Verteidiger der Grundgedanken der Französischen Revolution auf – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er feierte die Revolution als herrlichen Sonnenaufgang der modernen Welt, als Morgenröte freier Existenz. Als Tübinger Student war er einer der Wortführer des revolutionär-republikanischen Studentenkreises, in Bern konspirierte er mit aus Paris gesendeten Revolutionären. In Frankfurt steht er in enger Verbindung mit führenden Köpfen der Mainzer Republik und vermittelt einen Brief an den berühmten Revolutionär Abbe Sieyes nach Paris, was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte. In Jena erarbeitete er ein Konzept für eine föderative, moderne Verfassung für Deutschland. In ­Berlin wurde Hegel von der reaktionären Hof-Partei des Republikanismus verdächtigt, wegen der Attacken auf die Hauptideologen der Restauration Karl ­Ludwig von Haller und Savigny. Hegel wirkt engagiert als Fürsprecher seiner nach den Karlsbader Beschlüssen eingekerkerten Schüler. Für den Jenaer Gustav Asverus, dem E.T.A. Hoffmann mit seinem „Meister Floh“ ein Denkmal setzt, bürgt der Berliner Professor, stellt Kaution und erreicht die Freilassung. Wie schon in Bern und Frankfurt hat die geheime Polizei alles dokumentiert, der Philosoph lebt gefährlich.

Hegel hat nie eine Ethik geschrieben, sondern Gedanken dazu in seine Rechtsphilosophie gekleidet. Warum?

Klaus Vieweg: Hegel hat zwar kein spezielles Buch zur Ethik geschrieben, aber der Abschnitt „Die Moralität“ in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ behandelt Grundfragen der Moralphilosophie als einer Theorie des moralischen Handelns, etwa die Fragen der Zurechenbarkeit von ­Handlungen, des Guten und des Gewissens.

Besondere Aktualität besitzt Hegels Kritik an heute dominanten Ethik-Konzeptionen: Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen, und sie zum Maßstabe dessen, was Recht und Gut sei, zu machen – ist beides einseitig. Handlungen sind nur dann zureichend zu bewerten, wenn die Absicht, die Resultate und der Kontext des Handelns zusammengedacht werden. Diesen Kontext beschreibt Hegel mit dem neuen Begriff „Sittlichkeit“ (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) – eine wichtige Innovation für eine Philosophie des Praktischen insgesamt.

Dem Denker des absoluten Idealismus wird immer wieder vorgeworfen, Notwendigkeit statt Freiheit zu setzen, das Individuum in der Gattung aufgehen zu lassen und damit ein ­Protagonist des preußischen Staates zu sein? Sie haben das entkräftet, aber wie?

Klaus Vieweg: Die Rede vom preußischen Staats- und Restaurationsphilosophen zählt zu den langlebigsten Lügenmärchen über Hegel. Im Anschluss daran wird Hegel von Karl ­Popper und anderen als Vordenker des Totalitarismus verschrien – der Staat sei alles, das Individuum nichts, also Terror des Allgemeinen. Die seriöse Hegel-­Forschung hat diese Legende längst hinter sich gelassen. Hier wäre in aller gebotenen Kürze auf Hegels Grundverständnis eines modernen Staates hinzuweisen, das auf der logischen Einheit von Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen ruht. Der moderne Staat als das Allgemeine muss die Freiheit aller besonderen Einzelnen repräsentieren und gewährleisten. Der Staat bei Hegel, dies bleibt entscheidend, ist der jeder Bürger selbst, und zwar in seinem Status als Bürger, in zweiter Hinsicht ist der Staat eine Institution, die aber dazu dienen muss, die Freiheit und das Recht aller Einzelnen zu garantieren. Dies erfordert natürlich eine tiefschürfende Interpretation von Hegels Staatsbegriff, ausgehend von der Hegelschen Logik.

Philosophen wird gemeinhin vorgeworfen, im Elfenbeinturm zu leben. Nun haben Sie einen anderen Hegel gezeichnet. Wie war denn Hegel, wenn er nicht gerade philosophierte?

Klaus Vieweg: Das lebenslange politische Engagement wurde schon angedeutet. Hegels Zeitgenossen beschreiben den Philosophen als kommunikativen, geselligen und humorvollen Menschen, der sich in vielfältigen Kreisen bewegte. Eine unbändige Lachlust habe ihn geprägt, er selbst empfahl die Komödien des Aristophanes, so könne man wissen, wie es einem „sauwohl“ sein kann. In Jena und Weimar pflegte er das gute Gespräch mit Schiller und Goethe, mit Schelling plante er eine italienische Reise. Als Rektor der Berliner Universität unterhielt er sich mit Marianne von Preußen über den alten Freund Hölderlin. Er war ein enthusiastischer Theater- und Opernbesucher, charmanter Verehrer von Schauspielerinnen und Opernsängerinnen, liebte die Musik von Rossini und Mozart. Felix Mendelssohn-Bartholdy erwischte den Professor, als dieser seine Vorlesung zu früh beendete und in die Oper eilte. Mit Frau und den Söhnen unternahm er Ausflüge und besuchte Ausstellungen. Die Schwiegermutter schickt aus Nürnberg die köstlichen Lebkuchen. Hegel war ein begeisterter Kartenspieler, zu seinem Berliner Freundeskreis zählten Heinrich Heine und Zelter, der Leiter der Singakademie. Er kannte prominente Zeitgenossen wie die beiden Humboldts, die Brüder Schlegel, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Als Morgenandacht empfahl er das Studium der Zeitungen. Hegel war beeindruckt von der Weltmetropole Paris. Er benötigte einen ganz besonderen Lebenssaft, den durchsichtigen, goldnen, feurigen Wein, um Denken und die Welt durchsichtig machen zu können. Diese Geister aus der Flasche waren seine treuesten Weggefährten: Die Sorten reichten vom Riesling und Gewürztraminer vom Deidesheimer Weingut Jordan über ­Bordeaux und ­Würzburger Stein bis zu den Tränen Christi vom Vesuv.

Bei Hegel ist immer die Rede vom Absoluten. Vielen ist unklar, ist dieses ­Absolute nun der Gott des Christentums oder der ­atheistische Weltgeist, der sich in seiner Dialektik in die Welt hinein entfaltet?

Klaus Vieweg: Weder das eine noch das andere. Das Absolute ist für Hegel, sehr verknappt gesagt, das begreifende Denken, das Immunität gegen relativistische Einwände gewinnen muss, ein Denken mit dem Anspruch auf philosophische Wahrheit. Das Unwürdigste für die Philosophie sei Hegel zufolge das Verzichten auf die Wahrheit, dies habe sich breit gemacht und führe das große Wort. Was gelten soll, muss sich, so Hegel im Anschluss an Kant, vor dem Denken rechtfertigen. Ein Prinzip muss bewiesen werden, es genügt nicht, dass es aus Anschauung, unmittelbarer Gewissheit, gesundem Menschenverstand, bloßer Meinung oder Überzeugung kommt, kurz: bloß auf Treu und Glauben angenommen werde. Aber die strikte Forderung des Beweisens ist, so Hegel, für die so vielen und zugleich so einfarbigen so genannten Philosophien der Zeit, für die Modephilosophien, etwas Obsoletes geworden.

Das Gespräch führte Stefan Groß-Lobkowicz

Ob Karl Lagerfeld oder Kim Kardashian – Selbstvermarktung ist alles

Stefan Groß-Lobkowicz18.08.2020Gesellschaft & Kultur, Medien

The European traf den Autor Rainer Zitelmann zum Gespräch. Welche Rolle spielt die Selbstvermarktung als eine Kunst, berühmt zu werden. Ob Greta Thunbgerg, Karl Lagerfeld, Kim Kardashian, Andy Warhol, Donald Trump oder Oprah Winfrey – sie sind alle durch Inszenierung zu weltweiten Marken geworden. Doch The European bleibt kritisch und fordert Zitelmann heraus. Ein interessantes Gespräch zwischen zwei unterschiedlichen Denkern ist dabei herausgekommen.

Lieber Herr Zitelmann, Sie haben ein neues Buch geschrieben, wieder eins muss man wohl sagen: „Die Kunst berühmt zu werden“.  Darin haben sie viele Künstler, Politiker Personen des öffentlichen Lebens genial  porträtiert. Nun leben wir in einer etwas eiligen Gesellschaft, die immer weniger Bücher konsumiert. Wie würden Sie ihr Buch in einer zunehmend oberflächlichen Welt selbst vermarkten?

Zitelmann: Ich habe das Buch ganz gut vermarktet: Zwei Tage vor Erscheinen brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung eine ganze Seite über das Buch, und ich wurde dazu in SAT1 und von mehreren Rundfunksendern interviewt. Mit diesem Buch habe ich jenseits der Medien, in denen ich sonst schreibe bzw. die über mich schreiben, auch Interviews mit Medien geführt, mit denen man als Intellektueller sonst nicht in Berührung kommt: Die Bunte hat gleich drei Interviews dazu veröffentlicht, und es gibt kaum eine Frauenzeitschrift, die nicht berichtet hat – von Grazia bis Für Sie und OK! Magazin. Manche rümpfen darüber die Nase. Ich bin stolz, dass ich im gleichen Monat einen wissenschaftlichen Fachaufsatz in einer der führenden Ökonomie-Zeitschriften Europas veröffentlicht und der Bunten Interviews gegeben habe. Und jetzt führe ich dieses Interview mit Ihnen.

Der Untertitel Ihres Buches heißt „Genies der Selbstvermarktung von Albert Einstein bis Kim Kardashian. Was bei letzterer auffällt, dass sie diese wie Arnold Schwarzenegger, Madonna, Muhammad Ali, Prinzessin Diana in die Genius-Ebene verschieben. Haben wir beide einen unterschiedlichen Begriff von Genie? Oder setzten die Selbstvermarkung mit Genius gleich? Damit torpedieren sie  den klassischen Begriff und degradieren diesen zu einer Eitelkeit des Marktes!

Zitelmann: Nun, alle diese Personen waren genial in der Kunst der Selbstvermarktung. Ich finde es falsch, nur Intellektuelle oder Erfinder als genial zu bezeichnen. Man kann auf verschiedenen Gebieten genial sein – und auch PR ist eine Kunst. Nehmen Sie einen der Porträtierten in meinem Buch, Stephen Hawking. Hawking war ein großer Wissenschaftler, aber er bekannte selbst: „Für meine Kollegen bin ich nur ein Physiker unter vielen anderen, doch für die Öffentlichkeit wurde ich womöglich zum bekanntesten Wissenschaftler der Welt.“ Und was Hawking sagte, ist richtig: Für seine Fachkollegen war er keineswegs der Ausnahme-Wissenschaftler, als den ihn die Öffentlichkeit wahrnahm. In einer Umfrage des Magazins „Physics World“ um die Jahrtausendwende waren sie weit davon entfernt, ihn den zehn wichtigsten lebenden Physikern zuzurechnen. Die Öffentlichkeit – und vermutlich auch er selbst – sah Hawking wohl eher so wie in einer Folge der Serie „Raumschiff Enterprise“, wo er als Gaststar an einer virtuellen Pokerrunde mit Isaac Newton und Albert Einstein teilnahm. Ich zeige in meinem Buch, dass Hawking nicht durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse berühmt wurde, sondern dadurch, dass er viel Zeit, Energie und Ideen in seine Selbstvermarktung und PR für seine Bestseller investierte.

 Bei Albert Einstein, den ich als Genie verorten würde, argumentieren Sie genau in die andere Richtung. Nicht die Relativitätstheorie habe den Ausnahmeathleten der Wissenschaft zum Erfolg verholfen, sondern seine gezielte Selbstvermarkung, offenes Haar inklusive? Nun mag er eine geniale Frisur gehabt haben, aber hinter der Frisur war der Geist, der sich eben nicht, zumindest bei Einstein oder auch Steven Hawkings, die Behinderung nicht frisieren lässt?

Zitelmann: Einstein ist ein wunderbares Beispiel. In einem Interview mit der „New York Times“ stellte Einstein sich selbst die Frage: „Woher kommt es, dass mich niemand versteht und jeder mag?“ In einem Gespräch mit einem anderen Journalisten gab er die Antwort: „Ob es einen lächerlichen Eindruck auf mich macht, die Aufgeregtheit der Menge für meine Lehre und meine Theorie, von der sie doch nichts versteht, zu beobachten? Ich finde es komisch und zugleich interessant, dieses Spiel zu beobachten. Ich glaube bestimmt, dass es das Geheimnisvolle des Nichtbegriffenen ist, das sie bezaubert.“ 99,99% der Menschen, einschließlich Ihnen und mir, können doch die Relativitätstheorie und deren Bedeutung für die Physik gar nicht verstehen. Schon gar nicht die Menschenmassen, die Einstein in den USA zujubelten oder die Reporter von Boulevardmedien, denen er gerne Interviews gab. Daher können seine wissenschaftlichen Erkenntnisse allein auch nicht der Grund dafür sein, dass er so populär wurde, wie kein Wissenschaftler vor ihm. Einstein, das zeige ich, verwandte einen großen Teil seiner Zeit darauf, aus sich selbst eine Marke zu machen. Er hielt mehr Vorträge vor einem Massenpublikum als vor Fachkollegen. Und er inszenierte sich so sehr selbst, dass er in Amerika deshalb sogar Ärger mit der Princeton-Universität bekam, die ihn zu Forschungszwecken eingeladen hatte und sich bei ihm über die exzessive Selbstvermarktung beschwerte.

 Behinderung wird gemein als Manko verstanden und nicht so sehr als Ausweis von Genialität. Behinderte sind schlecht oder wenig integriert, eben am Rande der Gesellschaft verortet. Inklusion ist in weiten Kreisen verfemt. Wie kann ein gewöhnlicher Rollstuhlfahrer oder ein Mensch mit Down-Syndrom Weltberühmtheit erlangen, doch wohl nur, um es mal polemisch zu formulieren, wenn er sich vom One World Trade Center in die Tiefe stürzt. Dann wird das medial getickert, bleibt aber für die Selbstvermarktung letztendlich irrelevant, denn der schnelle Tod ist die beste Kultur des Vergessens, natürlich gibt es hier auch Gegenbeispiele wie Marylin Monroe oder Gracia Patricia.

Zitelmann: Sorry, da haben Sie aber ein sehr einseitiges Bild von Behinderten. Von einem Behinderten habe ich gerade gesprochen und in dem Buch geschrieben: Stephen Hawking. Ich lese gerade die Autobiografie von Ray Charles, dem „Hohepriester des Soul“, dessen Einfluss stilprägend für die Entwicklung von Rhythm and Blues, Blues, Country und Soul war. Das Magazin „Rolling Stone“ wählte ihn nach Aretha Franklin und vor Elvis Presley auf Platz 2 der 100 besten Sänger aller Zeiten. Ray Charles wurde mit sieben Jahren blind, dies hinderte ihn nicht, ein großartiges Leben zu führen: Er wurde berühmt, reich und hatte mehr Frauen als wohl 99% der Männer in ihrem Leben haben. Auf Postern wurde er als der blinde Sänger beworben, die Sonnebrille war sein Markenzeichen. Auch Beethoven war, wenn Sie so wollen, ein Behinderter. Schon mit 28 Jahren zeigten sich erste ernste Symptome der Hörbehinderung, später war er fast taub. Und wenn Sie von Rollstuhlfahrern reden, da fallen mir die großartige Unternehmerin Margarete Steif ein, die schon mit zwei Jahren an Kinderlähmung erkrankte oder aber Franklin D. Roosevelt,  der ebenfalls an Kinderlähmung erkrankte und fortan von der Hüfte ab weitgehend gelähmt war, was ihn nicht hinderte 32. Präsident der USA zu werden. Mir fallen viele andere großartige Behinderte ein, zum Beispiel die Künstlerin Frida Kahlo oder Helen Keller. Keine dieser Personen musste sich vom World Trade Center in die Tiefe stürzen, um berühmt zu werden.

Sie sagen, Selbstvermarktung wird immer wichtiger. Ja, da mag etwas dran sein, aber macht das auch glücklicher, wenn man Glück als eine Parameter versteht, was dem Leben Sinn und Struktur gibt, wenn man in einer Zeit lebt, wo es nur um Überbietungsansprüche geht, die selbst die Selbstvermarkter immer wieder in die Depression, in Alkohol, Sex-Exzesse und den Drogenkonsum wirft. Die Vielzahl der Selbstvermarkter sind mit diesem individuellen Schicksal keineswegs glückliche Menschen geworden. Und das hat meiner Meinung nach den Grund, weil sie sich nicht auf sich selbst fokussieren, sondern immer äußeren Zwängen nachjagen, die letztendlich oft ihre eigene Persönlichkeitsstruktur ruinieren. Es gibt nämlich auch die Gegenthese zur Selbstvermarkung – und das ist der persönliche Ruin, der Absturz aus allen gesellschaftlichen Halteseilen, der im höchsten Grade unproduktiv und geradezu selbstzerstörerisch ist.

Zitelmann: Okay, Sie sprechen hier von Depressionen, Alkohol-, Sex- und Drogenexzessen. Wenn ich jetzt mal die zwölf Personen in meinem Buch durchgehe, da fällt mir außer Lady Diana niemand ein, die depressiv war. Mir fällt auch keiner ein, der Alkoholprobleme hatte (viele tranken gar keinen Alkohol). Und außer Oprah Winfrey und Steve Jobs würde mir auch niemand einfallen, der Drogen nahm, und auch bei diesen beiden war es nur eine Episode, die ihnen nicht geschadet hat. Lagerfeld und Trump leb(t) geradezu asketisch, tranken keinen bzw. fast keinen Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen. Sex-Exzesse, okay, da würde mir vielleicht Andy Warhol einfallen, aber was ist gegen Sex-Exzesse einzuwenden? Ich vermute, sie haben ihm Spaß gemacht. Und wenn Sie sagen, dass solche Selbstvermarkter „ihre eigene Persönlichkeitsstruktur ruinieren“ dann entgegne ich: Das Gegenteil ist richtig. Leute wie Schwarzenegger, Muhammad Ali lebten ein sehr freies Leben. Sie waren sicher authentischer als die meisten Menschen es sein können – wie überhaupt Authentizität ein Schlüssel in der Selbstvermarktung ist. Sie behaupten, diese Menschen seien unglücklich. Aber woher wissen Sie das? Man kann nicht in Menschen hineinschauen. Aber ja, ich denke, Diana war überwiegend unglücklich. Aber Stephen Hawking, Albert Einstein, Arnold Schwarzenegger, Steve Jobs oder Madonna führ(t) ein sehr interessantes und wohl auch glückliches Leben.

Gegenbeispiele zur Selbstvermarktung scheint es mehr zu geben. Die Geschichte ist hier beispielgebend. Friedrich Nietzsche und Friedrich Schiller, Klopstock, Novalis etc.  haben sich nicht selbstvermarktet – sind aber dennoch Paradebeispiele von grenzenloser Berühmtheit: Sicherlich könnten Sie mit Karl Marx, Arthur Schopenhauer, Peter Sloterdijk oder Selbstinszenieren wie Richard David Precht und Adolf Hitler kontern. Was sagen Sie zu diesem Einwand?

Zitelmann: Ich weiß nicht, ob Precht viel außer Selbstvermarktung zu bieten hat, das kann ich nicht beurteilen. Ja, es gibt große Persönlichkeiten, die sich nicht selbst vermarktet haben. Viele von denen sind erst nach ihrem Tod berühmt geworden. Nehmen Sie Vincent van Gogh. Also, mir würde es nicht gefallen, wenn ich erst nach dem Tod Anerkennung für meine Arbeit bekomme. Das hoffe ich zwar auch, weil ich vermute bin, dass mindestens drei meiner wissenschaftlichen Bücher auch noch viele Jahrzehnte nach meinem Tod große Beachtung finden. Aber ich ziehe es – ebenso wie die in meinem Buch porträtierten Personen – vor, auch schon zu Lebzeiten Anerkennung zu finden und nicht erst, wenn ich in meinem Sarg schon verwest bin.

Ist Selbstvermarkung tatsächlich der Weisheit letzter Schluss und überdauert sie die Zeit der je aktuellen Inszenierung. Was wird in dreihundert Jahren von Karl Lagerfeld, Kim Kardashian, Andy Warhol, Donald Trump oder Oprah Winfrey bleiben? Geschichte ist rasend schnell und vergisst nur allzu oft ihre Protagonisten – und vor allen solche, die an der Oberfläche der Selbstvermarktung spielten und ihre Einmaligkeit und Unvergesslichkeit nicht aus der Essenz ihres Lebens spiegelten?

Zitelmann: Das ist schwer zu prognostizieren. Wird man in 100 Jahren noch über Stephen Hawking, Andy Warhol oder Karl Lagerfeld sprechen? Vielleicht nicht. Ich glaube auch nicht, dass das deren Lebensziel war. Als Lagerfeld gefragt wurde, ob er daran denke, vielleicht eine Stiftung zu gründen, antwortete er, davon habe er ja nichts, denn: “Alles, was ich bin, beginnt und endet mit mir.” Muhammad Ali, einer der in meinem Buch porträtierten, wird auch in 300 Jahren in der Sport- und Kulturgeschichte der USA erwähnt werden. Über Trump wird in 300 Jahren in Geschichtsbüchern geschrieben werden, weil er der 45. Präsident der USA war. Aber es kann gut sein, dass niemand mehr von Kim Kardashian sprechen wird. Ob sie das heute traurig macht? Oder ob sie den Ruhm und das Geld zu Lebzeiten dem Ruhm der Nachwelt vorzieht?

Ihr Buch ist gelungen, ich kann es nur empfehlen, weil es ein Stück weit den Zeitgeist spiegelt, aber wird dieser Zeitgeist nicht auch wieder in die Tiefen des Vergessens abtauchen und damit nur eine Momentaufnahme bleiben, die spätestens dann an Aktualität verliert, wenn eine neue Generation auf andere Werte setzt.

 Zitelmann: Selbstvermarktung war schon immer wichtig, auch wenn ich die Beispiele nur aus den letzten 100 Jahren genommen habe. Ich sehe nicht, dass die Reizüberflutung und das mediale Angebot geringer werden, daher wird die Bedeutung der Selbstvermarktung zunehmen. In seiner Autobiografie erklärt Schwarzenegger: „Wenn ich einen Film abgedreht hatte, war für mich die Arbeit erst zur Hälfte erledigt… Man kann den besten Film der Welt machen, aber wenn er nicht den Weg in die Kinos findet und wenn die Leute nichts davon erfahren, dann nützt das alles nichts. Dasselbe gilt für Literatur, Malerei, oder auch Erfindungen.“ Sehen Sie, Herr Groß, Sie sind ein intelligenter Mensch, haben zudem zwei Doktortitel, können toll schreiben. Das haben wir beide gemeinsam. Und warum kennen mich trotzdem sehr viel mehr Menschen in Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, Frankreich, Italien, China, Korea oder den USA als Sie? Ich glaube, das liegt vor allem daran, weil ich mich selbst besser selbst vermarkte. Überlegen Sie mal einen Moment, was Sie noch alles erreichen können, wenn Sie ein wenig von den in meinem Buch porträtierten Menschen lernen. Ich glaube, viele Intellektuelle haben negative Glaubenssätze zum Thema „Selbstvermarktung“ verinnerlicht, die ihnen in ihrem Leben schaden, ohne dass sie sich dessen bewusst sind.

Die Fragen stellte Stefan Groß-Lobkowicz

Wir leben in keiner aggressiven Diskussionskultur

Stefan Groß-Lobkowicz14.08.2020Medien

„Was für ein Skandal! Der Protestmob auf der Straße entscheidet also darüber, wer hier bei uns seine Kunst ausüben darf“, schrieb Kabarettist Dieter Nuhr, in dessen Sendung Lisa Eckhart regelmäßig auftritt, bei Facebook. Was darf Satire eigentlich noch? Und was der Fall von Lisa Eckhart über unsere Gesellschaft sagt, darüber hat Stefan Groß-Lobkowicz nachgedacht. Wir leben in keiner aggressiven Diskussionskultur – soviel zumindest ist sicher.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht, sagte einmal der deutsche Lyriker und Romanautor Otto Julius Bierbaum. Und Kurt Tucholsky beantwortete im Jahre 1919 die Frage „Was darf die Satire?“ noch mit „Alles“. Doch mit dem Humor ist es so eine Sache, wo sind seine Grenzen, wo überschreitet er das Sagbare, wo berührt er den schlechten Geschmack und wo ist er gar verletzend? Man muss kein Freund von Lisa Eckhart, der österreichischen Kabarettistin sein, zu deren Wesen die Provokation gehört. Dennoch muss man ihr attestieren, dass die streitbare Lady und Kunstfigur mutig daherkommt, vielleicht oft zu mutig, ein Gran zu viel – wie einst bei Klaus Kinski. Jetzt wurde sie von der linken Kulturszene gemobbt und vom Hamburger Harbour Front Literaturfestival zuerst ausgeladen und dann wieder eingeladen. Der Österreicherin, die bissig, oft frivol, immer aber kampfeslustig auf Krawall fährt, wird vorgeworfen, rassistische und antisemitische Klischees zu bedienen.

Eckhart ist eben anders

Lisa Eckhart vergreift sich oft im Ton. Sie ist rüder, männlicher, aggressiver – und ihre Komik weitaus giftiger als die manch anderer weichgespülter deutscher Comedy-Helden. Als vor zwanzig Jahren die Comedy in Deutschland ihre Renaissance feierte, explodierte die telegene Welt buchstäblich. Satiriker bestimmten den Zeitgeist, sei es Helge Schneider, Rüdiger Hoffmann, Atze Schröder, Tom Gerhardt oder Johann König, die depressive Stimmungskanone aus Köln. Nach dem Hype sind nur wenige geblieben: Monika Gruber, Sebastian Pufpaff, Kaya Yanar, Ingo Appelt, Olaf Schubert, Michael Mittermeier, Dieter Nuhr und der intelligenteste vielleicht – Mathias Richling. Bis auf Richling hat sich das Kabarett politisch verflacht, zündelt nur an den Oberflächen und stellt den Zeitgeist an sich nie bloß. Den Rest erledigen Carolin Kebekus und Mario Barth.

Dieter Nuhr – Der moderne Dieter Hildebrandt

Mit dem Tod von Dieter Hildebrandt endete ein Stück weit das traditionelle politische Kabarett der Nachkriegsära in Deutschland. Er selbst war brillant, scharfzüngig und von sensibler Brillanz, weil es einer Generation entsprang, die noch elektrisiert von Holocaust, Judenhass und einer humorbefreiten Nazi-Gemeinschaft war. Hildebrandts Generation reflektierte tiefer in die Gesellschaft hinein, deckte Unstetes gnadenlos auf und rüttelte an den Festen einer Kultur, die in Windeseile ihre Täter- und Mitgliedschaft während der NS-Zeit vergaß. Und Hildebrandt gelang es feinsinnig und dennoch satirisch-provokant den Status Quo, die Spießbürgeridylle der Deutschen, ihren tiefsitzenden Nationalismus und Fanatismus zu entlarven.

Der Niederschlesier Hildebrandt teilte aus, ein Leben lang, verschonte keinen. Doch nie war er tiefgehend verletzend. Was blieb, war eine spaltende Versöhnung gewissermaßen. Und dieser Geist eignet auch Dieter Nuhr, selbst wenn sich der Kabarettist für seine Kritik am Zeitgeist, am Gendermainstreaming, an der Klima-Ikone Greta Thunberg wohlwollend negativ abarbeitet. Nuhr, intelligenter als das Gros seiner Kollegen, tappt dennoch in jede Falle der politischen Korrektheit. Oder besser umgekehrt: Das politische Korrektiv zwingt Nuhr ständig zu Deeskalation, zur Selbstverteidigung, zum Schuldeingeständnis, dass aber umgekehrt wieder so klug formuliert ist, dass es den Mainstream vorerst befriedet, aber eigentlich die nächste Provokation sendet.

Nuhr ist vermittelnder als Eckhart

Nuhr ist vermittelnder als Eckhart. Aber auch er lässt sich nicht die kritische Stimme verbieten, vielmehr atmet er den Geist der Satire, hat diesen quasi verinnerlicht. Und er macht genau das, was Satire soll; die gezielte Provokation, er bleibt ein Grenzgänger, der intellektuell seine eigenen Pointen in Frage stellt, so gleichsam das Nicht-Sagbare wieder in ein freies Spiel kleidet, wie es Friedrich Schiller schon für die Schaubühne forderte, gleichwohl dies alles in der Tradition des Hofnarren der letzten Jahrhunderte. Nuhr ist der spiegelnde Spiegel der Gesellschaft, der aber die kleinen Attitüden kennt, die ihn letztendlich nicht ganz auf dem Schafott enden lassen.

Der Ton macht bekanntlich die Musik. Doch genau der hat sich verändert. Die Zeiten von Dieter Hildebrandt sind vorbei. Dort war alles ein wenig versöhnender, dort gab es noch den Geist der Verzeihung, der nach einem satirischen Schlagabtausch die Gemüter befriedete. In unserer heutigen, aufgeheizten Debattenkultur ist das anders. Die kleinste Kritik, selbst in der stilistischen Form der Komik oder Satire, in der eigentlich alles gesagt werden darf, wo die Hüllen fallen und die existentielle Nacktheit des Individuums in seiner Zerbrechlichkeit zu Tage kommt, wird schon als Großangriff auf das politische System betrachtet. Ja, der Zeitgeist hat sich gewandelt und die Verbotskultur der aufrichtigen Gutmenschen die Grenzen des Sagbaren definiert. Heute darf Satire eben auch nicht mehr alles, weil sie durchfunktionalisiert, weil sie selbst zum Politikum geworden ist und sich damit ihrer eigentlichen Form und Bestimmtheit entkleidet hat. Statt Spaßkultur regiert die Gesinnung. Und wer sich ihr entgegenstellt, geht in die lutherische Acht, wird verbannt oder gemobbt. Anstelle einer wohlmeinenden Reflexionskultur regiert ein Rüpelton samt Verbotskultur.

Wer ist eigentlich Lisa Eckhart?

Bei Lisa Eckhart ist das alles eben ein wenig anders. Die 1992 in der österreichischen Kleinstadt Leoben geborene Lisa Lasselsberger ist eigentlich Poetry-Slammerin und sie bekennt zur ihrer Kindheit: „Damals habe ich gelernt, dass Lieben die unanstrengendste Form der Liebe ist, geliebt zu werden, das ist das Unangenehme.“ Stilistisch verortet sie sich selbst in eine Tradition, die beim Weimarer Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe beginnt und beim extravaganten österreichischen Popstar Falco, der provokanten Schriftstellerin Elfriede Jelinek und dem cholerischen Schauspielgenie Klaus Kinski endet. „Der war die perfekte Inkarnation von Kunst. Da weiß man, es gab keinen Moment, in dem er nicht Klaus Kinski war”, sagte Eckhart. „Der kam nicht heim, setzte sich aufs Sofa und war auf einmal g’miatlich. Der konnte nicht raus aus sich,“ bekennt die Stil-Ikone.

Ihre Meriten verdiente sich die vielsprachige Künstlerin, die in Paris Germanistik und Slawistik studierte, später in Wien, London, Berlin und Leipzig lebte, beim Poetry Slam. Das extravagante Auftreten in Pelz oder durchsichtigem Kleid, was Eckhart zur Kunstfigur und sie darüber eigentlich schon karikiert und zur Persiflage macht, ist rein optisch schon provokativ genug. Aber diese bissige Art, die zu diesem österreichischen Humor eigenwillig dazu gehört und dessen kleinbürgerlichen Horizont verkörpert, spiegelt das Österreich der 90er Jahre, samt perfiden Judenhass und sentimentaler Adolf-Hitler-Verehrung wider. (Ich selbst war erstaunt, als ich Anfang der 90er Jahre im Urlaub in Pensionen kam, wo ein Adolf Hitler Bild das Wohnzimmer der vermietenden Pensionärin zierte.)

Eckharts Provokation kippt daher auch in aller Regelmäßigkeit immer wieder aus den Stiefeln und lässt einen frösteln. Der Tabubruch ist kalkuliert. 2018 erntete sie einen medialen Shitstorm als die den Sex-Skandal um Harvey Weinstein wie folgt kommentierte: „Juden, da haben wir immer gegen den Vorwurf gewettert, denen ginge es nur ums Geld, und jetzt plötzlich kommt raus, denen geht’s wirklich nicht ums Geld, denen geht’s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld.“ Und natürlich bleibt vieles, was aus ihrem Mund kommt, schneidend, fast bizarr, wie: „Ich bin gegen Abschiebungen per Flugzeug. Das bedeutet eine Tonne CO2-Ausstoß pro Person. Und da kommt bei mir Umweltschutz vor Fremdenhass. Lasst sie lieber zu Fuß und ohne Proviant nach Hause gehen, sonst finden sie anhand des Mülls wie Hänsel und Gretel womöglich wieder den Weg nach Europa zurück“. Lisa Eckhart lotet die Grenzen des Sagbaren konsequent aus, reitet auf einer Welle, die sie kurzweilig nach oben spült, sie immer aber wieder in die Niederungen des bloß Plakativen treibt. Was gesagt werden kann und gesagt werden darf, wo künstlerische Freiheit und Meinungsfreiheit ihre Grenzen haben, vereint sich in ihrer Person derzeit unisono.

Mit der Meinungsfreiheit ist es so eine Sache

Mit der Meinungsfreiheit ist es so eine Sache. Adam Smith war einst ihr Vorreiter und verteidigte sie als Non plus Ultra gegen jedweden staatlichen Paternalismus. Liberal sollte es bei den Individuen zugehen, auch gegen Platons Diktum, dass die Kunst unter das Kuratel des Staates gehöre, er in diese regulativ eingreifen und gar verbieten könne, sobald sie dem Diktat der Vernunft diametral entgegenläuft. Dagegen hieß es bei Smith: „Das Genie kann nur frei atmen in einer Atmosphäre der Freiheit“.

Seit es Kunst gibt, befindet sich diese immer wieder in einem Spannungsverhältnis zur Gesellschaft. Das musste auch der Weimarer Olympier Johann Wolfgang Goethe erfahren. Als er seinen „Torquato Tasso“, ein Aufklärungsstück aus der Sturm und Drang-Phase des Dichters, 1790 schrieb, war Gothe noch der reifende Genius. Mit dem frühen Pathos der unbegrenzten Freiheit, der jugendlichen Ungestümheit, wie eben auch Friedrich Schiller in seinen „Die Räubern“, sah er den Anspruch des Künstlers darin: „Erlaubt ist, was gefällt“. Als Goethe, ein intellektuelles Vorbild für Lisa Eckhart, dann Staatsminister wurde, auf gleichsam doppelte Weise in die Gesellschaft involviert war, als Dichter und Politiker, wurde Goethe vorsichtiger, erkannte die Ambivalenz des Sagbaren, was der Autor und die Kunst eben darf und was nicht. Dem „Erlaubt ist, was gefällt“ wird er als Regulativ ein „Erlaubt ist, was sich ziemt“ hinzufügen. In einem Gespräch über „Tasso“ (6. Mai 1827) äußerte er: „Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre.“

Statt Cancel Culture mehr Gelassenheit bitte

Den Deutschen und ihrer neuen Cancel Culture kann man nur zu mehr Gelassenheit raten. Und man könnte Heraklit anmerken: Das Urprinzip, der „Vater aller Dinge“ ist der Streit (polemos). Die sich ständig wandelnde Welt bleibt bestimmt durch einen Kampf der widerstreitenden, einander entgegengesetzten Gegensätze. So kann es ohne den Gegensatz tiefer und hoher Töne keine Musik geben und ohne das männliche und weibliche Prinzip kein Leben. Dadurch entsteht eine Harmonie im Kosmos. Das stete Wechselspiel zwischen gegensätzlichen Kräften schafft so die Vielfalt der Phänomene, letztendlich auch der Meinungen.

Das ändert sich im neuen Duden: Der platzt nun vor Anglizismen und Gendersternchen

Stefan Groß-Lobkowicz13.08.2020Wissenschaft

Es ist das Nachschlagewerk schlechthin. Konrad Alexander Friedrich Duden hatte ihm 1880 seinen Nachnamen gegeben. 2020 ist nun der dickste und umfangreichste Duden erschienen. Und wie sich die Welt ändert, so ändert sich auch die Sprache. Viele Begriffe, die mittelweile im Alltag „oldschool“ sind hat das Standardwerks zur deutschen Rechtschreibung getilgt. Von Stefan-Groß-Lobkowicz.

 

Er gilt als das wichtigste Nachschlagewerk – auch in Zeiten der Digitalisierung ist das analoge Mammutwerk der deutschen Sprache nach wie vor ein Bestseller. Doch Corona-bedingt wird der Duden dicker. Der gute alte Duden, wenngleich das Vintage-Möbel des deutschen Bildungsbürgerhaushalts, der Brockhaus und Co. überlebt hat, zählt immer noch zum Inventar der Bundesbürger. Telefonbuch, Duden, Branchenbuch, wenn man nicht viel auf Bücher hält, der Duden jedenfalls gehört dazu. Dass er mittlerweile 140 Jahre auf dem Buckel hat und einer Zeit entstammt, wo Pferdekutschen, die Straßen säumten, die „Kabelnachricht“ der letzte Schrei war, das Telefon – von Johann Philipp Reis, dem Telefonerfinder aus Gelnhausen – gerade mal über 20 Jahre die Welt beglückte, man „Tressenröcke“ und Hüte trug und auf Reisen noch einen „Zehrpfennig“ mit sich führte.

Das Wort Telefon ist geblieben

Das Telefon ist im Zeitalter von i-Phone geblieben, den irgendwie ist ein Smartphone auch ein Sprachempfänger, wenngleich es für die Jugend eigentlich nur einen Daumenverstärker ist, mit dem sie eine Vielzahl von Plattitüden, Banalitäten und Nichtigkeiten in die Welt senden. Reden will ja kaum einer mehr – und zuhören erst recht nicht: Besser Whats-App oder Instagram mit Cocktail im Sonnenuntergang oder das vielzitierte gepostete Frückstücksbrötchen, das Oliver Pocher mehr Likes verschafft, als ein “sinnvoller” Satz aus seinem Munde. Der „Tressenrock“, der „Zehrpfennig“ und die „Kabelnachricht“ wurden hingegen gestrichen. So alt ist der Duden nun auch wieder nicht. Was bis 2017 noch ein Begriff oder Wort war, das die deutsche Sprache zierte, ist nun, nach drei Jahren, nicht mehr lernbarer Buchstabenstoff. Auch der „Schlafgänger“, den es zwar immer noch gibt, findet im Duden keine Erwähnung mehr. Und auch die „Kammerjungfer“, die manch einer gern noch hätte, sofern man eine Jungfer noch findet, ist genauso obsolet wie im Zeitalter der Emanzipation und des Gender-Mainstreams das Wort „beweiben“.

Stattdessen war das Nachschlagewerk nie aktueller als gerade in Corona-Zeiten. Wortprägungen, die die wohl schwerste Pandemie aller Zeiten im Gepäck hat, zählen nun erstmals zum deutschen Sprachgut und sind damit für Legastheniker, worunter sich auch der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow zählte, in das Standardwerk geflossen: Reproduktionszahl, Herdenimmunität, Ansteckungskette, Infektionskette, Covid-19, Reproduktionszahl und Lockdown sind Wörter, die der neuen Realität entstammen. Man hätte auch gern auf sie verzichten können.

Der Duden wimmelt nur so vor Anglizismen

Aber nicht nur Corona hat Spuren hinterlassen. Der Duden wimmelt nur so vor Anglizismen. „Home-Office“ ist eins – und auch dies verdankt sich letztendlich der Coronakrise. Während die amerikanischen Soldaten, die einst Deutschland befreiten, auswandern weil der amerikanische Präsident Donald Trump die Bundesbürger bestrafen will weil sie zu wenig Geld für die Nato ausgeben, wandern umgekehrt, Wörter aus dem angloamerikanischen Sprachraum massenweise ein: „Influencer“, „Hatespeech“, „Tiny House“, „Brexiteer“, „Craftbeer“, „Lifehack“ oder der „Powerbank“ oder „Fridays for future“. Was der Deutsche nicht mehr in die eigene Sprache zu transformieren vermag, wird einfach adaptiert – und der Duden bringt es unter ein Dach. Das gilt auch für Verben, die sich in der Alltagssprache immer stärker verbreiten: Wer spricht schon von gefallen, wenn er „liken“ sagen kann. Auch „doodeln“ oder „leaken” sind Sprachrenner, oder eben auch Deutsch-Vernichter. Aber der Duden ist neben Vintage eben auch ein Newcomer, wenn es um den Zeitgeist geht.

Das Adjektiv „genderfluid“ ist ein bemerkenswerter Neuzugang

Die Zeiten, das hat auch der Duden gemerkt, sind nicht mehr Schwarz oder Weiß, es gibt nicht mehr nur Frauen oder Männer, es gibt beides, es gibt das biologische und das gesellschaftliche Geschlecht, Toiletten gar für das dritte Geschlecht. Manche sind Männer, fühlen sich aber als Frauen. Das gleiche gilt umgekehrt. Der Duden, vor 140 Jahren undenkbar, ist Geschlechtersensibel geworden. So findet sich unter den bemerkenswerten Neuzugängen das Adjektiv „genderfluid“ („eine sich zwischen den Geschlechtern bewegende Geschlechtsidentität bezeichnend“). Auch spart der neue Duden diesmal nicht mit Hinweisen zum gendergerechten Sprachgebrauch.

Sogar das Zwinkersmiley hat er brav aufgenommen

Der Duden ist aktueller denn je, sogar das Zwinkersmiley hat er brav aufgenommen. Das freut den Satiriker und Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Martin Sonnenborn von der „Die Partei“ sicherlich sehr, wenn auch Europa ohne ihn und das Smiley ganz gut zurechtkäme. Er hatte diesem Wort auf seinem Twitter-Account eine ungeheure Prominenz beschert.

Insgesamt beglücken den neuen Duden 148.000 Stichwörter, 3000 neue, 300 altmodische, die nun wirklich nicht mehr in unsere Zeit passen, wurden gestrichen. Wer will schon „Fernsprechanschluss“, wenn doch das i-Phone vor einem liegt. Bei so viel Streichlust verwundert es einen dann doch, dass die alte „Wählscheibe“ überlebt hat. Hier ist wahrscheinlich der Duden nun doch seiner Zeit voraus als einem Huawei-Strategen lieb sein kann. Denn wenn 5G wirklich so gefährlich ist und die Strahlungen die Gesundheit schädigen, wird manch einer wieder auf ein analoges Telefon umsteigen und damit auf die Wählscheibe, wenn er es ganz konventionell will und sogar noch AfD-Wähler, der an den guten, alten Werten festhalten will, weil er sonst keine Werte hat. Für weniger alte Werte stehen das „Geisterspiel“, das „Katzenvideo“ und für die Hipsterfraktion das „Bartöl“ und der „Männerdutt“. Das eine wird Komiker Helge Schneider erfreuen, denn Katzenklo und Katzenvideo lassen sich bei Instagram gut posten, virale Aufmerksamkeit garantiert.

Mehr deutsche Wörter wären auch wieder schön

Der Duden hat sich voll ins Zeug gelegt – und die Redaktionsleiterin Kathrin Kunkel-Razum darf gespannt auf die Reaktionen sein. „Wir legen Wert darauf zu sagen, dass das keine Regel ist, die wir verordnen“, betonte sie gegenüber der dpa. Der wohlmeinende Dudenleser wünscht ihr viel Glück. Das Machtwerk der deutschen Sprache ist einfach zu alt, als dass man nur nörgeln wollte. Nur ob der Zeitgeist immer der beste Ratgeber ist, bleibt anzuzweifeln. Vielleicht sollten die Sprachforscher mal die deutsche Sprache wieder veredeln lernen, als sich von Anglizismen ein„googlen“ zu lassen. Zu wünschen wäre es.

In Coronazeiten müssen wir mehr Europa wagen

Stefan Groß-Lobkowicz8.08.2020Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

“The European” traf den Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskammer Bayern, Frank Walthes zum Interview. Der Versicherungsexperte, selbst ein überzeugter Europäer erklärte: Europa funktioniert nur, wenn wir mehr Kohäsion wagen. Nur durch die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts kann der Kontinent zusammenwachsen. Dies gilt in Zeiten von Corona umso mehr.

  1. Die Coronakrise ist eine Herausforderung für die Gesellschaft. Was hat die Versicherungskammer für ihre Kunden getan?

Die Pandemie wird auch an der Versicherungskammer nicht spurlos vorübergehen. Denn wir gehören zu den Top 10 der deutschen Versicherungswirtschaft und sind als Regionalversicherer aufgrund unserer Kundennähe auch immer Teil der Gesellschaft. Dank unserer systematischen Investitionen in den vergangenen Jahren, insbesondere in die Digitalisierung und Automatisation, haben wir uns in dieser herausfordernden Zeit einen Vorsprung erarbeitet, den sowohl unsere Kunden als auch Vertriebspartner positiv goutieren. Trotz des temporären Wegfalls persönlicher Beratungsgespräche in den Sparkassen- und Bankfilialen sowie den Agenturen und Geschäftsstellen während des „shut downs“, hatten und haben unsere Kunden immer die Möglichkeit, ihre Vertriebspartner über virtuelle Kanäle jederzeit zu erreichen. Neben der Beratung via Telefon oder Videokonferenzsystemen können sie ihren Vertrag mittels digitaler Unterschrift sogar direkt abschließen. Unsere Erreichbarkeit und unsere Produktivität sind auch bei einer Homeoffice-Quote von 80 – 90 Prozent auf einem unverändert hohen Niveau. Besonders in der Krise manifestieren sich Vertrauen und Leistungskraft. Auch dort, wo es um den individuellen Versicherungsvertrag jedes einzelnen geht, kommen wir Kunden und Vertriebspartnern in dieser Ausnahmesituation in vielfältiger Weise und über nahezu alle Versicherungssparten entgegen.

  1. In Ihrem Portfolio findet sich eine Betriebsschließungsversicherung, insbesondere für den Hotel- und Gaststättenbereich. Wie ist Ihr Unternehmen für bzw. gegen eine mögliche zweite Welle gerüstet?

Wir haben im Konzern die erste Welle der Pandemie, gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden und Vertriebspartnern, organisatorisch und gesundheitlich gut gemeistert. Ich bin somit zuversichtlich, dass wir auch auf eine mögliche zweite Welle, die hoffentlich nicht so kommt, wie im Extrem-Szenario befürchtet, ebenso gut oder noch besser vorbereitet sind und sie bewältigen werden. Dennoch, die Welt dreht sich weiter und so müssen wir auch unsere Maßnahmen entsprechend möglicher neuer Einflussfaktoren anpassen.

Wenn Sie danach fragen, wie wir unsere Leistungspflicht gegenüber unseren Kunden aus dem Hotel- und Gaststättenbereich bei einer weiteren, durch den Staat veranlassten Gesamtschließung einer Branche sehen, kann ich Ihnen nur sagen, dass sich am Bedingungswerk nichts geändert hat. Eine behördlich angeordnete Branchenschließung stellt kein versicherbares Ereignis unter den heutigen Gegebenheiten dar. Doch auch bei der teils sehr emotionalen Diskussion in den vergangenen Wochen kann ich für unser Haus betonen, dass wir von Beginn an im Rahmen einer gemeinsamen Initiative nach einer tragfähigen Lösung gesucht und diese mit dem Bayerischen Wirtschaftsministerium, Dehoga und wesentlichen Teilen der bayerischen Versicherungswirtschaft auch gefunden haben.

  1. Unsere Welt vernetzt sich immer weiter. Welche Rolle spielt das Thema Digitalisierung bei den großen Versicherern?

Für die Versicherungskammer spielt die Digitalisierung schon seit geraumer Zeit eine strategisch bedeutende Rolle. Sie hilft uns enorm, Prozesse im Sinne und zum Nutzen unserer Kunden zu vereinfachen und dabei wertvolle Zeit für andere Kundenanliegen entlang unserer „Kundenreise“ zu gewinnen. Die aktuelle Situation zeigt nicht nur für Versicherer wie wichtig das Thema Digitalisierung und damit verbunden die Herausforderungen an die Transformation in der gesamten Gesellschaft sind. Denken Sie beispielsweise nur an die Schulen mit deren aktuellem virtuellen Unterrichtsformat. Und damit meine ich nicht nur den notwendigen Netzausbau in ländlichen Regionen oder die notwendige Hardware; wir müssen gleichermaßen in das Know-how und das Verständnis für den richtigen Umgang und Einsatz der vielfältigen Möglichkeiten investieren. Wir brauchen insgesamt eine transformative Innovations- und Investitionsagenda, um die technologische Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft voran zu treiben und damit die Wachstumsgrundlagen für die Zukunft zu schaffen. Das muss unser aller gemeinsames Ziel sein.

  1. Wissensmanagement und neue Lernformen sind ein zentrales Zukunftsthema der Digitalisierung. Sie unterstützen Projekte zur Erweiterung der digitalen Medienkompetenzen in berufsbegleitender Qualifizierung. Warum stehen solche Projekte auf Ihrer Agenda?

Neue, oft agile Formen der Zusammenarbeit und stetig hinzu kommende digitale Lösungen verlangen eine Veränderung langjährig erlernter und gelebter Verhaltensmuster. Beschäftigte sollen mitgestalten, neue Lösungsansätze definieren und digitale Kompetenzen zeigen. Deshalb haben wir uns als Unternehmenspartner dem Projekt MEDEA angeschlossen. MEDEA steht für „Erfahrungsgeleiteter arbeitsintegrierter Erwerb von digitalen Medienkompetenzen in der berufsbegleitenden Qualifizierung“ und ist ein Förderprojekt des Programms „Digitale Medien in der beruflichen Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds. Die Beteiligten bestimmen selbst, welche Lernfelder sie zum Ausbau digitaler Kompetenzen priorisieren und umsetzen.

  1. Das Home-Office hat sich in der Coronakrise als eine Alternative zum Büro entwickelt, ist das auch eine Perspektive für die Versicherungskammer? Bundesminister Heil plant ein Recht auf Home-Office. Geht das überhaupt, zählt nicht die Nähe zum Klienten?

Wenn auch nicht gesetzlich verankert, die Möglichkeit auf Home-Office hatten unsere Mitarbeitenden immer dort, wo es möglich war, schon vor Corona. Wenn es aber um Vertrauensbildung und Bindung oder um Erfahrungs- und Meinungsaustausch geht, ist der persönliche Kontakt auch künftig nicht allein durch digitale Kommunikationsmedien zu ersetzen. Das gilt für den Kundenkontakt ebenso wie für das Verhältnis von Führungskräften zu ihren Mitarbeitenden. Dennoch, wir werden im Konzern Versicherungskammer kaum mehr zu alten Zeiten zurückkehren. Zum einen sehen wir, dass die Arbeit in großen Teilen aus dem Home-Office mit ebenso hoher Qualität erledigt wird und die Mitarbeiterzufriedenheit einen deutlichen Anstieg verzeichnet; zum anderen ist es für viele Mitarbeitende auch eine Erleichterung, wenn sie nicht mehr so häufig teils lange Arbeitswege auf sich nehmen müssen. Ich denke, wir werden in Zukunft mindestens ein Hybridmodell etablieren, bei dem die Interessen des Unternehmens ebenso wie die der Mitarbeitenden berücksichtigt werden können. Wir werden zunehmend ein noch kundenzentrierteres, effizienteres und effektiveres Unternehmen sein. Die aktuelle Situation hilft uns, die strategische und digitale Transformation unseres Hauses zügiger voran zu bringen.

  1. Wie sieht die Versicherungsbranche der Zukunft aus?

Wir sehen, dass die Pandemie die Entwicklung vom reinen Offline-Kunden zum hybriden Kunden weiter beschleunigt. Wir agieren auch in Zukunft mehrhändig und setzen nicht nur auf digitale Kanäle, sondern stärken auch unseren personell-digitalen Vertrieb. Wir gehen aber noch einen Schritt weiter, indem wir den Ausbau von Ökosystemen beschleunigen, da unsere Kunden verstärkt ganzheitliche Lösungen im Kontext ihrer Lebenssituation nachfragen. Der Konzern Versicherungskammer ist hier bereits auf einem guten Weg. Mit „Uptodate“, unserem eigenen Start-Up, bieten wir heute schon eine Vielzahl von Angeboten rund um das Leben in Haus und Wohnen, zwischenzeitlich mit besonderem Fokus auf die Gesundheit, an. HomeCare und HealthCare sind hier die Stichworte.

  1. Lassen Sie uns anlässlich der aktuellen Situation auch noch kurz über die Versicherungsbranche hinaus blicken, denn die Gesellschaft lebt ja immer vom Miteinander. Wie lässt sich ihrer Meinung nach, diese unter dem Begriff der Kohäsion gedacht, in der Realität umsetzen; wie müssen wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt gedacht werden?

Spätestens seit den Verträgen von Maastricht dominiert das Postulat des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts alle gemeinschaftlichen Politikbereiche der Europäischen Union. Das Ziel ist die konsequente Schließung wirtschaftlicher, sozialer und technologischer Lücken zwischen den EU-Staaten.

Die kritischen Erfolgsfaktoren dazu lauten heute: demografische Entwicklung, Wertewandel, sinkende Erwerbstätigenzahlen, ein deutlich wachsender Anteil erwerbstätiger Frauen und mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Der erfolgreiche Umgang mit diesen Faktoren für Unternehmen innerhalb Europas hängt auch weiterhin davon ab, wie sie sich in verändernden, globalen Wirtschaftsströmen und im Wettbewerb um qualifiziertes Personal dauerhaft behaupten können. Gerade angesichts der aktuell herrschenden Unsicherheit sind offenes Denken und gegenseitiger Respekt für eine gemeinschaftliche Grundhaltung wichtiger denn je. Diversity Management ist eine Möglichkeit und hilft, auf diese Veränderungen in der Gesellschaft zu reagieren und lässt sich, gut durchdacht, als Erfolgsfaktor in einer Unternehmenskultur abbilden. Ein respektvolles Miteinander trägt zu einem besseren Kundenverständnis bei, fördert den Zusammenhalt im Unternehmen und in der Gesellschaft und ist somit unabdingbar.

  1. Europa ist nach der Coronakrise noch weiter auseinandergedriftet. Statt europäischer Einheit hat der Nationalstaat wieder die Führung bei der Bekämpfung der Pandemie übernommen. Taugt Europa zu Konfliktlösungen?

Die Corona-Krise ist eine globale Herausforderung. Sie kann durch eine enge europäische und internationale Zusammenarbeit besser und effektiver bewältigt werden als durch nationale Alleingänge oder durch aufkeimenden Protektionismus. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt Europas nutzt allen. Das betrifft eine Vielzahl von Herausforderungen, nicht nur den  Umgang mit dem Coronavirus. Ich denke dabei an die Stärkung der digitalen Kompetenzen, den Klimawandel, den Gesundheitssektor und nicht zu vergessen die Sicherheitsarchitektur von EU und NATO, in der Europa seine Zusammenarbeit vertiefen muss. Noch haben wir in Pandemiefragen keinen europäischen Bundesstaat mit klaren zentralen Zuständigkeiten. Vielmehr sehen wir hier ein föderales, subsidiäres Labor eines althergebrachten Europas der Vaterländer. In der Tat, wir müssen noch viel für die politische Union Europas tun!

  1. Ihre Vision ist die eines geeinten Europas. Doch nicht erst nach Corona wachsen die Schulden vieler Mitgliedsstaaten ins Unermessliche. Eurobonds sollen hier helfen? Ist das der richtige Weg?

Wir müssen einen Weg finden, Europa durch Solidarität zusammen zu halten, indem die EU direkte Hilfen leistet. Die jüngsten Vorschläge von Macron und Merkel zur wirtschaftlichen Erholung Europas durch einen Wiederaufbaufonds sowie die Initiativen der Kommissionspräsidentin von der Leyen sind hier wegweisend.

  1. Die Kohäsions- und Strukturpolitik ist eine der zentralen Politikbereiche der Europäischen Union. Kohäsion steht in der Politik für den Zusammenhalt zwischen einzelnen Staaten und Regionen. Wie könnte diese Ihrer Meinung nach verbessert werden?

Mit der Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts sollen sukzessive die bestehenden Disparitäten zwischen den Ländern der EU vermieden werden. Entstandene Ungleichgewichte im Zuge der Integrationsschritte vom Binnenmarkt über die EU-Erweiterung bis hin zur Wirtschafts- und Währungsunion gilt es zu beseitigen. Die europäische Kohäsionspolitik verfügt über eine Reihe von strukturpolitischen Maßnahmen, die dem Grunde nach alle als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht sind und gerade keine Transfer-Union begründen. Aktuell schaue ich mit Besorgnis auf diese Europäische Wertegemeinschaft. Ich sehe drei zentrale Bereiche, deren Stabilität höchste Aufmerksamkeit erfordern: Innere Sicherheit, Soziales und Finanzen. Es muss uns in der Einheit dieser drei europäischen Themen gelingen, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern und dabei auf eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der einzelnen Teile und des Ganzen zu achten. Der Abstand zwischen strukturschwachen und stärkeren Ländern und Regionen darf sich nicht weiter vergrößern, sonst manifestiert sich ein weiteres Mal ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten.

Fragen: Stefan Groß

Die Anti-Lockdown-Strategie von Anders Tegnell hat sich bewährt

Stefan Groß-Lobkowicz6.08.2020Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

Viel gescholten wurde Schweden und sein Staatsepidemiologe Anders Tegnell, weil das nördliche EU-Land innerhalb der Hochphase der Corona-Epidemie einen anderen Weg als der Rest Europas ging. Doch inmitten einer zweiten Welle, wie sie vom Marburger Bund für Deutschland vorausgesagt ist, haben die Schweden die Krise besser gemeistert und stehen im Augenblick zumindest als die eigentlichen Gewinner dar.

 

Die Welt ist in der zweiten Coronawelle gefangen

Die USA sind im Corona-Ausnahmezustand. Die Zahlen steigen und setzen Donald Trump massiv unter Druck. Australien hat den zweiten Lockdown ausgerufen und Brasilien bleibt in den todbringenden Fängen des Virus. Die Weltwirtschaft liegt nach Covid-19 in Trümmern und bricht dramatisch um zehn Prozent ein – das schwerste konjunkturelle Desaster seit der Finanzkrise 2009 und der Nachkriegszeit. Viele Strände in Europa sind wie leergefegt. Venedig, das Symbol des Overtourism, wirkt plötzlich wie ausgestorben. Die Jugend ist ihrer Abend- und Freizeitkultur beraubt, Festivals und Festspiele abgesagt. Fußballfans sind nur noch Geisterseher.

Deutschland konnte – samt seinen Ausgangsperren, Kontaktbeschränkungen, Masken- und Abstandsregeln, mit seinen Coronastrategen Markus Söder, Armin Laschet, Jens Spahn und Helge Braun – trotz rigider Ausnahmepolitik und staatlicher Eingriffe in die Freiheitsrechte die zweite Welle nicht verhindern. Die Fallzahlen steigen und damit auch die Todesfälle.

Anders Tegnells Strategie hat sich bewährt

Während die Bundesrepublik mit einer zweiten Coronawelle kämpft, die das Land wie einst die Flüchtlingskrise 2015 immer weiter spaltet, scheint die Strategie des schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell aufzugehen. Der 64-jährige Tegnell ist das nordische Gesicht an der Coronafront, aber eben nicht im Stil des smarten deutschen Virologen Christian Drosten, sondern eher wie ein römischer Gladiator, der seinem tödlichen Gegenüber nicht ausweicht, sich nicht versteckt, sondern ihm kampfesmutig die Stirn bietet, klar und kantig argumentierend. Für diese Taktik wurde Schwedens Staatsepidemiologe lange Zeit wie ein Aussätziger behandelt, für den ethische Aspekte keine Rolle im Kampf gegen das Coronavirus spielten. Er habe fahrlässig agiert, Menschenleben aufs Spiel gesetzt, eine Art Poker um die besonders vom Coronavirus betroffenen Altersgruppen gespielt, so die Vorwürfe. Sicherlich, Tegnell ist mehr Friedrich Nietzsche als Arthur Schopenhauer, ein Utilitarist, der abwägt, dem Triage nicht unbedingt einem ethischen Manko gleichkommt. Er ist einer, der auf Selbstverantwortung statt auf Bevormundung setzt, einer, der auf den gesunden Menschenverstand vertraut, anstatt wie in Deutschland auf eine Straf- und Verbotskultur. Von staatlichen Einschränkungen der Privatsphäre hält er wenig, auch von der  Maskenpflicht, die es in Schweden nach wie vor nicht gibt, während sich Deutschland wieder vermummt und Länder wie Nordrhein-Westfahen Masken-Muffeln in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit 150 Euro Strafe bei Missachtung den Kampf ansagen, ist der studierte Arzt nicht überzeugt.

Schweden setzte von Anfang an auf Eigenverantwortlichkeit und Herdenimmunität

In der Frühphase des Coronaausbruchs setzte der schwedische Wissenschaftler, wie der britische Premier Boris Johnson, auf Herdenimmunität. Das Virus sei nicht aufzuhalten, es gelte aber die Kurve flach zu halten, um Krankenhäuser nicht zu überlasten, lautete die Maxime damals aus Schweden. Aber auch die sozialen Folgen hatte Tegnell stets im Blick: Die Einschränkungen sollten nicht zu streng sein, damit die Menschen auch bereit sind, diese über Monate hin zu akzeptieren. Und während Deutschland im März und April auf drakonische Maßnahmen pochte, plädierte Tegnell auf die je eigene Verantwortlichkeit des mündigen Bürgers, auf seine Einsicht zum Selbstschutz. „Das Wichtigste, was wir jetzt machen können, ist zuhause zu bleiben, wenn wir uns krank fühlen. Das sagen wir jeden Tag und werden das weiter tun, solange die Epidemie anhält, denn das ist die Grundlage für alles, was wir tun.“

Niedrige Fallzahlen, kaum Sterblichkeit

Die Schweden hatten auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie das öffentliche Leben nicht heruntergefahren, Schulen, Kindertagesstätten und Restaurants blieben geöffnet. Der Preis dafür war bitter. Das Land mit 10 Millionen Einwohnern hat fast 82.000 Corona-Infektionen und mehr als 5.700 Todesfälle zu beklagen. Ende Juni erreichte die Zahl der Neuinfektionen mit über 1800 einen Höchststand. Doch seit dem 9. Juli ist die Anzahl der mit dem Coronavirus-Infizierten nicht mehr über 500 gestiegen. Derzeit liegt die tägliche Zunahme der Corona-Fälle bei rund 300. Tendenz sinkend. Auch die Zahl der Corona-Todesfälle sank pro Tag bereits seit Mitte April kontinuierlich. Die Intensivpatienten in den Spitälern werden immer weniger. All dies geschieht in Schweden zu einer Zeit, in der die ganze Welt vor einer zweiten Welle zittert.

Schweden kommt besser durch die Coronakrise als andere Länder mit Lockdown

Wie es derzeit aussieht, kommt Schweden besser aus der Coronafalle als andere Länder, die einen strengen Lockdown verordneten. Und das ist auch der liberalen Strategie des krisenerprobten Spezialisten für Infektionskrankheiten zu verdanken, der sich seine Meriten an den Infektionsherden dieser Welt buchstäblich im Schweiße seines Angesichts verdiente. „Mr. Corona“, wie Tegnell in seiner Heimat auch genannt wird, wird derzeit wie ein Volksheld gefeiert. Der Mann, der hemdsärmlig im T-Shirt und verstrubbelt und unprätentiös daherkommt, ist kein Pharisäer mit Elitebewusstsein, der am unbedingten Buchstaben festklebt, kein Apokalyptiker mit Weltuntergangsstimmung, sondern ein handfester Pragmatiker, der auch den Mut hat, Fehler einzugestehen. Noch Anfang Juni hatte Schwedens Chef-Epidemiologe Verbesserungspotenzial  beim vergleichsweise lockeren Corona-Kurs der Regierung eingeräumt. Und selbst Mitte Juni bereute er in einem Interview einen Teil seiner Strategie im Umgang mit dem Coronavirus. Der Schutz vor einer Ansteckung der Älteren in schwedischen Senioreneinrichtungen sei gescheitert und die Todesrate „schrecklich“. „Wir dachten vermutlich, dass unsere alters-segregierte Gesellschaft uns erlauben würde, eine Situation zu vermeiden wie in Italien, wo verschiedene Generationen häufiger zusammenleben. Das erwies sich aber als falsch.“

„Wir haben nicht so viel falsch gemacht“

Im August sind Zweifel und die berechtigte Selbstkritik verblasst. Tegnells Strategie ist aufgegangen und vielleicht wegweisend für andere Länder in der Coronakrise. Die Isolation alter und kranker Menschen, den Risikogruppen, war eines seiner Primärziele, sonst sollte Normalität den Alltag bestimmen. Distanz zu wahren und auf die Hygienemaßnahmen zu achten, waren Tegnells Credos von Beginn der Pandemie an, eine gezielte passive Immunisierung das Ziel. So ist er Anfang August, und die Zahlen geben ihm derzeit recht, überzeugt, dass Schweden nicht viel falsch gemacht hat. „Ich denke, es war ein großer Erfolg“, sagt Tegnell in einem Interview des Portals „unherd.com“ über seine Strategie. „Wir sehen jetzt schnell sinkende Fälle, wir hatten kontinuierlich funktionierende Gesundheitsversorgung, es gab zu jeder Zeit freie Betten, nie Gedränge in den Krankenhäusern, wir konnten Schulen offen halten, was wir für äußerst wichtig halten.“

Der Lockdown ist nicht die Patentlösung

Besorgt hingegen ist Tegnell derzeit über den weltweiten Infektionsanstieg. Doch den kritischen Stimmen zu seiner eigenen Coronastrategie hat er vorerst den Wind aus den Segeln genommen. Während in den Lockdown-Staaten große Nervosität im Angesicht der weiten Welle ausbricht, sind die Schweden weitgehend durchimmunisiert. Setzte man in Europa auf massenhafte Kontaktsperren zeigt der Fall von Schweden, dass es auch anders geht. Und während der Lockdown in Deutschland die Wirtschaft in den Keller schickte, die häusliche Gewalt proportional zur Quarantäne anstieg, die verordnete Einsamkeit buchstäblich die Seelen zerfraß, kam es in Schweden nicht zur dramatischen Eskalation von psychischem Leid. Selbst die schwedische Wirtschaft hatte mit dem Verzicht auf einen Total-Lockdown nur eine kleine Delle abbekommen. Das Land muss nur mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um nur 1,5 Prozent rechnen. Deutschlands Wirtschaft hingegen brach um über 10 Prozent ein. Es ist ein eiskalter Konjunktureinbruch und zugleich die schwerste Krise der Nachkriegszeit.

Kein Wunder also, dass so mancher Schwede stolz auf seinen Staatsepidemiologen Anders Tegnell ist und sich das Konterfei des Coronakämpfers gern auf den Arm tätowieren lässt.

 

So will Christian Drosten die zweite Welle verhindern

Stefan Groß-Lobkowicz6.08.2020Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

Der Virologe Drosten hat angeregt, die Corona-Schutzkonzepte zu überarbeiten. Wie er betonte, müsse sich Deutschland auf eine zweite Welle vorbereiten. Das Coronavirus könnte sich dieses Mal „aus der Bevölkerung heraus“ verbreiten und nicht wie beim ersten Mal von außerhalb eingeschleppt werden. Da eine Einzelfall-Nachverfolgung für die Gesundheitsämter dann nicht mehr möglich ist, sei es sinnvoller, den Fokus auf Cluster – also Mehrfachübertragungen – zu legen. Was diese Cluster sind, erklären wir Ihnen hier.

Der Chef-Virologe Christian Drosten von der Berliner Charite hatte in einem Gastbeitrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ vor einer zweiten Welle gewarnt. Diesmal, so seine Befürchtung, könnte das Coronavirus nicht von außerhalb eingeschleppt werden, sondern sich „aus der Bevölkerung heraus“ verbreiten. Sollten die Fallzahlen dann steigen, so warnt er, seien die Gesundheitsämter überlastet, sie können die Einzelfall-Nachverfolgung nicht leisten. Daher, so Drosten, sei es sinnvoller, nunmehr den Fokus auf Cluster – also Mehrfachübertragungen – zu legen. Um die Kontakthistorie eines Corona-Falls nachvollziehbar zu machen, schlägt der Virologe vor, dass jeder Bundesbürger in diesem Winter ein Kontakt-Tagebuch führt. Im Falle einer Kontaktaufnahme mit einem Infizierten in einer möglichen Clustersituation wie etwa bei Familienfeiern oder bei Schulklassen, sollten dann sofort fünf Tage Quarantäne folgen und dann einen Corona-Test gemacht werden. So könne man längere Quarantänen oder Lockdowns vermeiden.

Drosten folgt damit  Japans Chef-Virologen Hitoshi Oshitani, der im Juli eine Studie zu Superspreadern und Clusterbildung vorgelegt hatte. Der japanische Wissenschaftler hält nicht viel von Corona-Tests. Worum es ihm geht, sind die Zielgruppen herauszufinden, die tatsächlich für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind. Sie zu isolieren, darin sieht er die Lösung des Problems, um weitere Corona-Infektionen zu vermeiden.

Die neue Studie aus Japan, die nicht testet oder auf Tests setzt, sondern Cluster verwendet, stößt mittlerweile auch bei deutschen Wissenschaftlern auf Anerkennung. So hat sich Deutschlands Chef-Virologe Christian Drosten positiv für die japanische Strategie ohne Tests ausgesprochen. Drosten, das Gesicht der Corona-Krise, bewundert und kritisiert, sieht im japanischen Modell zumindest einen gangbaren Weg, der auch in Deutschland zielführend sein könnte, wenn die zweite befürchtete Welle im Herbst ausbrechen sollte. „Mutig, aber richtig“ nannte der die auch zuerst in Japan umstrittene Cluster-Strategie.

Wo sind die Superspreader?

Damit erhält Hitoshi Oshitani, der mit seiner Studie versuchte Superspreader und Superspreading-Events empirisch nachzuweisen, Rückendeckung aus Deutschland. Oshitani hatte sich auf die Suche nach gemacht, wie Infektionsschwerpunkte entstehen und wo das Risiko besonders hoch ist. Von Januar bis Anfang Mai untersuchte das Team Orte, wo die Gefahr besonders hoch ist, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Laut der Forschergruppe handelt es sich dann um ein Cluster, wenn fünf Infektionen an einem Ort zur gleichen Zeit entstanden. Ansteckungen innerhalb eines Haushalts wurden nicht berücksichtigt. Der Fokus der Studie lag dabei auf Altenheimen, Fitnessstudios Restaurants, Konzerthallen oder Karaoke-Bars. 61 solche Cluster mit über 3000 Infizierten gehörten dabei zu den Corona-Hotspots. Die Studie erschien als Vorabveröffentlichung auf den Seiten des Fachmagazins „Emerging Infectious Diseases“ der amerikanischen Centers for Disease Control (CDC).

Die Superspreader-Events sind für einen explosionsartigen Anstieg von Corona verantwortlich

Hitoshi Oshitanis Cluster-Studie wird unterdessen von immer mehr internationalen Wissenschaftsexperte geteilt. Die meisten Infizierten stecken kaum weitere Menschen an, während die sogenannten Superspreader geradezu den Virus exponentiell verbreiten. Auch die Superspreader-Events sind letztendlich für einen explosionsartigen Anstieg von Corona verantwortlich, lösen geradezu wellenartige Infektionsketten aus. „Vermutlich bewirken zehn Prozent der Fälle 80 Prozent der Ausbreitung. Wüssten die Experten, wo solche Ereignisse zu erwarten sind, könnten sie versuchen, die Ausbrüche zu verhindern statt große Bereiche der Gesellschaft lahmzulegen“, sagte etwa der Epidemiologe Adam Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen stieg Mitte Juli im Osten Europas an. Aber auch Spanien ist wieder in der Coronakrise angekommen. Österreich, das glaubte, sich gut durch die Corona-Krise zu manövrieren, die Masken über Bord warf, wurde wieder von der Corona-Realität eingeholt. Wilde Partys, Clubbesuche und eine die Gefahr ignorierende Jugend, die frenetisch in die zweite Welle tanzt, setzt sich in einer geradezu infantilen Hybris über alle staatlichen Anweisungen rebellisch hinweg. Gerade auf dem Balkan, wo an den Stränden Partys ohne Sicherheitsabstand und ohne Maskenplicht gefeiert werden, ist die Zahl der neuen Coronafälle alarmierend. Auch in Japan kam es zu einem Neuanstieg. Die Betroffenen waren zu 70 Prozent zwischen 20 und 30 Jahren alt. Den Ursprung hatten die aktuellen Neuinfektionen in den Ausgehvierteln der Stadt.

Enger Kontakt in geschlossenen Räumen mit schlechter Luftzirkulation sei die Hauptquelle für Corona

Dies bestätigt ist These von Hitoshi Oshitani, dass es vor allem junge Leute sind, die selbst kaum Symptome haben, aber den Virus weiter verbreiten. Selbst wenn ein Superspreader nicht immer zu identifizieren ist, der letztendlich einen Cluster-Ausbruch auslöste, der Nachweis gelang nur in 22 Fällen, sind es Frauen unter 30, die keine Symptome zeigen, die aber für die Verbreitung der hochinfektiösen Viren sorgen. In der Studie blieb offen, warm es gerade Frauen in dieser Altersgruppe sind, was das Team um Oshitani aber herausfand, ist, dass die Superspreader zwischen 20 und 39 Jahre alt sind. Enger Kontakt in geschlossenen Räumen mit schlechter Luftzirkulation sei die Hauptquelle. Aber auch Fitnessstudios, Konzerte, Clubs, Barbesuche und Kneipen, wo sich überwiegend jüngere Menschen treffen, ließen sich als Kristallisationspunkte der Infektionen nachweisen. Dagegen konnten die Wissenschaftler ein Infektionsrisiko in den U-Bahnen ausschließen, die zumindest in Tokio sorgfältig desinfiziert wurden und wo die Menschen ohnehin routinemäßig einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Dass die U-Bahnen relativ sicher sind, liegt, wie Hitoshi Oshitani betont, daran, dass dort nicht so oft telefoniert wird und die Menschen meistens schweigen.

Statt Lockdown und Massentests – Clusterfahndung

In Deutschland wird nach Gütersloh und dem jüngsten Corona-Ausbruchs in Niedersachsen, wo 66 Mitarbeiter eines Wiesenhof-Schlachthofs positiv auf das Coronavirus getestet worden, immer wieder über lokale Lockdowns nachgedacht, um keinen zweiten Supershutdown wie im März auszurufen, der das Alltagsleben und die Wirtschaft für Monate lahmlegt. Genau in diese Richtung gehen auch die Untersuchungen von Hitoshi Oshitani, der zum Krisenteam der japanischen Regierung gehört, und dessen Corona-Strategie darauf hinausläuft, keinen landesweiten Lockdown herbeizuführen. Im Unterschied zu  Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien hatten die Japaner zwar keine so harten Ausgangsbeschränkungen zur Hauptkrisenzeit, sie empfahlen aber das Homeoffice. Trotz dieser gewissen Lockerungen kam das, ähnlich wie Deutschland dicht besiedelte Japan, das auf eine ebenso hohe Zahl von überalterten Bevölkerungsgruppen verweisen kann, besser als viele europäische Länder durch die Covid-19 Krise. Von den fast 130 Millionen Einwohnern, fast 50 Millionen mehr als in der Bundesrepublik, kam es nur zu 24.000 nachgewiesenen Infektionen und knapp 1000 Todesfällen.

Anders als in Deutschland, wo auf Corona-Tests als probates Kampfmittel gegen die Verbreitung des Virus gesetzt wird, praktiziert Japan eine Cluster-Überwachung ohne Tests. Wenn eine Infektion auftritt, werden die Kontakte des Betroffenen verfolgt und das Umfeld prophylaktisch in Quarantäne geschickt – ohne auf Testergebnisse zu warten. Die Cluster-Überwachung sei damit, so Oshitani, effektiver als viele Corona-Tests. Zu dieser Erkenntnis sei man bereits bei der Sars-Epidemie gekommen. „Wir hatten schon bei der Sars-Epidemie entdeckt, dass nicht jeder Infizierte jemanden ansteckte, sondern einige wenige sehr viele andere. Durch solche Superspreader entstehen Cluster. Das hatten wir auch beim neuen Coronavirus vermutet.“ In Japan bleibt die Verfolgung von Superspreadern und deren Clustern damit die wichtigste Maßnahme bei der Bekämpfung von Covid-19.”

Beim Kampf gegen das Coronavirus wurden innerhalb der letzten Monate verschiedene Studien vorgelegt. Eine der spektakulärsten, war die Untersuchung von Blutgruppen und welche Rolle diese bei der Ansteckung haben. Aber auch Studien zur Luftverschmutzung, die das Coronavirus unterstütze, der Immunstatus sowie der Einfluss von Röntgenstrahlen waren das Ziel von Forschergruppen. Von der japanischen Studie kann man lernen: Wenn Risikofaktoren für Infektions-Cluster bekannt sind, können Quarantänemaßnahmen viel gezielter durchgeführt werden.

Forscher finden Superspreader bei Tönnies

Stefan Groß-Lobkowicz24.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Ein Mitarbeiter in der Rinderzerlegung hat bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Mai 2020 laut einer neuen Studie das Coronavirus flächendeckend verteilt. Dabei wurde das Virus, so das Forschungsergebnis von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), der Uniklinik Hamburg-Eppendorf und des Leibniz-Instituts für Experimentelle Virologie (HPI), auf mehrere Personen im Umkreis von mehr als acht Metern übertragen. Für die Studie wurden die Arbeitsbedingungen, die Standorte der Arbeiter und die Infektionsketten anhand von Virussequenzen analysiert.

Ob bei Tönnies oder Wiesenhof, die Kette der Neuinfektionen mit dem Coronavirus reißt in Deutschland nicht an. Auch in Spanien und Österreich steigen die Fallzahlen wieder deutlich an – von Braslien, den USA, Indien und Israel ganz zu schweigen. Nun hat der Bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder – auch aus einer wohlbegündeten Furcht vor einer zweiten Coronawelle – für Deutschland Massentests gefordert und will verbindliche Pflichttests bei der Einreise auf Flughäfen einführen. Während die Bundesrepublik auf Tests setzt, möglicherweise mit Zwang, geht man in Japan einen völlig anderen Weg. Statt Testung gilt es die Superspreader zu identifizieren, um diese dann gezielt zu isolieren. Aber wer sind eigentlich die Super-Überträger und warum ist diese Methode erfolgreicher als Coronatests?

Wer sind eigentlich die Superspreader? Japans Chef-Virologe Hitoshi Oshitani hat dazu nun eine Studie vorgelegt. Der Wissenschaftler hält nicht viel von Corona-Tests. Worum es ihm geht, sind die Zielgruppen herauszufinden, die tatsächlich für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind. Sie zu isolieren, darin sieht er die Lösung des Problems, um weitere Corona-Infektionen zu vermeiden.

Die neue Studie aus Japan, die nicht testet oder auf Tests setzt, sondern Cluster verwendet, stößt mittlerweile auch bei deutschen Wissenschaftlern auf Anerkennung. So hat sich Deutschlands Chef-Virologe Christian Drosten positiv für die japanische Strategie ohne Tests ausgesprochen. Drosten, das Gesicht der Corona-Krise, bewundert und kritisiert, sieht im japanischen Modell zumindest einen gangbaren Weg, der auch in Deutschland zielführend sein könnte, wenn die zweite befürchtete Welle im Herbst ausbrechen sollte. „Mutig, aber richtig“ nannte der die auch zuerst in Japan umstrittene Cluster-Strategie.

Wo sind die Superspreader?

Damit erhält Hitoshi Oshitani, der mit seiner Studie versuchte Superspreader und Superspreading-Events empirisch nachzuweisen, Rückendeckung aus Deutschland. Oshitani hatte sich auf die Suche nach gemacht, wie Infektionsschwerpunkte entstehen und wo das Risiko besonders hoch ist. Von Januar bis Anfang Mai untersuchte das Team Orte, wo die Gefahr besonders hoch ist, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Laut der Forschergruppe handelt es sich dann um ein Cluster, wenn fünf Infektionen an einem Ort zur gleichen Zeit entstanden. Ansteckungen innerhalb eines Haushalts wurden nicht berücksichtigt. Der Fokus der Studie lag dabei auf Altenheimen, Fitnessstudios Restaurants, Konzerthallen oder Karaoke-Bars. 61 solche Cluster mit über 3000 Infizierten gehörten dabei zu den Corona-Hotspots. Die Studie erschien als Vorabveröffentlichung auf den Seiten des Fachmagazins „Emerging Infectious Diseases“ der amerikanischen Centers for Disease Control (CDC).

Hitoshi Oshitanis Cluster-Studie wird unterdessen von immer mehr internationalen Wissenschaftsexperte geteilt. Die meisten Infizierten stecken kaum weitere Menschen an, während die sogenannten Superspreader geradezu den Virus exponentiell verbreiten. Auch die Superspreader-Events sind letztendlich für einen explosionsartigen Anstieg von Corona verantwortlich, lösen geradezu wellenartige Infektionsketten aus. „Vermutlich bewirken zehn Prozent der Fälle 80 Prozent der Ausbreitung. Wüssten die Experten, wo solche Ereignisse zu erwarten sind, könnten sie versuchen, die Ausbrüche zu verhindern statt große Bereiche der Gesellschaft lahmzulegen“, sagte etwa der Epidemiologe Adam Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen stieg Mitte Juli im Osten Europas an. Aber auch Spanien ist wieder in der Coronakrise angekommen. Österreich, das glaubte, sich gut durch die Corona-Krise zu manövrieren, die Masken über Bord warf, wurde wieder von der Corona-Realität eingeholt. Wilde Partys, Clubbesuche und eine die Gefahr ignorierende Jugend, die frenetisch in die zweite Welle tanzt, setzt sich in einer geradezu infantilen Hybris über alle staatlichen Anweisungen rebellisch hinweg. Gerade auf dem Balkan, wo an den Stränden Partys ohne Sicherheitsabstand und ohne Maskenplicht gefeiert werden, ist die Zahl der neuen Coronafälle alarmierend. Auch in Japan kam es zu einem Neuanstieg. Die Betroffenen waren zu 70 Prozent zwischen 20 und 30 Jahren alt. Den Ursprung hatten die aktuellen Neuinfektionen in den Ausgehvierteln der Stadt.

Frauen unter 30 verbreiten das Coronavirus

Dies bestätigt ist These von Hitoshi Oshitani, dass es vor allem junge Leute sind, die selbst kaum Symptome haben, aber den Virus weiter verbreiten. Selbst wenn ein Superspreader nicht immer zu identifizieren ist, der letztendlich einen Cluster-Ausbruch auslöste, der Nachweis gelang nur in 22 Fällen, sind es Frauen unter 30, die keine Symptome zeigen, die aber für die Verbreitung der hochinfektiösen Viren sorgen. In der Studie blieb offen, warm es gerade Frauen in dieser Altersgruppe sind, was das Team um Oshitani aber herausfand, ist, dass die Superspreader zwischen 20 und 39 Jahre alt sind. Enger Kontakt in geschlossenen Räumen mit schlechter Luftzirkulation sei die Hauptquelle. Aber auch Fitnessstudios, Konzerte, Clubs, Barbesuche und Kneipen, wo sich überwiegend jüngere Menschen treffen, ließen sich als Kristallisationspunkte der Infektionen nachweisen. Dagegen konnten die Wissenschaftler ein Infektionsrisiko in den U-Bahnen ausschließen, die zumindest in Tokio sorgfältig desinfiziert wurden und wo die Menschen ohnehin routinemäßig einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Dass die U-Bahnen relativ sicher sind, liegt, wie Hitoshi Oshitani betont, daran, dass dort nicht so oft telefoniert wird und die Menschen meistens schweigen.

Statt Lockdown und Massentests – Clusterfahndung

In Deutschland wird nach Gütersloh und dem jüngsten Corona-Ausbruchs in Niedersachsen, wo 66 Mitarbeiter eines Wiesenhof-Schlachthofs positiv auf das Coronavirus getestet worden, immer wieder über lokale Lockdowns nachgedacht, um keinen zweiten Supershutdown wie im März auszurufen, der das Alltagsleben und die Wirtschaft für Monate lahmlegt. Genau in diese Richtung gehen auch die Untersuchungen von Hitoshi Oshitani, der zum Krisenteam der japanischen Regierung gehört, und dessen Corona-Strategie darauf hinausläuft, keinen landesweiten Lockdown herbeizuführen. Im Unterschied zu  Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien hatten die Japaner zwar keine so harten Ausgangsbeschränkungen zur Hauptkrisenzeit, sie empfahlen aber das Homeoffice. Trotz dieser gewissen Lockerungen kam das, ähnlich wie Deutschland dicht besiedelte Japan, das auf eine ebenso hohe Zahl von überalterten Bevölkerungsgruppen verweisen kann, besser als viele europäische Länder durch die Covid-19 Krise. Von den fast 130 Millionen Einwohnern, fast 50 Millionen mehr als in der Bundesrepublik, kam es nur zu 24.000 nachgewiesenen Infektionen und knapp 1000 Todesfällen.

Anders als in Deutschland, wo auf Corona-Tests als probates Kampfmittel gegen die Verbreitung des Virus gesetzt wird, praktiziert Japan eine Cluster-Überwachung ohne Tests. Wenn eine Infektion auftritt, werden die Kontakte des Betroffenen verfolgt und das Umfeld prophylaktisch in Quarantäne geschickt – ohne auf Testergebnisse zu warten. Die Cluster-Überwachung sei damit, so Oshitani, effektiver als viele Corona-Tests. Zu dieser Erkenntnis sei man bereits bei der Sars-Epidemie gekommen. „Wir hatten schon bei der Sars-Epidemie entdeckt, dass nicht jeder Infizierte jemanden ansteckte, sondern einige wenige sehr viele andere. Durch solche Superspreader entstehen Cluster. Das hatten wir auch beim neuen Coronavirus vermutet.“ In Japan bleibt die Verfolgung von Superspreadern und deren Clustern damit die wichtigste Maßnahme bei der Bekämpfung von Covid-19.”

Beim Kampf gegen das Coronavirus wurden innerhalb der letzten Monate verschiedene Studien vorgelegt. Eine der spektakulärsten, war die Untersuchung von Blutgruppen und welche Rolle diese bei der Ansteckung haben. Aber auch Studien zur Luftverschmutzung, die das Coronavirus unterstütze, der Immunstatus sowie der Einfluss von Röntgenstrahlen waren das Ziel von Forschergruppen. Von der japanischen Studie kann man lernen: Wenn Risikofaktoren für Infektions-Cluster bekannt sind, können Quarantänemaßnahmen viel gezielter durchgeführt werden.

Interview mit Prof. Dr. Klaus Vieweg – Wieso ist Hegel wieder so populär?

Stefan Groß-Lobkowicz2.08.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Der internationale Hegel-Experte Klaus Vieweg hat den Philosophen neu gelesen. Warum der deutsche Idealist Hegel nun der Denker der Freiheit ist, fragen wir den Bestsellerautor.

 Wie aktuell ist der Philosoph Georg Wilhelm Hegel im 21. Jahrhundert?

Klaus Vieweg: Die „New York Times“ publizierte eine Kolumne des Philosophen Jay M. Bernstein mit dem Titel: „Hegel on Wall Street“, in welcher der Autor dringend die Nutzung der Ressourcen von ­Hegels praktischer Philosophie empfiehlt, als einer bis heute aktuellen Theorie von Freiheit und Modernität. Heute spricht man zu Recht von einer Hegel-Renaissance, von einem Come back seines Denkens, man könnte es als eine Wiederbelebung des wasserklaren Gedankens beschreiben, als Denken der Freiheit. Was zeichnet die Aktualität von Hegels Denken aus? Im Zentrum steht ein innovatives Verständnis des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit. Hegel ist der Begründer einer modernen Logik als neuer Metaphysik. Er liefert maßgebliche Bausteine für eine philosophische Theorie des Zeichens und der Sprache. Ernst Gombrich zufolge gilt er als Vater der Disziplin Kunstgeschichte, Hegels Ästhetik wird hoch geschätzt. Er entwirft Grundlinien für eine neue Gesellschafts- und Staatstheorie, mit der epochemachenden Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat revolutioniert er das philosophische Denken des Politischen und wird zu einem der Gründerväter der Soziologie. Hegel konzipiert die erste und bis heute gehaltvollste philosophische Theorie eines auf der Marktordnung fußenden sozialen Staates, neben der innovativen philosophischen Logik sein bedeutendster Beitrag. Nach der Corona-Krise würde Hegel vielleicht einen Aufsatz unter dem Titel „Das Ende des Kapitalismus und seine Zukunft“ publizieren und ein neues, gegen den Marktfundamentalismus gerichtetes Konzept empfehlen, das naturale und soziale Nachhaltigkeit verknüpfen kann. Auch ist Hegel ein scharfer Kritiker von allen Formen des Nationalismus und ­Antisemitismus. Einer seiner Berliner Hörer brachte Hegels Verdienst auf den Punkt: „Es ist unmöglich, den Geist, den eigentlichen Lebensnerv der Modernen zu erfassen – ohne Hegel.“

Sie haben eine viel beachtete Biografie zu Hegel geschrieben und damit 175 Jahre nach Karl Rosenkranz einen großen systematischen Einblick in Leben und Denken gegeben. ­Hegel schreibt hoch verdichtet, seine Philosophie wird immer als fast unverstehbar kritisiert. Was ist die größte Herausforderung im Denken des Stuttgarters?

Klaus Vieweg: Die große Herausforderung für Hegel war die Fortführung der Revolution im Ideen­system, die von Kant eingeleitet und von Fichte und Schelling weitergetrieben wurde, die Herausbildung eines neuen Grundmusters des Philosophierens, dem denkenden Selbstverhältnis mit dem Fundament des Denkens des Denkens: Das begreifende Denken gilt als das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser monistische Idealismus muss nicht vom Kopf auf die Füße gestellt werden, Hegels Philosophie steht auf den festen Füßen des begrifflichen Denkens. Dies verlangte die Beantwortung der Frage nach dem Anfang der Philosophie, mit welchem man Aristoteles zufolge die Hälfte der Philosophie habe. Diesem Problem widmete sich ­Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Entscheidend ist ebenfalls die Klärung des Zusammenhangs von Vernunft und Freiheit, ausgehend von Hegels Hauptwerk, der „Wissenschaft der Logik“ als einer Theorie der Selbstbestimmung – der Begriff ist das Freie. Das völlig neue Freiheitsverständnis hat Hegel in die schwierige Formel vom im Anderen seiner selbst bei sich selbst sein zu können gekleidet. Als ein vereinfachtes Beispiel könnte der Sachverhalt der Freundschaft stehen, ganz im Sinne Schillers: Gewährt mir die Bitte, ich sei in eurem Bund der dritte.

Selbst Hegels berüchtigten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ aus den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stelle Vieweg in ein neues Licht, heißt es in einer Rezensionsnotiz. Was ist neu?

Klaus Vieweg: Schon Hegel hatte unmissverständlich erklärt, dass in seiner Terminologie „wirklich“ nicht das gerade Bestehende, Gegebene, sondern nur das ist, was vernünftig gestaltet ist. Sein scharfsinniger Schüler Heinrich Heine verlangte in diesem Sinne, das Bestehende vernünftig und somit wirklich zu machen. In der neuen Hegel-Biografie ging es darum zu zeigen, dass Hegel der Philosoph der Französischen Revolution und eben nicht der ­Philosoph der Restauration war. Die sollte auch an seinem durchgängigen politischen Engagement belegt werden: Hegel soll jedes Jahr am 14. Juli, dem Tag des Beginns der Französischen Revolution, ein Glas Champagner genossen haben. Diese Revolution war das prägende weltgeschichtliche Ereignis für sein Leben und Denken. Er trat stets als vehementer Verteidiger der Grundgedanken der Französischen Revolution auf – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er feierte die Revolution als herrlichen Sonnenaufgang der modernen Welt, als Morgenröte freier Existenz. Als Tübinger Student war er einer der Wortführer des revolutionär-republikanischen Studentenkreises, in Bern konspirierte er mit aus Paris gesendeten Revolutionären. In Frankfurt steht er in enger Verbindung mit führenden Köpfen der Mainzer Republik und vermittelt einen Brief an den berühmten Revolutionär Abbe Sieyes nach Paris, was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte. In Jena erarbeitete er ein Konzept für eine föderative, moderne Verfassung für Deutschland. In ­Berlin wurde Hegel von der reaktionären Hof-Partei des Republikanismus verdächtigt, wegen der Attacken auf die Hauptideologen der Restauration Karl ­Ludwig von Haller und Savigny. Hegel wirkt engagiert als Fürsprecher seiner nach den Karlsbader Beschlüssen eingekerkerten Schüler. Für den Jenaer Gustav Asverus, dem E.T.A. Hoffmann mit seinem „Meister Floh“ ein Denkmal setzt, bürgt der Berliner Professor, stellt Kaution und erreicht die Freilassung. Wie schon in Bern und Frankfurt hat die geheime Polizei alles dokumentiert, der Philosoph lebt gefährlich.

Hegel hat nie eine Ethik geschrieben, sondern Gedanken dazu in seine Rechtsphilosophie gekleidet. Warum?

Klaus Vieweg: Hegel hat zwar kein spezielles Buch zur Ethik geschrieben, aber der Abschnitt „Die Moralität“ in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ behandelt Grundfragen der Moralphilosophie als einer Theorie des moralischen Handelns, etwa die Fragen der Zurechenbarkeit von ­Handlungen, des Guten und des Gewissens.

Besondere Aktualität besitzt Hegels Kritik an heute dominanten Ethik-Konzeptionen: Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen, und sie zum Maßstabe dessen, was Recht und Gut sei, zu machen – ist beides einseitig. Handlungen sind nur dann zureichend zu bewerten, wenn die Absicht, die Resultate und der Kontext des Handelns zusammengedacht werden. Diesen Kontext beschreibt Hegel mit dem neuen Begriff „Sittlichkeit“ (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) – eine wichtige Innovation für eine Philosophie des Praktischen insgesamt.

Dem Denker des absoluten Idealismus wird immer wieder vorgeworfen, Notwendigkeit statt Freiheit zu setzen, das Individuum in der Gattung aufgehen zu lassen und damit ein ­Protagonist des preußischen Staates zu sein? Sie haben das entkräftet, aber wie?

Klaus Vieweg: Die Rede vom preußischen Staats- und Restaurationsphilosophen zählt zu den langlebigsten Lügenmärchen über Hegel. Im Anschluss daran wird Hegel von Karl ­Popper und anderen als Vordenker des Totalitarismus verschrien – der Staat sei alles, das Individuum nichts, also Terror des Allgemeinen. Die seriöse Hegel-­Forschung hat diese Legende längst hinter sich gelassen. Hier wäre in aller gebotenen Kürze auf Hegels Grundverständnis eines modernen Staates hinzuweisen, das auf der logischen Einheit von Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen ruht. Der moderne Staat als das Allgemeine muss die Freiheit aller besonderen Einzelnen repräsentieren und gewährleisten. Der Staat bei Hegel, dies bleibt entscheidend, ist der jeder Bürger selbst, und zwar in seinem Status als Bürger, in zweiter Hinsicht ist der Staat eine Institution, die aber dazu dienen muss, die Freiheit und das Recht aller Einzelnen zu garantieren. Dies erfordert natürlich eine tiefschürfende Interpretation von Hegels Staatsbegriff, ausgehend von der Hegelschen Logik.

Philosophen wird gemeinhin vorgeworfen, im Elfenbeinturm zu leben. Nun haben Sie einen anderen Hegel gezeichnet. Wie war denn Hegel, wenn er nicht gerade philosophierte?

Klaus Vieweg: Das lebenslange politische Engagement wurde schon angedeutet. Hegels Zeitgenossen beschreiben den Philosophen als kommunikativen, geselligen und humorvollen Menschen, der sich in vielfältigen Kreisen bewegte. Eine unbändige Lachlust habe ihn geprägt, er selbst empfahl die Komödien des Aristophanes, so könne man wissen, wie es einem „sauwohl“ sein kann. In Jena und Weimar pflegte er das gute Gespräch mit Schiller und Goethe, mit Schelling plante er eine italienische Reise. Als Rektor der Berliner Universität unterhielt er sich mit Marianne von Preußen über den alten Freund Hölderlin. Er war ein enthusiastischer Theater- und Opernbesucher, charmanter Verehrer von Schauspielerinnen und Opernsängerinnen, liebte die Musik von Rossini und Mozart. Felix Mendelssohn-Bartholdy erwischte den Professor, als dieser seine Vorlesung zu früh beendete und in die Oper eilte. Mit Frau und den Söhnen unternahm er Ausflüge und besuchte Ausstellungen. Die Schwiegermutter schickt aus Nürnberg die köstlichen Lebkuchen. Hegel war ein begeisterter Kartenspieler, zu seinem Berliner Freundeskreis zählten Heinrich Heine und Zelter, der Leiter der Singakademie. Er kannte prominente Zeitgenossen wie die beiden Humboldts, die Brüder Schlegel, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Als Morgenandacht empfahl er das Studium der Zeitungen. Hegel war beeindruckt von der Weltmetropole Paris. Er benötigte einen ganz besonderen Lebenssaft, den durchsichtigen, goldnen, feurigen Wein, um Denken und die Welt durchsichtig machen zu können. Diese Geister aus der Flasche waren seine treuesten Weggefährten: Die Sorten reichten vom Riesling und Gewürztraminer vom Deidesheimer Weingut Jordan über ­Bordeaux und ­Würzburger Stein bis zu den Tränen Christi vom Vesuv.

Bei Hegel ist immer die Rede vom Absoluten. Vielen ist unklar, ist dieses ­Absolute nun der Gott des Christentums oder der ­atheistische Weltgeist, der sich in seiner Dialektik in die Welt hinein entfaltet?

Klaus Vieweg: Weder das eine noch das andere. Das Absolute ist für Hegel, sehr verknappt gesagt, das begreifende Denken, das Immunität gegen relativistische Einwände gewinnen muss, ein Denken mit dem Anspruch auf philosophische Wahrheit. Das Unwürdigste für die Philosophie sei Hegel zufolge das Verzichten auf die Wahrheit, dies habe sich breit gemacht und führe das große Wort. Was gelten soll, muss sich, so Hegel im Anschluss an Kant, vor dem Denken rechtfertigen. Ein Prinzip muss bewiesen werden, es genügt nicht, dass es aus Anschauung, unmittelbarer Gewissheit, gesundem Menschenverstand, bloßer Meinung oder Überzeugung kommt, kurz: bloß auf Treu und Glauben angenommen werde. Aber die strikte Forderung des Beweisens ist, so Hegel, für die so vielen und zugleich so einfarbigen so genannten Philosophien der Zeit, für die Modephilosophien, etwas Obsoletes geworden.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Interview mit Prof. Dr. Nida-Rümelin – Schon vor Corona gab es Krisen in der Demokratie

Stefan Groß-Lobkowicz2.08.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Er belegt im Ranking der einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands seit Jahren Top-Plätze, der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin. The European traf Minister Philosophie zum Gespräch und fragte: Ist die Demokratie in Gefahr und welche Rolle spielt die Philosophie im 21. Jahrhundert noch?

Inwieweit ist der ­bürgerliche Rechtsstaat in der Corona-Krise gut aufgestellt? Wie wird er sich künftig weiterentwickeln?

Die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Demokratien haben ziemlich klaglos die Einschränkung ihrer Grundrechte, die Einschränkung der Berufsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und Ausgangsbeschränkungen hingenommen. Das alles sind Rechte, die massiv – bis hin zu Kontaktsperren – eingeschränkt wurden. Man konnte sich schon fast Sorgen machen, dass die Bevölkerung das toleriert, denn die Essenz der Demokratie wurde dabei infrage gestellt. Demokratie besteht ja nicht darin, dass die Mehrheit entscheidet, sondern darin, dass individuelle Rechte unabhängig davon, welchen Status die Person hat, berücksichtigt werden. Gleiche, individuelle Rechte und Freiheiten sind das normative Fundament der Demokratie.

Für die Zukunft gesehen, hängt viel davon ab, wie die weitere Krisenbewältigung abläuft. Jetzt haben wir eine deutliche Liberalisierung, die ­Dynamik ist bemerkenswert und geht weit über die politischen Erwartungen hinaus. Sollten neue Wellen zu gewärtigen sein, muss alles getan werden, damit wir in Europa nicht mit denselben allgemeinen Maßnahmen der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen reagieren müssen, dieser gesamtgesellschaftliche Stresstest darf sich nicht in kurzen Abständen wiederholen, dies würde das demokratische Gemeinwesen schwer beschädigen. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir spezifischer die Gruppen schützen, die gefährdet sind. Das tun wir derzeit nicht, weil gerade alte und kranke Menschen dem Infektionsrisiko in Alten- und Pflegeheimen, sogar in Kliniken besonders stark ausgesetzt waren, mit der Folge einer Verzehnfachung der Letalität von Covid-19 innerhalb weniger Wochen.

Ihr jüngstes Buch heißt „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“. ­Warum ist die Ratio in Gefahr?

Mir geht es nicht um eine neue Krisendiagnose. Ich beklage nicht Fehlentwicklungen, sondern richte meine Forschung darauf, was Demokratie eigentlich ist. Und da begegnet man immer wieder einem Missverständnis. Schon vor Corona gab es Krisen in der Demokratie. Sei es der Populismus von links oder rechts, sei es die Diffamierung Andersmeinender. In Italien wurden die demokratischen Institutionen durch eine populistische Regierung bis zum Sommer des vergangenen Jahres in großer Gefahr ausgehöhlt und es drohte die Machtübernahme einer Partei am äußeren rechten Rand. Dies gilt aber auch für die USA, Großbritannien, Polen und Ungarn. Eine Krisenursache ist ein falsches Verständnis dessen, was Demokratie eigentlich ist. Also dieses Verständnis, die besondere Rationalität der Demokratie zu verstehen, darum geht es mir. Viele denken, dass Demokratie sei, wenn die Mehrheit entscheidet. Das ist sie aber nicht. Auch nicht, wenn 60 Prozent eine Partei wählen, dann kann das zu einer Mehrheitsdiktatur von 60 über 40 Prozent führen. Die Demokratie ist eine Staatsform, die für alle akzeptabel ist. Akzeptabel ist sie, wenn alle wissen, dass auch die Mehrheit ihre individuellen Rechte nicht verletzen kann und sich alle im demokratischen Prozess wiederfinden. Ich spreche da von einem Konsens höherer Ordnung. Demokratie ist eine Form der Kooperation. Sie beruht darauf, dass wir solidarisch miteinander so weit sind, dass wir anderen – wie in der Corona-Krise – helfen.  Ohne Sozialstaatlichkeit gibt es keine Demokratie. Individuelle Rechte und Freiheiten, gleicher Respekt und Anerkennung einerseits und Demokratie als Kooperation andererseits sind die Säulen. In diesem Gefüge spielt die Mehrheitsentscheidung eine Rolle, aber nur sofern sie diese normative Ordnung nicht sprengt.

Sie sind ein Befürworter der Globalisierung, aber wo sehen Sie auch die Kehrseite?

Es gibt unterschiedliche Formen der Globalisierung. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg. Was beispielsweise den Außenhandel angeht, bewegen wir uns heute in denselben Dimensionen. Das wurde später nach der Weltwirtschaftskrise 1929 ff korrigiert.  Was man damals hatte, war eine ungesteuerte Globalisierung, die die einzelnen Nationalstaaten in eine Abhängigkeit von chaotischen Prozessen brachte.  Dies stoppte man später durch feste Wechselkurse und durch eine stabilitätsorientierte Konjunkturpolitik. Jetzt haben wir den historischen Fehler nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nochmals gemacht.  Wir haben eine weit ungesteuerte, rein marktorientierte Globalisierung, insbesondere innerhalb der Finanzwirtschaft wieder zugelassen. Was wir aber versäumt haben, ist die institutionelle Rahmung zu gestalten. Das fällt uns jetzt auch in der Corona-Krise auf die Füße, weil keine Masken vorhanden waren, weil die Lieferketten abgerissen sind, weil es keine globalen institu­tionellen Steuerungs­instrumente gab. 2009 hatten wir ein ähnliches Desaster schon in der Finanzkrise erlebt. Dort war es ein kleiner Sektor der globalen Wirtschaft, die Immobilienhypotheken in den USA, insbesondere in Kalifornien, die  zum Auslöser wurden, der die Weltgesellschaft erschütterte. Letztendlich sind es wiederum die Nationalstaaten, die die Probleme lösen müssen. Denn es kommt Hilfe weder von der Weltgesundheitsorganisation noch von der Europäischen Union. Man sieht erneut eine massive Dysfunktionalität. Wir haben eben keinen Rahmen, der im Notfall bei globalen Katastrophen rationale Entscheidungen ermöglicht.

Jede Zeit hat ihre eigene Ethik. Derzeit leben wir im Zeitalter der Digitalisierung. Sie haben ein Buch zum Thema geschrieben: „Digitaler Humanismus“. Was unterscheidet diesen vom Renaissancehumanismus?

Die menschliche Person ist Autorin ihres Lebens, das ist die Quintessenz. Der Humanismus reicht weit in die Antike und in viele Religionen hinein. Der Mensch braucht, um Autor seines Lebens zu sein, gewisse Bedingungen wie Bildung, ökonomische Selbständigkeit, rechtliche Freiheit, politisch, kulturell und sozial abgesichert, damit er Autor seines Lebens sein kann. Es handelt sich um ein Denken, das dem Menschen etwas zutraut. In der NS-Zeit gab es eine massive Propaganda gegen jede Form von Humanismus.  Und das gilt bis heute, in immer neuen, manchmal bedrohlichen, manchmal eher albernen Formen: humanistisches Denken und humanistische Praxis sind immer bedroht.

Erst nach dem Krieg rückten die humanistischen Grundlagen, zusammengefasst in ­Artikel 1, Absatz 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, wieder in den Fokus. Auch die Gründerväter der Bundesrepublik wollten zurück zu den humanistischen Grundlagen unserer Gesellschaft.

Wir haben in Wellen immer wieder eine neue Gefährdung. Die digitale Transformation beinhaltet sowohl kulturell als auch ganz konkret gesellschaftlich-sozial eine Gefahr für das humanistische Fundament, weil die Autorschaft des Menschen bezweifelt wird und die Autorschaft von Softwaresystemen ins Spiel kommt, d. h., die verkehrte Vorstellung, dass diese einen Autorenstatus haben, also selbst Akteure sind, die am Ende auch zur Verantwortung gezogen werden können. So aber wird die menschliche Autorschaft abgewertet und neue Autorschaften kommen ins Spiel, die es gar nicht gibt. Und das ist der Kern des digitalen Humanismus. Er wendet sich nicht gegen die digitalen Transformationen, im Gegenteil: Wenn man Softwaresystemen einen Personenstatus zuschreibt, ist das sehr rasch das Ende des digitalen Fortschritts, weil diese Instrumente dann nicht für menschliche Zwecke eingesetzt werden können. Denn wer einen Personenstatus bekommt, kann auch Rechte einfordern. Und die Frage geht dann dahin, ob die Tierschutzgesetze auch für Softwaresysteme gelten. Wir kommen da auf eine schiefe Ebene und der digitale Humanismus wendet sich gegen diese ökonomische und kulturell gefährliche Dynamik.

Wir müssen einen europäischen Weg zwischen Silicon Valley gehen, einer rein kommerziellen Instrumentalisierung mit Transhumanismus einerseits und einer staatskontrollierten Form der digitalen Transformation wie es in China und Singapur andererseits geschieht. Wir müssen in Europa einen Weg beschreiten, der mit Menschenrechten, also mit den zentralen Werten des Humanismus verträglich ist – und das ist das Programm des digitalen Humanismus

Welche Bedeutung hat denn die Philosophie im 21. Jahrhundert noch?

Sicherlich hat die Philosophie im 21. Jahrhundert nicht mehr die Bedeutung, die sie in der Zeit in der Antike, Humanismus und Aufklärung hatte.  In der Antike war sie Lebenskunst und Allgemeinwissen. Das hat sich verändert, weil sich das Spektrum der Wissenschaften verändert hat. Aber es gab in den letzten Dekaden eine praktische Wendung der Philosophie, die ihr neue Relevanz und Aufmerksamkeit verschafft hat. Seit den 70er Jahren ist sie in Form von politischer und Sozialphilosophie, aber auch in den Bereichsethiken: Medizinethik, Ökologischer Ethik, Wirtschaftsethik, Genderethik oder Ethik internationaler Beziehungen sehr präsent und dadurch für Wirtschafft, Politik und Gesellschaft interessant

Sie arbeiten immer wieder mit dem Begriff Risikoethik. Was haben wir darunter zu verstehen?

Risikoethik ist die Ethik im Umgang mit Risiken. Nach einer weit verbreiteten Vorstellung benötigt man ein Ausmaß, das man monetär bewerten kann. So agieren die großen Versicherungen mit ihren Abteilungen. Man weiß, wo Erdbeben auftreten – und man hat so eine Risikoschätzung und kann Strategien entwickeln, um das Schadensmaß zu begrenzen. Wir können viele Gefahren durch menschliches Handeln beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit der Risiken verringern. Ethische Aspekte braucht man demnach eigentlich nicht, wir optimieren dann dieses Risikomaß. So denken die Versicherer. Aber so verständlich diese Sichtweise in der ökonomischen Praxis ist, sie erlaubt noch keine Antwort darauf, was ethisch geboten ist. Wir dürfen nicht einigen Menschen größere Risiken auferlegen, um anderen, vielleicht der Mehrheit Risiken zu ersparen. Dies wäre ungerecht und verletzt unter Umständen das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit. Eine adäquate Risikoethik muss daher mit deontologischen Einschränkungen operieren, um Kriterien der Gerechtigkeit und der individuellen Rechte zu enstprechen. Wir dürfen Menschen nicht instrumentalisieren.

Streng genommen dürfen wir anderen Menschen gar keine Risiken gegen ihren Willen auflegen. Im Prinzip hat jede Person ein Vetorecht. Das aber führt in eine Aporie, denn in der modernen, technologisch verfassten, komplexen Gesellschaft sind die Risiken miteinander verbunden und räumlich und zeitlich nicht zu isolieren. Und hier setzt das Konzept meiner deontologischen Risikoethik ein. Die Risiken, die wir wechselseitig einander auferlegen, müssen aus der Perspektive jedes Einzelnen akzeptierbar sein, akzeptabel heißt Gleichbehandlung, gleicher Respekt, gleiche Rechte. Die Risikopraxis beruht im Kern auf einer hypothetischen Zustimmung, wie sie bei Thomas Hobbes schon das staatliche Gewaltmonopol gerechtfertigt hat: Jede einzelne Person hat ein Interesse daran, dass wir uns nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wir haben also alle ein Interesse, ein Gewaltenmonopol zu installieren und stimmen dem hypothetisch zu – und wenn wir halbwegs vernünftig sind ­– auch real. Das ist die Idee. In der Demokratie gibt es unterschiedliche Auffassungen und ­kulturelle Praxen und daher brauchen wir einen öffentlichen Diskurs über diese Risikopraxis, gewissermaßen einen zweiten Gesellschaftsvertrag. Damit kommen wir im Idealfalle zu einer gemeinsamen Akzeptanz. Ich weiß, dass es schwierig ist, manche Leute sind nicht bereit, sich darauf einzulassen, aber anders geht es nicht.

 Wir sind derzeit im Krisenmodus. In Corona-Zeiten wurde in Italien „Die Pest“ von Albert Camus gelesen. Haben Sie einen Tipp für eine Philosophie in Zeiten von Krisen? Vielleicht die Stoa?

Die Stoa ist in einer analogen Situation entstanden, die ähnlich unübersichtlich war. Darauf gab es zwei typische Reak­tionen: Aus der einen Seite war es der Rückzug in den Garten. Denke an dich, kümmere dich um dich selbst. Die Sorge um sich selbst war die epikureische Reaktion. Auf der anderen Seite gab es die stoische. Sie besagt; du bist nach wie vor in der Verantwortung für das Ganze, auch wenn du es nicht mehr beeinflussen kannst. Trage deinen Teil dazu bei, denn die Welt ist vernünftig geordnet und du bist ein Teil derselben. Dabei unterscheidet die Stoa zwischen den Dingen, die man beeinflussen kann und denen gegen­über man indifferent sein sollte, den ­adiaphora und den Dingen, die ich unter Kontrolle habe und dafür Verantwortung übernehme, den ta eph hemin. Meine Verantwortung ist dann nicht isoliert von der der anderen Menschen, sondern eingebettet. Dies scheint mir in der aktuellen, neuen Phase der Unübersichtlichkeit, Hellenismus als erste Form der Globalisierung, ein Ethos zu sein, das auch für heute ganz passend ist.  Epiktet, ein freigelassener Sklave und Marc Aurel, der Kaiser, beide sind Vorbilder der Gelassenheit und der Selbstkontrolle im Umgang mit Konflikten und Krisen bis in den Alltag hinein.

Sie sind von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kürzlich zum Mitglied des Deutschen Ethikrats ernannt worden. Was sollte ihrer Meinung auf der Agenda stehen?

Die Politik wendet sich in heiklen Situationen an den deutschen Ethikrat. So hat Jens Spahn darum gebeten, die Frage eines eventuellen Immunitätsausweises ethisch zu evaluieren. Das ist eine gute Geste. Die Politik ist manchmal ratlos und bedarf einer ethischen Idee zur Problemlösung.  Es ist gut, wenn sie sich das auch einmal eingesteht. Als Ethiker müssen wir generell zu den großen Fragen der Menschheit in kritischen Situationen Stellung nehmen.  Speziell geht es zum Beispiel um die Herausforderung der Digitalisierung und den damit verbundenen rechtsethischen Fragen. Aber andere Themen wie der Klimawandel und die Nachhaltigkeit sind auch in Corona-Zeiten nicht vom Tisch. Sie werden stärker als je zuvor zurückkommen, weil man jetzt sieht, was möglich ist, was man verändern und wie ein Neustart in der Ökonomie nachhaltiger sich gestalten lässt. Das sind große Themen, denen ich mich gern stelle.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Interview mit Prof. Dr. mult. Hans-Jürgen Papier – Erodiert unser Rechtsstaat in der Pandemie?

Stefan Groß-Lobkowicz30.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Der Staat kann in Ausnahmesituationen wie der Corona-Pandemie zeitliche Grundrechtsbeschränkungen erlassen. Aber eine Notstandsordnung ist rechtfertigungsbedürftig. der Shutdown oder die Lockerungen sollten künftig vom Bundesparlament beschlossen werden.

War der Rechtsstaat während der Corona-Krise in Gefahr, oder lässt sich der Ausnahmezustand juristisch rechtfertigen?

Der Staat ist aufgrund des Grundrechts auf Leben und Gesundheit verpflichtet, Leben und Gesundheit der Menschen zu achten und zu schützen. Dieses Grundrecht ist in erster Linie zwar ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, aus ihm folgt aber auch eine staatliche Schutzpflicht, sich bei Gesundheits- oder Lebensbedrohungen durch Dritte oder durch Ereignisse wie Epidemien, schweren Unfällen oder Naturkatastrophen schützend vor die bedrohten Personen und ihre Rechtsgüter zu stellen. Allerdings rechtfertigen auch die Schutzpflichten keine Eingriffe in die Freiheitsrechte anderer, die unverhältnismäßig sind und im Übermaß erfolgen. Die massiven Maßnahmen von Mitte März dieses Jahres können zum damaligen Zeitpunkt, nachdem man möglicherweise zu lange geeignete Reaktionen auf die epidemische Entwicklung unterlassen hatte, als grundsätzlich erforderlich und angemessen angesehen werden. Es bestand die Gefahr, dass unser Gesundheitssystem, beziehungsweise die stationäre Krankenversorgung, kollabieren könnte und eine nicht überschaubare Vielzahl von Menschen lebensbedrohlich erkranken und an dieser Krankheit versterben könnten. Dies muss allerdings nicht für jede einzelne Maßnahme gelten. Partiell wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch negativ ausfallen können, was schon mehrere Gerichtsentscheidungen belegen. Die Entwicklung ist im Übrigen sehr dynamisch. Neue Entwicklungen und Erkenntnisse zwingen die Verantwortlichen dazu, die jeweiligen Grundrechtsbeschränkungen stets daraufhin zu überprüfen, ob sie noch erforderlich und angemessen sind. Nicht die Lockerungen, sondern die Aufrechterhaltung von Grundrechtsbeschränkungen sind unter verfassungsrechtlichen Aspekten rechtfertigungsbedürftig.

Nun ist eine mögliche zweite Coronawelle nicht auszuschließen. Die Bundesregierung hat bereits angedeutet, erneut Sicherheitsmaßnahmen einzuläuten, kann sie das erneut?

Ein sogenannter Shutdown nationalen Ausmaßes ist im Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für die einschneidenden Grundrechtseingriffe durch Regierungen und Behörden nicht angesprochen und auch nicht in grundsätzlicher Hinsicht geregelt. Es ist meines Erachtens Aufgabe des Gesetzgebers, in diesem Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit die angemessenen Entscheidungen zu treffen, er darf dies nicht allein den Regierungen und ihren nachgeordneten Behörden überlassen. Der Gesetzgeber wird dabei zu beachten haben, dass es im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit kein „Super-Grundrecht“ auf Sicherheit gibt und auch im speziellen Fall kein Super-Grundrecht auf staatlichen Gesundheitsschutz, das per se jedwede Freiheitsbeschränkung jedweden Ausmaßes und jedweder Schwere von vornherein rechtfertigt.

 „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, ist ­Corona mit einer neuen Form von Krieg vergleichbar?

Für den Verteidigungsfall, also wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, ist vor Jahrzehnten durch Etablierung einer sogenannten „Notstandsverfassung“ in rechtlicher Hinsicht Vorsorge getroffen worden. Für den epidemischen Notstand von nationaler Tragweite fehlt indes nach wie vor eine rechtlich hinreichende Vorsorge. Das bisherige Instrumentarium des Infektionsschutzgesetzes musste angesichts der akuten Gefährdungslage genutzt werden, weil es keine besseren rechtlichen Instrumentarien gab. Aber der Gesetzgeber sollte daraus lernen und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch in dieser Hinsicht krisenfester absichern.

Sie sprechen immer wieder von der „Erosion des Rechtsstaates“, wo erodiert er Ihrer Meinung nach besonders stark?

In Deutschland ist eine Notstandsordnung geschaffen worden, und zwar – gerade dies ist für eine rechtsstaatliche Demokratie besonders rechtsfertigungsbedürftig – im Wesentlichen allein aufgrund von Verordnungen und Verwaltungsakten der Landesregierungen und ihrer nachgeordneten Behörden. Einer rechtsstaatlichen Demokratie entspricht es aber, dass alle wesentlichen Entscheidungen, etwa zur Ausübung der Grundrechte, von den gewählten Parlamenten getroffen werden. Ein bundesweiter Shutdown, seine Lockerungen, seine partielle oder vollständige Aufhebung sollten künftig im Grundsatz vom Bundesparlament beschlossen werden, das würde nicht nur der demokratischen Legitimation solcher existenziellen Einschnitte in unser Leben und einer Einheitlichkeit im Bundesgebiet, sondern auch der Transparenz von Begründungen und Rechtfertigungen und damit der Akzeptanz in der Bürgerschaft dienen.

Utilitarismus und Triage sind Szenarien, um in Krisenfällen Menschenleben abzuwägen, ethisch ist das höchst umstritten und juristisch?

Nach dem Grundgesetz gilt, dass menschliches Leben und menschliche Würde gleichen verfassungsrechtlichen Schutz genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen, wie das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz ausgeführt hat. Bei nicht ausreichenden intensivmedizinischen Ressourcen ist zunächst entscheidend, ob bei den jeweiligen Patienten eine realistische klinische Erfolgsaussicht einer Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt besteht. Bei gleicher Erfolgsaussicht kann meines Erachtens dann aber nicht danach differenziert werden, ob etwa aufgrund schwerer Komorbidität oder Multimorbidität eine deutliche Einschränkung der Langzeitprognose besteht. Die Chancengleichheit der Patienten mit gleicher Erfolgsaussicht ist nur gewahrt, wenn letztlich nach den Prinzipien der Priorität und Dringlichkeit verfahren wird.

Ihr neuestes Buch trägt den Titel: „Die Warnung: Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“. Darin stellen Sie die großen Fragen zu Freiheit, Digitalisierung und Sozialstaat. Wo wird der Rechtsstaat in diesen Feldern ausgehöhlt?

Katastrophen wie die jetzige dürfen nicht zurückführen zu einem überwundenen Staatsverständnis, das die Bürgerinnen und Bürger als verantwortungsscheue Untertanen betrachtet, die ihre Verantwortung von sich weg auf den Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat schieben. Eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit kann nicht nur dadurch drohen, dass dauerhaft in staatliche Freiheitsrechte im Übermaß eingegriffen wird, sondern auch dadurch, dass die Bürgerinnen und Bürger die Werte der Freiheit nicht mehr hinreichend schätzen und bereit sind, Freiheit und Selbstverantwortung einem Sicherheitsanspruch gegenüber dem Staat zu opfern. Ohne den Willen und die Kraft zur Freiheit wird es aber für den liberalen, demokratischen Rechtsstaat dauerhaft keine Zukunft geben. Mein Buch ist noch vor der Corona-Krise erschienen. Schon vor dieser Krise gab es Anlass zur Warnung vor Erosionen der Rechtsstaatlichkeit, als ein Beispiel ist in dem Buch unter anderem die Asyl- und Migrationspolitik genannt. Die im Buch erhobene Forderung lautet: Die herausragenden Wertentscheidungen unserer Verfassung im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, wozu auch die uneingeschränkte Herrschaft und Durchsetzung von Recht und Gesetz gehören, müssen einerseits in der operativen Politik und von ihr wieder stärker beachtet und effizienter umgesetzt werden, andererseits sind auch die Menschen in diesem Lande wieder für eine größere Wertschätzung dieser Fundamente unseres Staats- und Gemeinschaftslebens zu gewinnen. Letzteres wird aber ohne Ersteres niemals gelingen.

Das Gespräch führte Stefan Groß-Lobkowicz

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jürgen Papier ist einer der renommiertesten Staatsrechtswissenschaftler Deutschlands. Von April 2002 bis zu seinem Ausscheiden am 16. März 2010 war er Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Dieser innovative Hund rettet den Ruf Amerikas als Innovationsschmiede

Stefan Groß-Lobkowicz13.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

Rassenunruhen in Amerika, Donald Trump ist angeschlagener denn je, das Coronavirus wütet und infiziert täglich mehr als 60.000 Menschen. Das gute alte Amerika hatte bessere Tage erlebt. Doch eine Innovation, der neue Roboterhund Spot, könnte das angeschlagene Image des Landes zumindest bei den Jugendlichen weltweit aufbessern.

Amerika kommt nicht zur Ruhe. Die Zahl der mit dem tödlichen Coronavirus-Infizierten wächst, die Zahl der Toten steigt exponentiell an. Der amerikanische Präsident Donald Trump verliert die Wähler scharenweise an den demokratischen Herausforderer Joe Biden. Angeschlagener denn je geht der schlechte Corona-Krisenmanager in den Wahlkampf und muss politisch gar eine Niederlage fürchten. Seit den Rassenunruhen und der „Black Lives Matter“-Bewegung ist die USA im Dauerstressmodus. Gewalt, Rassismus, Mord prägen den Alltag und ein neuer Kulturkampf samt Bilderstürmerei ist entbrannt. Gibt es denn gar nichts Gutes mehr von der Supermacht zu berichten? Doch! Spot, der Robo-Hund aus dem Haus Boston Dynamics ist der neue Superstar der Robotik. Er verkörpert wieder das alte Amerika, das Land der Innovationen, Superlative und unbegrenzten Möglichkeiten.

Der Robo-Hund von Bosten Dynamics rockt Amerika an die Spitze

Für die einen ist er grusilig-bizarr, für die anderen verkörpert er die Zukunft schlechthin. Schon vor einigen Jahren hatte Boston Dynamics seinen Roboterhund „Spot“ vorgestellt. Damals stand der elektronische Vierfüßler noch buchstäblich tapsend in den Kinderschuhen. Doch Spot ist erwachsen geworden und nun sogar käuflich erwerbbar.

Mit Spot ist der Firma Boston Dynamics ein Clou gelungen, das Unternehmen kann sich vor globaler Berühmtheit kam retten. Was vor 20 Jahren noch wie eine wilde Träumerei aus Hollywood anmutete, ist Realität geworden. Der vierbeinige Lastenträger, der geländegängige Robo-Hund ist so etwas wie der Arnold Schwarzenegger der Technik. Nichts scheint Spot unmöglich. Hindernisse werden sportlich und agil überwunden, strahlender Sieger dabei der Hund ohne Fell – und das mit Power ohne Ende.

Sony Aibo ist ein technologischer Einzeller

Mit Spot tritt Boston Dynamics in die Fußspuren von Sony – doch auf qualitativ höherem Niveau. Hatte der japanische Elektronik-Konzern 1999 mit der ersten Aibo-Serie einen Unterhaltungsroboter, der immerhin 150,000 Mal verkauft wurde, als Spielzeug entwickelt und damit Pionierarbeit bei der Einführung von Robotern in Haushalten geleistet, kann Spot deutlich mehr. Selbst Sonys Nachfolgemodell  Qrio, ein 58 Zentimeter großer und sieben Kilogramm schwerer, humanoider Roboter, wirkt gegenüber Spot wie ein technologischer Einzeller.

Die Ambitionen im Unternehmen um Gründer Marc Raibert sind hoch. Die Firma, einst eine Ausgründung aus dem legendären Massachusetts Institute of Technology (MIT), gehört heute zum japanischen Softwarekonzern „Softbank“ und will tausende Spots in den nächsten Jahren international auf den Markt bringen. Der Hund der Zukunft kommt damit nicht mehr vom Züchter, sondern vom Fließband.

Die Karriere des Superhundes

Begonnen hatte alles 2015 mit dem „SpotMini“. Mit einem Gewicht von 73 Kilogramm und einer Körperhöhe von 84 cm konnte der Robohund immerhin eine Geschwindigkeit von 5,8 km/h erreichen. Doch fünf Jahre später ist aus „SpotMini“ einfach Spot geworden. Der neue mit Lithium-Ionen-Akku angetriebene hundeähnliche Laufroboter gilt schon heute als Meilenstein der Robotik. Und Spot ist quasi ein Alleskönner: er kann Treppensteigen, hat eine 360-Grad Kamera, einen Greifarm, leise Motoren und Sensoren, eine garantierte Akkulaufzeit von 90 Minuten und eine Zuladekapazität von 14 Kilogramm Ausrüstung. All das sind überzeugende Argumente für einen Elektrohund, der seit Jahren weltweit immer mehr Fans begeistert. Seine viralen Auftritte im Internet haben mittlerweile Kultstatus und ein Millionenpublikum. Die Klicks steigen, je mehr Boston Dynamics den Vierbeiner elektronisch aufrüstet.

Spot wird per Fernsteuerung gesteuert – und der Hund ohne Kopf kann noch mehr. Dank eines Moduls für eine 3D-Kamera vermag er selbständig 3D-Karten erstellen und robbt sich so unaufhaltbar durch unwegsames Gelände und auf glatten Oberflächen unentwegt, fast geräuschlos, vorwärts. Agilität und Stabilität zeichnen die Maschine, die auch als Zughund Verwendung findet, aus. Spot scheint wie sein tierischer Kollege gerade seine Freude darin zu finden, wenn er auf unebenem Terrain agiert, seinen Tritt eigenständig balanciert und sich selbst wieder aufstellt.

Praxistests erfolgreich bestanden

Der gelb lackierte Vierbeiner, der auf dünnen Metallbeinen stakst, ist 1,10 Meter lang und damit ziemlich kompakt. Und seine ersten Praxistests hat Spot mittlerweile bestanden. Wie einst die legendäre reale Hündin „Lassie“ treuer Begleiterin des Menschen war, hütet der Vierfüßler eigenständig Schafherden in Neuseeland, warnt in Zeiten der Coronakrise Passanten in Singapur den Sicherheitsabstand einzuhalten. In einem Video, das von Channel News Asia auf YouTube gepostet wurde, appelliert Spot sogar per Lautsprecher an die Parkbesucher: „Lasst uns Singapur gesund erhalten. Bitte stellen Sie sich zu Ihrer eigenen Sicherheit und der Ihrer Mitmenschen mindestens einen Meter voneinander entfernt auf. Danke.“ Im Bostoner Krankenhaus Brigham and Women’s kam „Spot“ bei Corona-Behandlung zum Einsatz. Ein Sechstel des Personals war am Virus erkrankt. Und ausgerechnet in der Ausnahmesituation, inmitten von Kontaktverbot und Abstandswahrung, schlug die Stunde für Spot. Mit einem Tablet ausgestattet, patrouillierte er in abgesperrten Umgebungen und Diagnosezelten zwischen den Ärzten und den Corona-Infizierten. Fiebermessen und Patientenbetreuung – für den Roboterhund alles nur eine Frage der Zeit.

Retter in Notsituationen

Auf Baustellen ist Spot mittlerweile ein gern gesehener Gast. Er organisiert die Logistik beim Warentransport und dient der Bauüberwachung. Der Polizei öffnet er mit seinem optionalen Rückenarm Türen und die Staatspolizei von Massachusetts setzte ihn als Teil des Bombenkommandos ein. Gerade in eingeschränkten Umgebungen, wo selbst Drohnen nicht mehr interagieren können, kommt Spot zum Einsatz. Kein Wunder, dass sich nicht nur das Militär für den Robohund interessiert, könnte er doch bei gefährlichen Situationen wie Nuklearkatastrophen den Menschen ersetzen und Leben retten. Die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), die Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, die bislang einer der wichtigsten Kunden von Boston Dynamics war, setzte den Humanoiden beim Roboter-Wettbewerb Darpa Robotics Challenge ein.

Der Alleskönner kostet fast 100.000 Dollar

Spot, so heißt es in einer Pressemitteilung des Unternehmens, „ist darauf ausgelegt, dorthin zu gehen, wohin andere Roboter nicht gehen können“. Doch der Alleskönner hat einen stolzen Preis. 74,500 Dollar soll der Superhund kosten. Hinzu kommt reichhaltig Zubehör, von der Extrabatterie bis zum Radar oder einer Aufklärungseinheit samt Spezialkamera mit Zoom-Funktion für 29.750 Dollar. Weit über 100.000 Dollar müssen die Käufer auf den Tisch legen, um sicherlich einen der innovativsten Techno-Hunde zu besitzen.

Damit ist der Robohund einer der teuersten und quasi der Rolls Royce der Robotik. Nur die Tibet-Dogge, eine der ältesten Hunderassen der Welt, kostet mehr. Für den „Großen Löwenkönig“ hatte der Besitzer erst 1,5 Millionen Euro hingeblättert.

Für klassische Hundebesitzer, die sich künftig das Gassigehen und teure Tierarztbesuche ersparen wollen, wäre Spot sicherlich eine denkbare Alternative, selbst wenn Boston Dynamics vorerst nicht an den kommerziellen Verkauf an Privatpersonen denkt. Wem die Wartezeit dennoch zu lang ist, kann sich inzwischen einen Pudel kaufen, von dessen Treue, Klugheit und Empathie schon der Philosoph Arthur Schopenhauer sich tief beeindruckt zeigte.

 

Merkels geheimer Außenminister heißt nicht Heiko Maas

Stefan Groß-Lobkowicz9.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Am 1. Juli 2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Immer wenn Europa in Gefahr steht, rückt die deutsche Kanzlerin in den Mittelpunkt und mit ihr ein Mann, den nur wenige kennen. Aber wer ist Angela Merkels „Mister No“?

Dieser Mann ist Merkels Geheimwaffe. Nein, es handelt sich nicht um 007 aus den legendären James Bond-Filmen. Geschüttelt oder gerührt, für Uwe Corsepius zählen nur Fakten, Verschwendung und Großmannssucht liegen dem Ideengeber nicht. Merkels „Mister No“, den Insider seit langem für den insgeheimen deutschen Außenminister halten, ist eher der Mann der leisen Töne.

Der Netzwerker Europas

Der gebürtige Berliner Corsepius ist der wichtigste Netzwerker Europas, er spinnt seine Fäden in die entlegensten Winkel des Kontinents und gilt in Insiderkreisen als einflussreicher in europäischen Angelegenheiten als der deutsche Außenminister Heiko Maas. Maas ist das Gesicht Deutschlands, Corsepius, der im Unterschied zum smarten Außenminister sowohl Presse als auch Öffentlichkeit meidet, der eigentliche Macher. Corsepius, der hagere, schlanke Mann, der mit seinen 59 Jahren immer noch jugendlich wirkt, verordnet sich in die zweite Reihe, begreift sich selbst nicht so sehr als Visionär, sondern eben als Stratege, der im Hintergrund die berühmten Fäden der Macht bedächtig-feinsinnig mit preußischer Disziplin und Akkuratesse zusammenfügt. Der Mann, dem Merkel vertraut und der seine Karriere schon unter der Ägide von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl und später unter SPD-Generalissimus Gerhard Schröder in seiner Funktion als EU-Berater im Bundeskanzleramt ausübte, ist so etwas wie das analytische Gehirn. Als tiefgreifender Analyst hatte er schon Schröder begeistert, er brillierte einst mit einer scharfen EU-Analyse zum Finanzhaushalt.

Merkels Vertrauter

Corsepius gilt als sparsamer Fuchs, als Fels in der Brandung europäischer Sparpolitik. Seit 2005 und verstärkt seit 2009 hat er die Kanzlerin samt ihrer Europapolitik als Sherpa immer wieder ins friedvolle Tal geführt, nachdem die CDU-Politikerin mit Hilfe des fast 60-Jährigen die Gipfelstürme der europäischen Gebirgshöhen von den Pyrenäen bis in die Karpaten, von den deutschen Alpen bis über die Abruzzen in die Apenninen hinein glorreich ausgefochten hat. Doch in der Stunde, wo die Kanzlerin ihre zweite Ratspräsidentschaft in ihrer langen Amtszeit, sowohl als Friedensfürstin Europas, als Vermittlerin, aber auch als ehemals sparsame Regentin, antritt, sind die Fähigkeiten von Corsepius mehr denn je gefragt. Für die ehemalige CDU-Chefin, selbst eine ausgebildete Wissenschaftlerin, die analytische Fähigkeiten in ihrem Team schätzt, ist der nüchtern-analysierende Ökonom die ideale Ergänzung. „Er hat Merkels volles Vertrauen und Zuversicht.“

 Europas Insider kennen ihn

In Europa ist Merkels Superwaffe und Mister Undercover kein unbeschriebenes Blatt. Corsepius ist gefürchtet wie beliebt zugleich. Selbst wenn er in den Maschinenräumen der Macht, die politischen Deals auch mal über den einstigen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy einfädelte, maßgeblich den Lissabon Vertrag federführend entwarf und begleitete und für die Berliner Erklärung der Bundeskanzlerin sich verantwortlich zeigte, in Sachen Europa ist er ein Allrounder, der tiefgreifende Allianzen über die gekrönten politischen Häupter hinwegschmieden kann.

Kritik aus Brüssel kann er ab

Corsepius ist geländegängig. Das wissen auch die Eurokraten in den schillernden Hallen von Brüssel. Und in den Machtzentralen der Hauptstädte des europäischen Kontinents erweckt die bloße Nennung seines Namens eine Kombination aus Angst, Wut und Bewunderung. Corsepius hat sich seinen Namen verdient, so liebenswürdig er einerseits erscheint, so vermittelnd, geht er doch andererseits knallhart auf Konfrontation. Seine Arbeit als Generalsekretär des Rates der Europäischen Union, ein Amt, das er ab 2009 bekleidete und damit zugleich die Nachfolge des Franzosen Pierre de Boissieu antrat, brachte ihm zumindest in den deutschen Leitmedien den Ruf ein, schroff zu agieren. „Der Spiegel“ schrieb damals: er werde in Brüssel kritisch gesehen, da er „wenig Gespür für die Interessen und Bedürfnisse der anderen“ habe.  Pures Misstrauen schlug ihm entgegen, weil er rein biographisch nicht nach Europa passe, kommen doch die meisten deutschen Europaspezialisten aus dem Außenministerium. „Er ist kein eingefärbter Europäer“, so ein langjähriger deutscher EU-Beamter.

Gegen Anfeindungen im Getriebe der Macht ist der am Kieler Institut für Weltwirtschaft promovierte Betriebswirtschaftler, spätere Mitarbeiter beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Leiter der Europaabteilung im Bundeskanzleramt immun. Europas mächtigster Bürokrat, der in seiner Brüsseler Zeit einen Stab von 3000 Beamten hütete und dort leise als Sherpa den internen europäischen Betrieb organisierte, arbeitet heute von einem spärlich möblierten mittelgroßen Büro im zweiten Stock eines Gebäudes mit Blick auf einen Berliner Bahnhof aus.

Was machte Corsepius zu „Mister No“?

Schulden mag er nicht, dass mussten die Griechen in der Anfangsphase der Schuldenkrise der Eurozone bitterlich erfahren. Athens Versuche, Berlin davon zu überzeugen, mehr von der Last der Rettung der in der Krise gefangenen Länder zu tragen, stieß auf ein erbittertes „No“. Auch den ambitionierten, föderalistischen Phantasien, die der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner berühmten „Sorbonne-Rede“ im Jahr 2017 vortrug, fanden im bescheidenen Büro des Betriebswirtes keinen Widerhall. Dr. „No“ ist kein Europäer mit rosaroter Brille, der alles goutiert, was in der Schaltzentrale der Macht in Brüssel beschlossen wird.

Das ist ein Grund, warum Corsepius oft den Zorn der Kollegen in Belgien und den nationalen Hauptstädten auf sich zieht. Für sie ist der starke Deutsche ein Bollwerk, der ihre Blütenträume einer allesfinanzierenden EU immer wieder bitterlich enttäuscht. Ganz gleich, ob es um die Einzelheiten des EU-Haushalts oder die Erweiterung der EU geht, Corsepius hat den Ruf, kaltes Wasser auf die oft schäumende Tagesordnung Brüssels zu gießen. Und was Dr. No auszeichnet, ist eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber der Kommission und den Versuchen der dortigen Beamten, die Macht der Exekutive zu stärken. Selbst gegen die rechte Hand des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, Martin Selmayr, konnte Merkels Wunderwaffe sein Gesicht wahren. Ihm geht es um Deutschland, betont er immer wieder. Daraus einen Nationalismus abzuleiten, wie ihm manche EU-Minister unterstellen, geht fehl. Corsepius Vision von Europa geht nur mit einem starken Deutschland – dieses Diktum hält er aufrecht. Geht es Deutschland gut, so profitiert Europa.

„Mister No“ und seine schwere Aufgabe während der zweiten Ratspräsidentschaft

Der Ministerialdirektor und enge Merkel-Vertraute, bekommt mit dem Beginn der EU-Ratspräsidentschaft die höchst schwere Aufgabe, oder im Bond-Jargon, den härtesten Auftrag seiner Amtszeit: Nicht weniger kommt auf den versierten Strategen und Chief Europe-Berater zu, als die EU dazu zu bewegen, „Ja“ zu den gemeinsamen Schulden zu sagen. In jüngster Zeit stand er an der Spitze von Deutschlands Vorstoß, zusammen mit Frankreich einen schuldenfinanzierten Rückzahlungsfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro einzurichten, um Ländern zu helfen, die mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen haben.

Während der deutschen Ratspräsidentschaft wird es daher zu einem großen Teil an Corsepius fallen, einen Kompromiss mit den Skeptikern dieses Plans, den so genannten Sparsamen Vier, auszuhandeln. Die Niederlande, Dänemark, Österreich und Schweden lehnen es ab, die Hilfe als Zuschüsse zu strukturieren, die nicht zurückgezahlt werden müssen und stattdessen Kredite zu forcieren. Eine weitere Aufgabe für „Mister No“ wird es sein, die Voraussetzungen für eine Einigung über den Siebenjahreshaushalt der EU zu schaffen. Aber auch China muss wiedergewonnen, der Brexit reguliert, der Klimawandel und die digitale Technologie weiter vorangetrieben werden. Kurzum: Corsepius fällt es zu, Europa vor dem Zerfall zu bewahren – und die Kanzlerin kann sich glücklich schätzen, den nüchternen Berliner an ihrer Seite zu wissen. Merkel selbst hatte die rotierende Ratspräsidentschaft als die „größte Herausforderung“ in der Geschichte des EU bezeichnet. Der Mann, den manche Merkels Euro-Fighter nennen und der in seiner Jugend ein leidenschaftlicher Tennisspieler war, muss das Match jetzt siegreich beenden. Das geht aber nur mit Sportsgeist – und möglicherweise nur über ein schwer erkämpften 5-Satz-Sieg.

Und selbst wenn die einst sparsame Kanzlerin in Coronazeiten die Finanzspritze wie eine Superfeuerwehr öffnet, Corsepius wird wissen, wo er noch einsparen kann. Dass dies schwieriger denn je ist, macht die Aufgabe von „Mister No“ nicht einfacher – gerade in Zeiten, wo Europa wieder einmal mehr zu zerbröckeln beginnt

 

Hölderlin, Hegel und Beethoven – Die Popstars der Freiheit feiern 250. Geburtstag

Stefan Groß-Lobkowicz1.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

2020 ist das Jahr der großen Deutschen. Die Genies Hölderlin, Hegel und Beethoven feiern 250. Geburtstag. Der Geist der Freiheit wehte durch ihre Dichtungen, Philosophien und wurde Musik. Die Freiheit floss buchstäblich durch die Adern aller drei und in der Französischen Revolution sahen sie einen Aufbruch in eine neue Welt, ein Göttergeschenk.

Das Jahr 2020 ist so etwas wie der Rock’n’ Roll der Geistesgeschichte – der deutschen insbesondere. Denn, wenn es so etwas wie eine intellektuelle Achsenzeit gab, von der Karl Jaspers einst mit Blick auf die Entstehung der großen Denkgebäude in der Zeitspanne von 800 bis 200 vor Christus sprach, dann war das Jahr 1770 eine Renaissance einer geistigen Grundlegung der gegenwärtigen Menschheit aus dem Geist der Aufklärung heraus. Immanuel Kant und Friedrich Schiller hatten sie entzündet, Ludwig van Beethoven, Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel zu je eigenständiger Wirkungshöhe entfaltet. Ob sich in der Musik Beethovens die befruchtenden Ideen der europäischen Aufklärung in das musikalische Freiheitsideal transformierten, ob der moderne Grieche Friedrich Hölderlin die Welt mit seinen Hymnen wach geküsst hatte oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel den absoluten Weltgeist in die Endlichkeit entließ, alle drei haben Geistesgeschichte geschrieben, die Welt verändert. Sie waren die Matadore ihrer Zeit und ihr geistiges Erbe ein Schatz, der in den folgenden Jahrhunderten immer wieder neu gedeutet wurde, aber nie an Glanz verloren hat. Vollendungsgestalten der Freiheit waren alle drei. Die Rebellion gegen die Tyrannei, die Unterdrückung und die Versklavung der Seele durch das Reich der Despotie ausdrücklich erklärte Kampfzone. Die Französische Revolution verklärten sie zur Geburtsstunde eines neu erwachten Selbstbewusstseins, die nicht nur die absolute Monarchie auf den Scheiterhaufen warf und die Freiheit in die Galeeren verbannte, sondern das revolutionäre Frankreich wurde als Altar einer neuen Freiheit gefeiert, das nun den neuen Gott – samt seinen Idealen der Brüderlichkeit und Gleichheit – an die Stelle der alten Metaphysik treten ließ.

Friedrich Hölderlin

Friedrich Hölderlin erblickte vor 250 Jahren am 20. März in Lauffen am Neckar das Licht der Welt. Von Selbstermächtigung einerseits, von tiefen Selbstzweifeln andererseits angetrieben, war Hölderlin ein Temperament, das zwischen Euphorie und tiefer Leidseligkeit nebst Weltanklage litt und schwankte. Eine fast typische romantische Existenz könnte man meinen, wenn er im Augenblick Glückseligkeit atmete und auch dann, wenn er in den Wirren der inneren Existenz zum Philosophieren neigte. Doch Romantiker war Hölderlin nie, Kunst für ihn nie bloßes „Ereignis“, Happening oder „Universalpoesie“.

Es war ein großartiges Jahrhundert, in das die drei Denker, Dichter und Musiker hineingeboren wurden– durchaus ebenbürtig der Antike, der Renaissance und dem Mittelalter. Lessing hatte für mehr Toleranz unter den Religionen geworben, Immanuel Kant die Fackel der Aufklärung von David Hume und John Locke endgültig entzündet und Johann Gottlieb Fichte das absolute Ich zum Ausgangspunkt aller Philosophie gemacht. Der Königsberger Kant war Markstein, Quelle und Überbietungsanspruch zugleich, denn mit seinem wohlbekannten „Ding an sich“, der immanenten Unerkennbarkeit der Welt oder Gottes wollte man sich nicht zufrieden geben. Kant und Fichte galt es gleichermaßen zu überbieten – und dazu hatten sich die Tübinger Jugendfreunde Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel eingeschworen. Ihre gemeinsame Schrift war Programmansage. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist nichts anderes als der Entwurf kantischer Überbietung. Eine „unsichtbare Kirche“ wollten sie gründen, eine Kirche der Liebe gegen die kategorische Macht des Imperativs der Pflicht stellen. Und über allem sollte die Fahne der Freiheit wehen. Eine Revolution der Denkungsart sollte es sein – und Hölderlin schickte sich an, dieses Projekt eigenständig zu verwirklichen.

Die Idee der Humanität

Hölderlin, der Dichter der Schwaben, der wie Friedrich Nietzsche erst posthum Weltruf genießen sollte, hatte es nicht leicht mit sich und der Welt, an der er litt, weil sie eben nicht so vollkommen wie die gelobte Antike war, weil sie so sehr im Gewöhnlichen und Unmenschlichen, in Knechtesgeist und Unfreiheit siedelte und so voller Ungerechtigkeiten und fern der unendlichen Idee des Humanums war. Nie sollte er glücklich sein durch Liebe in dieser Welt der „Götterferne“. Der Dualismus der Welt machte ihn krank, trieb ihn zu Spinozas Pantheismus und Friedrich Schillers großartiger sittlicher Ästhetik. Der revolutionäre Denker des Sturm und Dranges, der feinsinnige Marbacher Dichter, Geschichtsphilosoph und der Verfasser der Erziehungsbriefe, dem Ästhetik zur Bürgerpflicht und eine Ästhetisierung der Gesellschaft als Ideal vorschwebte, ihm war Hölderlin innig verbunden.

Schiller, der Hölderlin oft „das ist mein liebster Schwabe“ nannte, galt als Idol der Freiheit im pietistischen Schwaben und stellte zugleich den Gegenentwurf zum absoluten Monarchismus des württembergischen Regenten dar. Hölderlin wird ihm hier folgen. Freiheit als spontaner Akt des Schöpferischen wird für den Dichter aber eben nicht philosophisch erdacht, sondern poetisch vollzogen, denn es bleibt die Poesie, die die Wirklichkeit stiftet. Poesie, und so will sie Hölderlin dichten, ist nicht Welt abbildend, sondern Welt erschaffend. Und was der Philosophie scheinbar nicht gelingt, vermag wie im „Hyperion“ die Poesie, denn sie allein kann die Trennung des Daseins überwinden und die Seynsverbundenheit erreichen. Oder anders formuliert: Das Seyn, das Hölderlin meint, ist das Reich der Schönheit und im künstlerischen Schaffen vereinigt sich Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Durch dieses freie Spiel der Kräfte im Menschen eröffnet sich die Möglichkeit der Schönheit und der Künstler überwindet die Kluft zwischen „Urtheil“ und „Seyn“. Nun erst erfährt er sich in inniger Seinsverbundenheit als Akteur, der die Wirklichkeit gestaltet, der „tätig“ die Welt aus Freiheit verändert, wie es schon in Goethes „Faust“ hieß.

Liberaler Weltentwurf

Hölderlins Vision bleibt eine freie Menschheit, wo Individuum und Gesellschaft, wie einst bei Schiller, ineinander spielen, wo Kunst als Imperativ der Freiheit den neuen Menschen hervorbringt, der den Idealen der Französischen Revolution und des liberalen Weltentwurfs zugeneigt ist. Hölderlin wäre sicherlich heutzutage ein Verfechter des Grundgesetzes und der „Charta der Vereinten Nationen“. Ein Mensch, der auf freier Erde steht und die Schöpfung zu bewahren sucht. Er wäre ein Naturfreund, ein ökologischer Denker, der die Natur nicht auf ihre bloße Materialität verkürzt, sondern diese als eine unendliche Kraft verstehen würde, die nicht vernutzt und ausgebeutet werden darf, sondern die liebevoll zu umhegen und zu pflegen sei.

Damit wäre Hölderlin heute einerseits ein „Grüner“, aber andererseits auch ein Konservativer. Er will bewahren, ohne dogmatisch zu sein. Er sucht aus der Geschichte heraus in die Zukunft zu greifen, ohne die Menschheit besserwisserisch zu belehren und zu bevormunden. Er will den Menschen vielmehr dazu anstiften, das Bessere zu tun und moralisch-praktisch tätig zu werden.

Ludwig von Beethoven

Vor 250 Jahren, am 17. Dezember 1770, wurde er in Bonn geboren, das Genie Ludwig van Beethoven. Und er war der Revolutionär in Geist und Musik, Sprengstoff pur, emotional wie ein Vulkan, ein Übermensch, der für eine neue Epoche der Musik steht und Mozarts fulminanter Klassik seine Symphoniekantate entgegensetzen wird. Bekannte sich der Salzburger Wunderknabe Mozart bereits in, „Le nozze di Figaro“, im „Don Giovanni“ und in der „Der Zauberflöte“ zu den freiheitlich-bürgerlichen und antimonarchischen Idealen der Freimaurer, folgt ihm Beethoven dann, wenn er sich selbst als glühender Verfechter der französischen Revolutionsideen versteht, die er später in seiner 9. Sinfonie als sein höchstpersönliches Glaubensbekenntnis heroisch manifestiert.

Der Ruf nach Freiheit war explosiv

Was 1789 als Französische Revolution begann, hatte die Weltgeschichte gründlich verändert und die Fundamente der Moderne gezimmert. Es war der Sieg der Aufklärung über den Absolutismus. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pfiff es durch die Gassen und zündete dann in den Köpfen jene Feuer, die seither für die Freiheit brennen. Den deutschen Idealisten und Romantikern wurde Freiheit zum Losungswort von Dichtung und Kultur. Für den Bonner Ludwig von Beethoven aber wurde sie zur Passion. Schillers Ode „An die Freude“ ist es, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, die er aber erst 1824, drei Jahre vor seinem Tod, grandios und gigantisch in Musik vollenden kann.

Schillers Ode, das, „umschlungen Millionen“ im vierten Satz von Beethovens Neunter, war für den Bonner das Menschheitsideal. Und wie sich einst Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den 90ziger Jahren des 18. Jahrhunderts über den „Policeystaat“ beklagt, so litt auch Beethoven an der Bespitzelung, an der Restaurationsbemühungen hinter die Ideale der Französischen Revolution zurückzufallen und einem aufstrebenden Adel unter Metternich nach dem Wiener Kongress 1814/15. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, heißt es bekanntlich im Freiheitschor der einzigen Oper, dem „Fidelio“. Der Ruf nach Freiheit drohte in Deutschland zumindest wieder zu ersticken. Und wie einst Jean-Jacques Rousseau ein „Zurück zur Natur“ einklagen wird, so ist Beethovens Neunte ein Aufruf an das entmündigte Bürgertum, liberal, grenzenlos, für die Ewigkeit der Menschheit gedacht. Ein globaler Freiheitsruf par excellence, der mit Schiller an das Frankreich im Jahr 1789 erinnert und die Bande neu knüpfen will.

Beethoven war ein glühender Verfechter der französischen Ideen und Schiller lieferte den Stoff dazu. 1885 hatte der Dichter in Leipzig-Gohlis für seinen Freund Körner, wie Mozart ebenfalls Freimaurer und Aufklärer, die Strophen geschrieben, die Weltgeschichte machen sollten. Der Verve der Ode war geballte Kraft eines Genius, der sich die Freiheit geradezu aus der Seele schreibt. Dieser Wille zur Unbändigkeit, die bestehende Ordnung kritisch zu hinterfragen, diese Lebendigkeit und dieser Pathos der Freiheitsbeschwörung haben Beethoven, der seit 1802 zunehmend an Schwerhörigkeit litt und dies im berühmten „Heiligenstädter Testament“ verewigte, beflügelt, gegen das Räderwerk des Absolutismus zu opponieren. Diese Energie hat dem Krankheitsgeplagten immer wieder das Blut in den Adern auflodern lassen.

Georg Friedrich Wilhelm Hegel

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, ist das, was man heute einen geistigen Allrounder nennen würde. Der ehemalige Hauslehrer in Bern und Frankfurt, der spätere Professor in der Intellektuellenschmiede Jena, dem geistigen Athen der damaligen Zeit, der Chefredakteur der Bamberger Zeitung, späterer Rektor des Egidiusgymnasiums in Nürnberg und  Rektor der Berliner Universität, bleibt eine Enzyklopädie des Wissens. Er agiert interdisziplinär, weil es ihm doch um nichts Geringeres als um die Erklärung der Welt im Ganzen geht. Nicht unbescheiden ist er dabei. Hegel will nichts anderes als die Welt in ihrer Totalität, in ihrer Erscheinung, in ihrem Werden und Vergehen und letztendlich damit als einen dialektischen Prozess verstehen, an dessen Ende die Philosophie des Geistes als die vollendete Freiheit steht. Objektivität des Wissens heißt das bei ihm. Aber diese ist nicht bloß gesetzt, sie kämpft sich vielmehr durch die Geschichte hindurch. Sie ist nicht Produkt, sondern Resultat eines Denkprozesses, der immer im Werden ist, stets auf der Spur, sich weiter zu entfalten. Das bedeutet, Bestehendes in Frage zu stellen und stetig einen Neuanfang des Wissens zu wagen. Nichts anderes als eine Genese des Wissens schwebt ihm vor, ein beständiges Fortschreiten des Geistes in all seinen Erscheinungen, sei es in der Natur, Gesellschaft, Sittlichkeit, Recht und Staat. Inmitten dieses Prozesses steht die freiheitliche Selbstentfaltung des Geistes. Ihr obliegt es, sich aus Freiheit auch an das Notwendige und an die reale Welt zu binden, um zu noch größerer Freiheit zu gelangen. Diese Genese des Geistes, seine Dialektik, zeichnet er in seinen großen Werken, in der „Phänomenologie des Geistes“, in der „Logik“ und in seiner „Rechtsphilosophie“ nach.

Hegel war der wohl revolutionärste Geist im Stift

Wie sein Stubenkollege im Tübinger Stift, wie Hölderlin, war Hegel ein begeisterter Anhänger der Ereignisse des Jahres 1789. Mehr noch als Hölderlin wird Hegel die Ideale der Revolution buchstäblich in seine Philosophie einschreiben. Im Tübinger Stift wurde der gesellige, weniger sprachbegabte Denker und Prediger, aber umso mehr trinkfester Philosoph sogar als Konterrevolutionär geführt. Einen für die Tübinger Eliteuniversität liberalen Club hatte dieser junge Hegel federführend mit initiiert. Der pietistischen Obrigkeit war das alles ein Dorn im Auge. Hegel war der wohl revolutionärste Geist im Stift – und sein Kampf galt Despotismus, Pietismus und der Monarchie gleichermaßen. Ein Alleszertrümmer wollte er sein und doch wandte er sich spätestens 1794 vom Terror der Jakobiner ab und wird ein gemäßigter Giondist. „Die Antwort, die Robespierre auf Alles gab […] war: la mort ! Ihre Einförmigkeit ist höchst langweilig, aber sie paßt auf Alles.“ Den Jahrestag der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 hatte der Philosoph zeitlebens – gern in aller Öffentlichkeit – gefeiert. Was er an diesem Tag jedes Jahr schwungvoll begoss war der Umstand, dass sich „der Mensch“, wie es in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ heißt, in der Revolution erstmals „auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken [ge]stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut“ habe.

Neues Hegelbild

Man muss es eigentlich als Widerspruch verzeichnen, dass Hegel in der Rezeptionsgeschichte lange als der konservative Staatsphilosoph galt, der sogar den absolutistischen preußischen Staat legitimierte. Karl Popper hatte ihm als Vordenker des Totalitarismus im 20. Jahrhundert gegeißelt und ihm vorgeworfen, dass der Staat alles, das Individuum aber nichts sei. Dank der neuesten Hegelforschung, die sich maßgeblich einer großen Biographie des Jenaer Forschers Klaus Vieweg verdankt, ist das reaktionäre Hegelbild obsolet geworden. Hegels Staatsverständnis ist sogar insofern modern, weil Allgemeines und Besonders, Idee und Faktum sich in einer Einheit bündeln, wo der Staat die Freiheit des Einzelnen schützt. Der Staat als das Allgemeine muss die Freiheit aller besonderen Einzelnen repräsentieren und gewährleisten. „Der Staat bei Hegel, dies bleibt entscheidend, ist jeder Bürger selbst und zwar in seinem Status als Bürger, in zweiter Hinsicht ist der Staat eine Institution, die aber dazu dienen muss, die Freiheit und das Recht aller Einzelnen zu garantieren“, so der Jenaer Hegelexperte.

Es droht eine neue Pandemie namens „G4″

Stefan Groß-Lobkowicz1.07.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Während Covid-19 die Welt in Atem hält, kommen schlechte Nachrichten aus China. Chinesische Wissenschaftler haben eine neue Art von Schweinegrippe entdeckt, die das Potential hat, auch Menschen zu infizieren.

Grippeforscher schlagen Alarm. Ein neuer Influenza-Stamm mit Pandemie-Potential könnte in Coronazeiten für eine neue flobale Virusinfektion sorgen, die ihren Ursprung wiederum bei Tieren, diesmal bei Schweinen in Mastanlagen hat. Inmitten des Skandals um die Arbeitsbedingungen im Schlachtbetrieb des Tönnies-Unternehmens, des Lockdowns in Gütersloh und der Angst vor einer zweiten Coronawelle, ist es wieder ein zoonotischer Krankheitserreger, der vom Tier auf den Menschen springen kann. Diskutiert die Welt derzeit angespannt über die Infektionsquelle des Coronavirus, besteht nun eine weitere Gefahr, dass die Schweinegrippe von Mensch-zu-Mensch übertragen wird. Das Heikle daran ist, dass sich auch dieses Virus wieder an den Menschen anpasst und damit die Zahl der Infektionen schnell in die Höhe katapultieren könnte.

Neue Studie aus China

In einem am Montag veröffentlichten Artikel in der US-Fachzeitschrift PNAS haben Wissenschaftler mehrerer Universitäten in China ein neues Virus mit dem Namen G4 identifiziert. „Der G4-Genotyp der Schweinegrippe-Reassortanten besitzt inzwischen alle entscheidenden Merkmale, das es zu einem Kandidaten für eine Influenza-Pandemie macht“, schreibt eine Gruppe chinesischer Influenza-Forscher in den „PNAS“, einem der wichtigsten Wissenschaftsmagazine der Welt.

Das Schweinegrippevirus kommt wieder

Bei G4 handele es sich um eine Modifikation des H1N1-Virus, das im Jahr 2009 eine weltweite Pandemie auslöste. Die Forscher hatten für ihre Studie sieben Jahre lang, von 2011 bis 2018, 30.000 Nasenabstriche von Schweinen in Schlachthöfen in zehn chinesischen Provinzen abgenommen. Dabei gelang es ihnen 179 verschiedene Schweinegrippe-Viren zu isolieren, wobei es sich bei den meisten um eine neue Art handelt, die seit vier Jahren vermehrt bei Schweinen auftritt. Die Studie sei „eine Erinnerung daran, dass wir ständig dem Risiko des erneuten Auftretens zoonotischer Krankheitserreger ausgesetzt sind und dass Nutztiere, mit denen der Mensch mehr Kontakt hat als mit Wildtieren, als Quelle für wichtige Pandemieviren dienen können“, sagte James Wood, Leiter der Abteilung für Veterinärmedizin an der Universität Cambridge in Großbritannien. Und die Tests zeigen, dass selbst eine Immunität – bedingt durch eine saisonale Grippe – keinen Schutz vor dem neuen G4-Virus bietet. Laut Studie hatte sich mittlerweile ein Zehntel der Schweinehalter infiziert. Auch 4,4 Prozent der Bevölkerung seien dem Virus ausgesetzt gewesen. G4 gilt bereits jetzt als hochinfektiös wie die Forscher anhand von Experimenten mit Frettchen herausgefunden haben. Die neue Schweinegrippe verursacht sogar schwerwiegendere Symptome als andere Viren. Der Virustyp ist infektiöser. Und das Ansteckungspotential für den  Menschen ist größer. Bei Tierversuchen mit Frettchen wurde deutlich, dass sich G4 durch den direkten menschlichen Kontakt und durch Tröpfcheninfektion schneller als jede Virusvariante verbreitet. Und gerade in den Laboruntersuchungen zeigte sich, dass die G4-Variante unter den infizierten Tieren deutlich stärkere Grippesymptome hervorgerufen hatte. Der Grund hierfür, so die Studie, sei, dass eine der entscheidenden Bindungsstellen auf dem Virusoberflächenmolekül Hämagglutinin besser an die entsprechende Andockstelle auf Zellen des Menschen als an Schweine- oder Vogel-Rezeptoren angepasst ist. Und die schlechte Nachricht dabei für den Menschen war, dass sich bei den Zellkulturexperimenten in menschlichen Organismen die Lungenepithelzellen besonders gut vermehrten.

Gleichwohl es sich bislang nur um eine Handvoll Infizierter mit neuen, auffälligen Schweinegrippevarianten in China handelt, sehen die chinesischen Forscher bereits hier den Keim für eine gefährliche Epidemie, die ähnlich wie Sars-CoV-2 pandemische Ausmaße erlangen könnte.

Der G4-Influenza-Genotyp ist hochinfektiös

Der G4-Influenza-Genotyp gilt deshalb so hochinfektiös und ist schnell übertragbar, weil er eine genetische Neukombination ist, die aus dem H1N1-Influenzavirus hervorgegangen ist. Seit 2009 hatten sich H1N1-Virenvarianten sowohl in dernmenschlichen Populationen als auch in den riesigen Schweinepopulationen in der Volksrepublik ausgebreitet. 2020 hatte sich bei der Analyse von Schweinemastbetrieben in zehn chinesischen Provinzen und den anschließenden Laborexperimenten gezeigt, der G4-Genotyp veränderte bisherige Virustypen in den Mastschweinen relativ schnell. Alte Virustypen wurden innerhalb kurzer Zeit zugunsten von G4, das bereits im Jahr 2013 zum ersten Mal verifiziert wurde, praktisch völlig zurück gedrängt.

Genetische Mutationen machen die Grippe so gefährlich

Das neue  H1N1-Viruserbgut vom Genotyp G4 ist mit seinen acht Genen zudem durch weitere, fremde RNA-Sequenzen aus Vogel- und Menschenviren angereichert. Bei G4 handelt es sich damit um so genannte Reassortante, also neue Virenmischungen – und die Schweine sind der ideale Mischungsbehälter. Seit Jahren gilt das Schwein als notorischer Krankheitsüberträger für Influenzaviren. Schlechte hygienische Bedingungen und die zunehmend expandierende Massentierhaltung beschleunigen die Ausbreitung des Virus nicht nur auf die Schweinepopulation, sondern auch auf den Menschen, Vögel und andere Nutztiere.

Immer wieder sind es die genetischen Mutationen, also die kleinen genetischen Sprünge, die die Viren so gefährlich machen. Derartige Mutationen gehören quasi zu jeder Virusvermehrung und lösen einen Drift der Virusmerkmale aus. Genau diese Driftwirkung verändert die genetische Struktur, dass auch Impfstoffe nicht mehr wirken. Bei der neuen Schweinegrippe, so die Studie, ist die Veränderung der Genfragmente besonders stark, die genetischen Sprünge besonders ausgeprägt und die Gefahr, dass in relativ kurzer Zeit neue Virenvarianten entstehen, die sowohl Genschnipsel von  Menschen, Schweinen und Vögeln in sich enthalten, besonders groß. Dieser Mix erhöht dann dramatisch die Gefahr für den Menschen. Der Grund dafür liegt darin, weil die je besonderen Eigenschaften unterschiedlicher Influenzaviren im schlimmsten Fall zusammengewürfelt werden. Damit kommt es dann – auch aktuell befürchteten – zur Verwandlung der Virusmerkmale. Der „Antigen-Shift“ wird beschleunigt und das Virus so genetisch-molekular verändert, dass die menschlichen Immunzellen und Anti-Grippe-Antikörper es nicht mehr neutralisieren können. Ähnliche Veränderungen des Virus brachte die Spanische Grippe 1918, die Asiengrippe 1957 und in den achtziger Jahren die Hongkong-Grippe auf den Plan, die für den Tod von Millionen von Menschen verantwortlich waren. Reassortanten mit Gen-Elementen der H1N1-Schweingerippe, Vogelgrippe und dem in menschlichen Populationen kursierenden „Triple“-Stamm hatten dänische Wissenschaftler bereits im Jahr 2017 in europäischen Schweinemastbetrieben gefunden.

Coronavirus mutiert nicht so schnell wie G4

Auch das Coronavirus verändert seine genetische Struktur, was die Suche nach einem geeigneten Impfstoff so schwierig macht. Variationen von Covid-19, die aus Europa importiert, derzeit wieder in China und in anderen asiatischen Ländern für neue exponentielle Zahlen verantwortlich gemacht werden, werden von Wissenschaftern genau als solche Reassortanten identifiziert. Doch das Coronavirus scheint derzeit seine genetische Struktur nicht so drastisch zu verändern wie die neue Schweinegrippe G4. Genau diese Mutationsgeschwindigkeit und Infektionen in der menschlichen Population sind es aber, die das chinesische Forscherteam als Worst Case ausmachen.

Möglichkeit einer neuen Pandemie denkbar

Während Covid-19 insbesondere ältere Menschen betrifft und die Todeszahlen in die Höhe treibt, stellt G4 eine Bedrohung für jüngere Menschen dar. Präzedenzfall ist die Altersgruppe der 18- bis 35-jährigen, die einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. So alarmierend der Befund derzeit ist, die derzeit im Labor ermittelte höhere Pathogenität und Virulenz durch den Genotyp G4 bestätigen sich bislang nicht landesweit. Die Sterbedaten und Krankheitsverläufe, die direkt mit der neuen Schweinegrippe in Verbindung gebracht werden, sind derzeit noch überschaubar. Dennoch sehen die chinesischen Wissenschaftler in dem PNAS-Papier keinen Grund dafür, die Gefahr zu verharmlosen und bleiben dabei: Die Möglichkeit einer  neuen Pandemie sei aktuell gegeben. Diese Warnung geschieht sicherlich auch vor dem Hintergrund schwerer Vorwürfe seitens Europa und der Trump-Administration, die im Falle der Coronapandemie Peking immer wieder den Vorwurf gemacht hatte, über Covid-19 nicht eingehend informiert zu haben, Infektionsdaten nicht rechtzeitig übermittelt und schon gar nicht transparent gemacht zu haben.

Was G4 besonders gefährlich macht, ist seine Anpassungsfähigkeit an den Menschen. Die neue Fähigkeit zu schnellen Modifikationen unterscheidet die neue Schweinegrippe deutlich von älteren Stämmen. Bisher ungeklärt ist nach wie vor, ob es auch eine Immunität gegenüber G 4 gibt, derart, dass der Mensch innerhalb der letzten Jahre eine Art Kreuzimmunität aus früheren Virenstämmen entwickelt hat, die ihn immun gegen die unterschiedlichen Reassortanten gemacht haben. Dass es solche Formen der Immunisierung gibt, davon ist das Wissenschaftlerteam überzeugt, dennoch sei dies im Fall von G4 relativ unwahrscheinlich. Während Jugendliche, die gegen die gängigen Virentypen geimpft wurden und die nicht auf die H1N1-Viren vom G4-Typ anschlugen, sind es wie bei Corona wiederum ältere und vorerkrankte Menschen, die den neuen Schweinegrippevirus fürchten müssen. Grippeimpfungen, die einen saisonalen Schutz gewähren, auch davon sind die Chinesen überzeugt, bieten keinen Schutz. Lediglich Personen, die in ihrer Kindheit 2009 Kontakt mit dem alten H1N1-Grippevirus hatten, seien besser geschützt.

Nicht nur Schweinezüchter sind betroffen

Was als eigentliche Gefahr gedeutet wird, ist der Umstand, dass bei empirischen Studien nicht nur die direkt betroffenen Schweinezüchter mit G4 durch einen direkten Kontakt mit den Nutz- und Fleischproduzenten infiziert sind, sondern Bevölkerungsgruppen, die keinen direkten Kontakt hatten und bereits im Blut den IgG-Antikörper tragen. Dies sei das eigentliche Problem.

Covid-19, saisonale Grippe und G4-Schweinevirus wäre ein Gau für die Welt

Sollten sich die Befürchtungen der chinesischen Wissenschaftler bestätigen, wären das ein neues Horrorszenario. Denn wenn im Herbst, saisonbedingt, die nächste Grippewelle auf die globale Welt zurollt und die befürchtete zweite Coronawelle hinzukommt und wieder an Aggressivität gewinnt, die Zahl der Infizierten und Toten steigt, könnte die neue Schweinegrippe die Infektionszahlen global drastisch nach oben katapultieren. Es wäre der „perfekte Sturm“, den Seuchenexperten zumindest als realistisch-mögliches Szenario für den kommenden Herbst und Winter zeichnen. Saisonale Grippe, Corona und G4 käme einem krankheitsbedingten Supergau gleich. Die ohnehin schon von der Coronaepidemie überlasteten Krankenhäuser weltweit, insbesondere in Italien, Frankreich, Brasilien und den USA, wären am Ende ihrer Kapazitäten. Schon in der akuten Phase der Coronapandemie fehlte es in Süddeutschland an Intensivbetten, Beatmungsgeräten und vor allen an klinischem Personal, das sich selbst hundertfach mit dem Coronavirus angesteckt hatte.

China will nicht den gleichen Fehler wie bei Corona begehen

Bis wann ein verlässlicher und medizinisch sicherer Impfstoff gegen Corona auf dem Markt ist, der auch tatsächlich alle klinischen Tests zweifelsfrei bestanden hat, steht derzeit noch in den Sternen. Mit ihrer neuen Studie zu einer möglichen, durch G4 ausgelösten, Pandemie gehen die chinesischen Virologen um Honglei Sun, die von Veterinärmedizinern aus Peking und dem Frühwarnzentrum der chinesischen Wissenschaftsakademie vorgenommen wurde, zumindest in eine Informationsoffensive. Sollten die Fallzahlen derzeit auch noch gering ausfallen, so ist es doch besser, im Unterschied zu den Desinformationen beim Coronaausbruch, dass die Forscher zumindest vor der Gefahr warnen. Keiner sollte später sagen, er hätte es nicht gewusst. So wollen die Wissenschaftler letztendlich ihre Studie interpretiert wissen, denn eins steht außer Frage: Seit 2013 hat sich G4 als neuer, für Mensch und Tier infektiöser Influenzavirus-A-Typ etabliert: G4 sollte man in einer vom Coronavirus sensibilisierten und störanfälligen Welt im Auge behalten.

Eric Schmidt: Den Chinesen kann man nicht trauen

Stefan Groß-Lobkowicz26.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Schon lange warnen Experten vor dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei. Immer wieder wird dem Unternehmen, das maßgeblich am neuen 5G-Ausbau weltweit seine Finger mit im Spiel hat, die Gefährdung der nationalen Sicherheit unterstellt. Ob MI6 oder amerikanische Geheimdienste, alle sind sich einig: Wir dürfen den Chinesen eine derart informelle Macht nicht überlassen. Nun hat auch der ehemalige Chef von Google und Ex-Verwaltungsratschef von „Alphabet“, Eric Schmidt, Bedenken geäußert.

Huawei ist Chinas Aushängeschild, wenn es um globale Kommunikation und die Sammelwut von Informationen von Milliarden Nutzern geht. Dass die Chinesen hier mittlerweile selbst in der Champions League spielen, beweisen die Unternehmenszahlen. So konnte der Megakonzern 2019 mit einem gigantischen Jahresumsatz von 109 Milliarden Euro aufwarten und übertraf mit einem reinen Nettogewinn von fast acht Milliarden Euro alle Analystenträume. Der im Jahr 1987 von Ren Zhengfei gegründete Telekommunikationsausrüster mit Sitz in Shenzhen hat mit 240 Millionen verkauften Smartphones 2019 Apple weit hinter sich gelassen und liegt im Rennen um die Absatzmärkte nunmehr nur noch hinter Samsung auf Platz 2.

China rüstet auf – nicht nur bei den Handys, sondern auch beim Ausbau der Mobilfunknetze. Doch Huawei steht immer wieder in der Kritik der Intransparenz. Vorwürfe, China will damit seine globale Macht auf dem Kommunikationssektor ausweiten, letztendlich die westliche Demokratie gleich mit ins Nirwana befördern und die Big Data für politische Zwecke instrumentalisieren, sind keineswegs neu.

Genau diese Sicherheitsbedenken hat Ex-Google-Chef Eric nun untermauert. Huawei spielt mit inakzeptablen Praktiken – und das könnte für jedes Land der Welt gefährlich werden. Schmidt, von April 2011 bis zum 10. August 2015 Executive Chairman von Google und selbst Informatiker, ist mittlerweile Vorsitzender des Defence Innovation Board des Pentagon und arbeitet damit für die US-Regierung. Gegründet wurde die Beratungsschmiede 2016 mit dem Ziel, dem Militär die Denke von Silicon Valley näher zu bringen. Schmidt wünscht sich eine noch modernere, technologisch-innovativere Einsatztruppe. Amerika kann seine strategisch-militärische Führungsrolle nur so behalten, ohne den Status der Supermacht zu verlieren und diese den Chinesen zu überlassen.

Huawei – Die Sammelkrake des Kommunismus

In seiner neuen Funktion als innovativer Sicherheitschef warnt Schmidt, selbst ein guter Chinakenner, nunmehr vor der drohenden Gefahr, die von Huawei auch für die westlichen Demokratien ausgehen könnte. Das chinesische Unternehmen kann überhaupt nicht, so der Vorwurf, autonom agieren. Alle Informationen, die Huawei als Datensammelkrake wie ein großer Schwamm aufsaugt, landen letztendlich auf dem Tisch der chinesischen Sicherheitsbehörden. „Es steht außer Frage, dass Informationen von Huawei-Routern letztendlich in Hände gelangt sind, die dem Staat zu gehören scheinen“.

Damit käme Peking eine Macht zu, die nicht nur gigantisch wäre, sondern vor der alle Länder dieser Welt berechtigte Angst haben müssten. Das China die Künstliche Intelligenz gerade für Spionagezwecke instrumentalisiert, ist genauso plausibel wie das kleine Einmaleins. „Die Chinesen sind in Schlüsselbereichen der Forschung und Innovation genauso gut und vielleicht sogar besser als der Westen“. Sie gelten als die besten Ideenverwerter und Kopierweltmeister, wenn es um den Raub geistigen Eigentums im gigantischen Ausmaß geht. Und diese Entwicklung wird sich dramatisch dynamisieren, so der Ex-Google-Chef, der die Innovationsfähigkeit der Asiaten lange unterschätzt hat. Mittlerweile ist er davon überzeugt, dass die Volksrepublik spätestens in fünf Jahren den Anschluss zu den Hightechindustrien endgültig vollzogen hat. Peking verfügt über Know-how, viel Geld und vor allem über ein gigantisches Meer an Arbeitskräften.

Kaum einer weiß es besser als Schmidt, dass die Zukunft der Wirtschaft an den digitalen Plattformen hängt. Hier wird mehr Geld als bei ehemals linearen Geschäftsmodellen verdient und die Plattformökonomie krempelt schon heute die globale Wirtschaft um. E-Commerce-Giganten wie Amazon oder Alibaba, die zu den größten Entwicklern und Nutznießern der Plattformökonomie zählen, sind die Gewinner.

Es steht nichts weniger als die westliche Demokratie auf dem Spiel

Beim gigantischen Aufstieg von Huawei schaut der Westen derzeit resigniert zu. Wenn die westliche Wertewelt aber Innovationstreiber sowohl bei der Künstlichen Intelligenz als auch auf dem Gebiet des Quantencomputings bleiben will, muss diese endlich aus ihrem Dornröschenschlaf aufwachen und Huawei Paroli bieten, so der Informatiker und Manager und US-Sicherheitsberater. Sie darf sich vom chinesischen Telekommunikationsanbieter keineswegs blindlings in die Ecke spielen lassen. „Es liegt im Interesse des Westens, dass jede Technologieplattform westliche Werte in sich trägt.“ Das ist nicht nur im Interesse der freiheitlichen Werte westlicher Zivilisationen, sondern davon hängt letztendlich das Überleben der liberal-ökonomischen Werteordnung ab. „Wir müssen unsere Kräfte bündeln, um im Wettbewerb bestehen zu können“. Gelingt China letztendlich der Durchmarsch, käme es genau zu dem Gau, den der Sicherheitsexperte als schlimmstes Szenario eines neuen digitalen Krieges und damit als größte Gefahr sieht, die den Westen herausfordert. Das Horrorszenario wäre die Entkoppelung der Technologiesektoren von China und den USA. „Wenn man diese globalen Plattformen einmal voneinander trennt, bekommt man sie nicht mehr zurück.“ Und die große Frage bleibt: „Operieren sie auf globalen Plattformen oder operieren sie auf ihren eigenen Plattformen? Je stärker die Plattformen voneinander getrennt sind, desto gefährlicher ist es.“ Wenn China den globalen Wettlauf gewinnt, wird es die Welt dominieren. Der Traum von dieser Weltherrschaft ist dann keine Zukunftsspekulation und Fiktion mehr, sondern dunkle Realität. Dann entscheidet China, „ob wir uns nun koppeln oder abkoppeln. Sie haben die Ressourcen, sie haben das Geld, sie haben die Technologie.“ Das schlimmste wäre, wenn sich das Internet in zwei Teile aufspalten würde.

Und das China im Kampf um die globale Weltherrschaft jedes Mittel einsetzen wird, davon ist Schmidt überzeugt. Die Chinesen benutzen Huawei schon jetzt als Spionageinstrument, denn alle seine Operationen seien eine Form der „Signalaufklärung“, vergleichbar mit den Aktivitäten des britischen Government Communications Headquarters und der amerikanischen NSA.

China aber weist alle Schuld zurück

Huawei hat wiederholt die Anschuldigungen der US-Regierung unterdessen zurückgewiesen. „Die Behauptungen von Eric Schmidt, seien einfach nicht wahr und werden, wie bei ähnlichen Behauptungen in der Vergangenheit, nicht durch Beweise untermauert“, so Victor Zhang, Huawei’s britischer Chef, gegenüber der BBC. Aber auch die Düsseldorfer Europazentrale des Konzerns kann die Ängste von Sicherheitsbedenken nicht ausräumen, weil das Procedere aus China immer dem gleichen Strickmuster folgt. Sobald Peking in die Defensive gerät, schlägt es mit Donnerkanonen zurück. Immer sind es die Chinesen, die sich unbegründet angegriffen fühlen, immer folgt ein Offensivschlag. Die Unschuldserklärungen von Seiten Huaweis, kein verlängerter Arm des chinesischen Staates zu sein und keine sensibeln Kundendaten an die Behörden weiterzugeben, bleiben Stereotype.

Huawei ist genauso intransparent wie das Wuhan-Labor

Auch bei der vieldiskutierten Frage, woher das Coronavirus stamme, ob aus dem Labor oder vom Wildtiermarkt in Wuhan, beteuert China immer, dass sich das Virus natürlich verbreitet habe. Vorwürfe, die sich unterdessen immer weiter verhärten, widersprechen zunehmend der Pekinger Unschuldstrategie und legen den Verdacht nahe, dass es sich tatsächlich um einen Unfall im Labor mit einer künstlich erzeugten Sars-Biowaffe handle. Wie bei den Spionagetätigkeiten durch Huawei also auch beim Coronavirus – China wäscht seine Hände buchstäblich in Unschuld. Vertrauen aufzubauen ist, hier schwer. Kontrolle, wie sie Schmidt fordert, ist auf alle Fälle notwendig und geboten.

Der digitale Kampf hat begonnen

Samuel P. Huntington sorgte mit seinem 1996 erschienenen Buch „The Clash of Civilizations“ (Kampf der Kulturen) weltweit für Schlagzeilen. Der amerikanische Politikwissenschaftler, der am John M. Olin Institute for Strategic Studies der Harvard-Universität in Cambridge lehrte, prognostizierte für das 21. Jahrhundert einen Kulturkampf zwischen dem Westen, China und dem Islam. Dieser Kulturkampf ist mittlerweile zu einem digitalen geworden, zum Kampf der Plattformbetreiber, zum Kampf um nationale Sicherheitsinteressen und Spionagehoheit, zum Kampf um gigantische Datenmengen, die letztendlich dem Macht und Einfluss verschaffen sollen, der sie besitzt. Damit hat Huntington Francis Fukuyamas und dessen prognostiziertes Ende der Geschichte, wie er es 1992 in „The End of History and the Last Man“ publizierte, wissenschaftlich widerlegt.

Glaubte Huntington im Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie daran, dass das Ende der Geschichte dazu führt, dass alle systemisch-weltpolitischen Widersprüche in einer letzten Synthese „aufgehoben“ werden und die Dialektik damit an ihr Ende gekommen sei, weil sich die liberale Demokratie gegen alle Staats- und Wirtschaftssysteme durchgesetzt habe, so hat ihn die Geschichte das Gegenteil bewiesen.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und des sozialistischen Ostblocks haben sich zwar innerhalb Europas die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft durchgesetzt, aber eben nicht in China, das den Sieg des Kommunismus gerade in der Überwindung des liberalen Kapitalismus und seiner freiheitlichen Rechtsordnung sieht. Doch den Hauptkampf um das „bessere“ System führt Peking unterdessen mit den Waffen der Künstlichen Intelligenz, auf dem Feld der Plattformökonomie und als die immer noch am schnellsten wachsende Weltwirtschaft.

Das Ende des klassischen Kalten Krieges hat einen neuen, den digitalen hervorgebracht, der nunmehr in altbewährter Dialektik um die Weltherrschaft kämpft. Will der Westen im Systemwettlauf nicht verlieren, muss er sich gewaltig anstrengen. So ist auch Eric Schmidts Kampfansage an Huwawei letztendlich zu verstehen.

  1. Im Übrigen: Schmidts Vorwürfe gegen China könnten im Umkehrschluss auch von den Chinesen gegen Amerika ggenauso geführt werden. Und ein führender chinesischer Diplomat oder Sicherheitsexperte wäre vielleicht gar nicht so im Unrecht, wenn er die USA beschuldigt, Spionage auf höchstem Niveau zu betreiben, um die Weltherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen. Der die bösen Buben wären dann Amerika und Eric Schmidt selbst, die mit ihren schweren Vorwürfen eine Propagandamaschinerie ins Rollen bringen, die die Chinesen entrüsten.

Deutschland unter Schock: Hunderte randalieren in Stuttgart

Stefan Groß-Lobkowicz21.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Hunderte von Partybesuchern randalierten in Stuttgart. Sie griffen die Polizei an und plünderten Geschäfte. Es war der erste Amoklauf diesen Ausmaßes in der Geschichte der Bundesrepublik, bürgerkriegsähnliche Szenen erschütterten die Landeshauptstadt.

Am Sonntag morgen stand die Bundesrepublik buchstäblich unter Schock. Eine Gewaltnacht „beispiellosen Ausmaßes“ hatte die Landeshauptstadt Stuttgart gerade hinter sich. Szenen von bisher ungekannter Agressivität hielten die Industrie-Metropole, den Schmelztiegel der deutschen Autoindustie, in Atem. Hunderte Partybesucher randalierten in der Nacht und griffen die Polizei vor Ort an. Schaufenster und Geschäfte wurden geplündert, die Innenstadt, die Innenstadt mit ihren noblen Geschäften und Boutiquen, sonst Magnet der Schönen und Reichen, glich einem Trümmerfeld. Stuttgarts bürgerliches Ambiente hat einen schweren Kratzer davon getragen, die schwäbische Gemütlichkeit zum Opfer rasender Gewalt.

Bei den Randalen, die man sonst nur von der Springerzentrale bei den berüchtigen Auseinandersetzungen der 68er Jahre kannte, wurden 24 Personen in polizeilichen Gewahrsam genommen. Die Hälfte von ihnen mit deutscher Staatsbürgerschaft, das andere Duzent mit Migrationshintergrund. Ob Kroaten oder Somalier – Stuttgart war Gewalthappening pur – medial auch noch in Szene gesetzt vom tobenden Mob, der die Ausschreitungen begleitend in den Sozialen Medien glorifizierend inszenierte. Grausame Bilanz des randalierenden Mobs: 19 Polizisten wurden verletzt.

Wie der Stuttgarter Polizeichef Frank Lutz in einem Interview am Sonntag betonte, habe ihn die Welle der Gewalt sprachlos gemacht. „Es waren unglaubliche Szenen. Das habe ich in meinen 46 Jahren Polizeidienst noch nie erlebt“.

Die Eskalationen begannen, nachdem die Polizei einen 17-jährigen Deutschen auf Drogen untersuchte. Kurz darauf schleuderte eine große Menge Steine und Flaschen auf die Beamten, die Scheiben der Einsatzwagen wurden eingeschlagen. Mindestens 400 bis 500 Menschen beteiligten sich am Kampf gegen Polizisten und Rettungskräfte. Vom Stuttgarter Schlossplatz zog der pöbelnde und aufheheitze Meute dann durch die Innenstadt plünderte zigfach Geschäfte in der Königstraße, der berühmten Einkaufsmeile Stadt. Ein Juweliergeschäft wurde vollständig ausgeraubt, ein Handyladen fast vollständig zerstört wie auf Twitter veröffentliche Videos zeigen. Insgesamt fielen bei den Randalen neun Geschäfte den Plünderungen zum Opfer, bei weiteren 14 wurden die Scheiben zerschlagen.

Bereits in der vergangenen Woche kam es in der Landeshauptstadt immer wieder zu Gewaltakten und Übergriffen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Die Polizei war gewarnt, Einsatzkräfte bereits angefordert. So waren in der Gewaltnacht bereits über 100 Einsatzkräfte in Alarmbereitschaft. Doch das Ausmaß der Gewalt überwältigte die Beamten, Verstärkung aus anderen Teilen der Stadt und des Landkreises zwingend geboten.

Wie konnte es dazu kommen?

Während des Lockdowns waren in Stuttgart wie in vielen anderen Orten der Bundesrepublik Diskotheken und Clubs geschlossen. Die seit Monaten von staatlicher Seite verordneten Kontaktbeschränkungen und Ausgehverbote sind sicherlich Grund dafür, dass die Lage unter jüngeren Menschen aufgeladen sei, so ein Polizist, der über das Ausmaß der Gewalt erschreckt war. Alkoholisierte Männer seien von „der Sucht getrieben worden, einen kleinen Film auf soziale Medien zu stellen, so ein anderer Kommentator.

Von bürgerkriegsähnliche Szenen sprach der SPD-Politiker Sascha Binder und Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann kommentierte: „Ich verurteile diesen brutalen Gewaltausbruch auf das Schärfste, diese Taten gegen Menschen und Dinge sind kriminelle Handlungen, die mit Nachdruck verfolgt und verurteilt werden müssen.“ Und CDU-Innenminister Thomas Strobl bezeichnete die Ausschreitungen als „beispiellos“. Er will nun „alle verfügbaren rechtsstaatlichen Mittel” nutzen, um gegen die Randalierer vorzugehen.

Eine Gewaltnacht in dieser Form hatte es in den letzten Jahren der Bundesrepublik nicht gegeben, weder in der aggressiven Bereitschaft, die Sicherheitskräfte zu attackieren noch in der Form wie fremdes Eigentum beschädigt wurde.

Unterdessen hat die Polizei ein politisches Motiv ausgeschlossen, die Randalierer kommen aus der „Partei- oder Veranstaltungsszene“.

Das Coronavirus ist von Menschen gemacht – Schwere Vorwürfe gegen Peking

Stefan Groß-Lobkowicz18.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Es ist das wohl derzeit am besten gehütete Staatsgeheimnis Chinas. Über die Virenschmiede, dem Wuhan-Labor, verliert die Volksrepublik kein Sterbenswort – zumindest wenn der Vorwurf im Raum steht, dass das Coronavirus aus dem Labor entstammt, dort möglicherweise gezüchtet und durch einen Unfall frei gekommen sei. Diesen schweren Vorwurf erhebt nun der ehemalige Chef des MI6, Sir Richard Dearlove.

Wenn es um Vorwürfe geht, dass das Coronavirus, das für die globale Pandemie verantwortlich ist, sein Ursprung im Labor hat, reagiert China besonders aggressiv. Peking hat eine rigide Informationssperre verhängt und selbst gegen eine kritische Berichterstattung aus Europa interveniert. Wer nur annähernd Corona mit dem Labor in Verbindung bringt, wird entweder mundtot gemacht oder verschwindet auf mysteriöse Weise. Keiner im Land wagt gegen den kommunistischen Staat und seine Propaganda zu rebellieren.

Innerhalb der letzten Monate wurde immer wieder darüber spekuliert, woher das tödliche Virus stammt, das Abermillionen Menschen weltweit infiziert und Hunderttausenden den Tod brachte. Der „Wildtiermarkt kann es ja wohl nicht sein“, titelte jüngst der Publizist und Verleger Wolfram Weimer auf „n-tv“.

Und das irgendetwas mit dem mittlerweile sagenumwobenen Labor nicht stimmt, lässt sich nicht mehr verleugnen. Der Verdacht, dass China etwas verheimlicht, wächst täglich – und je mehr die Chinesen unter Druck geraten, wächst umgekehrt das Schweigen aus der Volksrepublik. Doch bei der Jahrhundertpandemie geht es letztendlich auch um die Suche nach den Verantwortlichen, die die Welt global in eine bislang ungekannte Krise hineingestürzt haben. Auf diese Spurensuche begaben sich in den letzten Wochen englische Medien, die den ehemaligen Außenminister und derzeitigen EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier beschuldigten, das Wuhan-Labor mit Finanzspritzen bezuschusst und so indirekt beim Aufbau eines der gefährlichsten Biowaffenlabore geholfen zu haben.

Wer ist Sir Richard Dearlove?

Neue Vorwürfe kommen jetzt wiederum aus England. Doch es ist nicht die Tagespresse, die gegen das immer mehr unter Druck geratende China schießt. Diesmal ist es der langjährige Topagent der britischen Krone Sir Richard Dearlove. Dearlove ist in Sachen Sicherheit kein unbeschriebenes Blatt, er ist der wahrhafte Mister Bond und „007“ eine triste Schattenexistenz gegen Mister „C“. Dearlove, von 1999 bis 2004 Chef des britischen Geheimdienstes MI6 und nationaler Sicherheitsberater des Premierministers, begann seine Karriere mit 21 Jahren. Und seit dieser Zeit ist der Vorsitzende des Kuratoriums der „University of London“ so etwas wie das lebende konservative Gedächtnis der großen Krisen unserer Zeit.

„Geschüttelt, nicht gerührt“, so lässt sich die bewegte Lebensgeschichte Dearloves zusammenfassen. Der englische Patriot ist unverbiegbar, ein alter Krieger, der das Gespür für das hat, was der Fall ist. Der Geheimdienstchef war in alles eingeweiht, was dem guten alten Empire so gefährlich werden konnte: der Tod von Prinzessin Diana und die damit verbundenen Verschwörungstheorien, der Anschlag mit einer Panzergranate russischen Typs auf das Hauptquartier des MI6 in Vauxhall Cross, das Erstarken der Terrorbrigade Al-Qaida, die Anschläge vom 11. September in den USA und der darauf folgende Zweite Golfkrieg. Dearlove stand an den jeweiligen Fronten als kampferprobter Routinier in der ersten Reihe.

Der unbeirrbare Dearlove

Dearlove lies und lässt sich den Mund nicht verbieten. Immer wieder ging er in den letzten Jahren in die Offensive – und seine Adressaten waren allesamt überaus prominent, sei es Premierministerin Theresa May, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn oder das politische Berlin unter Kanzlerin Angela Merkel – samt seiner Willkommenskultur 2015. Schon 2016 warnte Dearlove vor einer geopolitischen Verschiebung, die die Massenmigration mit sich bringe und prophezeite den Aufstieg der Rechtspopulisten, wenn der ungebremste Flüchtlingsstrom weiter über Europa hereinbreche. Die schlüssigste Antwort Englands auf Brüssels Migrationspolitik sei letztendlich der Brexit gewesen, quasi die Notbremse gegen die geopolitische Veränderung europäischen Festlandes.

England first, dazu hat sich der Verteidiger des Königreiches und Geheimdienstchef immer bekannt. Und so konterkarierte er Theresa Mays Brexit-Deal und kritisierte diesen als Bedrohung der nationalen Sicherheit. Das Abkommen würde „die Kontrolle über Aspekte unserer nationalen Sicherheit in ausländische Hände legen“, so Dearloves Veto gegen die am Brexit scheiternde Regierungschefin. Schärfer noch attackierte er den ehemaligen Labour-Chef Jeremy Corbyn. Diesen sah er gar als personelle Verkörperung eines bevorstehenden Superkommunismus, der Krone und Freiheit gleichsam bedrohe. Mehr noch: Corbyn sei, wie es in einem spektakulären Artikel „Jeremy Corbyn and national security“ hieß, letztendlich ein Politiker, der das politische und wirtschaftliche Regierungsmodell der DDR bevorzugte. Wäre der Labour-Politiker an die Macht gekommen, hätten „lebenswichtige nationale Sicherheitsinteressen auf dem Spiel“ gestanden. Und so zeige Corbyns „radikale Vergangenheit“ die Wahrheit darüber, was für ein Politiker er war – „ein politischer Verwandter der Bande kommunistischer Schergen, die Ostdeutschland schufen“.

Einer der letzten Kämpfer des Kalten Krieges

Dearlove, der von 2004 bis 2015 Master of Pembroke College an der Universität Cambridge, also Kanzler einer der Eliteuniversitäten des Empire war, ist eines geblieben, ein unbeirrbarer Kämpfer gegen den sowjetischen Kommunismus, ein Antikommunist par excellence. Der Kalte Krieg war sein Kampfplatz und die Diktaturen des Ostblocks ein Gräuel. Systematische Massenverletzung der Menschenrechte hatte er der DDR immer wieder vorgeworfen und dafür plädiert, dass „diejenigen von uns, die alt genug sind, den Kalten Krieg aus erster Hand erlebt zu haben“, die Pflicht hätten, die jüngere Generation vor den Gefahren des Kommunismus zu warnen.

Downing Street Memo“ belastete George W. Bush

Der britische Geheimdienstdinosaurier, der den Kampfgeist seines Vaters in sich trägt, der 1948 Vizeolympiasieger im Rudern wurde, sorgte 2002 für Schlagzeilen. Das unter dem Namen „Downing Street Memo“ brisante Papier belastete den damaligen US-Präsidenten George W. Bush schwer. Bush hatte, so der Vorwurf des MI6-Chefs, Geheimdienstmaterial „frisiert“, um seinen Einmarsch im Irak zu rechtfertigen. Schon frühzeitig warnte so Mister „C“ vor einer Eskalation im Nahen Osten. Beim Feldzug gegen die „Achse des Bösen“ handele es sich um Bushs persönlichen Vergeltungskrieg gegen Saddam, den der „mit Gewalt stürzen und dies durch die Verbindung von Terrorismus und ABC-Waffen rechtfertigen“ wollte. Dass der Irak keine ABC-Waffen hatte, wurde später durch US-Truppen im Land bestätigt. Dennoch rechtfertige Bush seine Intervention und schob die Verantwortung später auf Falschinformationen aus CIA-Kreisen ab.

Europa ja, Europäische Union nein

Selbst Europas starkem Mann, Emmanuel Macron, bietet Dearlove die Stirn und weist dessen Allmachtsfantasien einer starken EU in die Schranken. Europa sei in einer handfesten Krise und vor allem Mister „C“ sieht nicht nur den Einfluss der Nato gefährdet, sondern glaubt auch nicht, dass sich dieses Europa im Ernstfall selbst verteidigen kann. In seinem An Open Letter to Emmanuel Macron beschwörte er die „Entente Cordial“ von 1904 und betonte, dass Frankreich und England in dendunkelsten Stunden des letzten Jahrhunderts“ die Werte der europäischen Zivilisation schützten. Doch einem gemeinsamen Europa erteilt er eine Absage. England ist zwar europäisch, aber unabhängig von Brüssel. Der kranke Mann Europas sei eben Brüssel selbst und die EU in einer handfesten Krise, in der die Briten, die weder der Eurozone noch dem Schengen-Abkommen beigetreten sind, kein Interesse daran hätten, zum Spielball der deutsch-französischen Hegemonie zu werden.

Autonomie und Nationsstaatlichkeit – dafür steht letztendlich auch Dearlove: „Die Geschichte des Vereinigten Königreichs ist anders, und diese Geschichte hat es uns nie erlaubt, die Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft voll und ganz zu akzeptieren.  Um ehrlich zu sein, ist unsere Mitgliedschaft nie sehr tief gegangen: Unsere Herzen waren nicht dabei.“

Warnung vor Huawei

Das sich Dearlove nicht einschüchtern lässt, weder von Institutionen noch von allgewaltigen Staatschefs oder Unternehmen, verdeutlichte er in einer Kampfansage an Huawei’s Rolle im britischen 5G-Netz. Für den bekennenden Antikommunisten bleibt China nicht nur ein System, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, sondern ein zuhöchst gefährlicher Player, den man auf Abstand halten muss. Huawei stellt „ein unnötiges Risiko“ und eine Sicherheitsbedrohung dar. Kurzum: Huawei ist nichts anderes als der verlängerte Spionagearm aus Peking.

Das Coronavirus ist von Menschen gemacht – Schwere Vorwürfe gegen die Volksrepublik

Die Skepsis gegen den Kommunismus sitzt tief und China bleibt für Dearlove in der Kartographie des Bösen derzeit Nummer eins. China traut er nicht nur zu, die informal-globale Überwachung steuern zu wollen, sondern eben auch Biowaffen gezielt einzusetzen. Der gut unterrichtete ehemalige Geheimdienstchef hatte zuletzt China stark belastet. Wie Dearlove in einem Interview mit dem britischen „The Telegraph“ betonte, hat die Verbreitung des Coronavirus „als Unfall“ entweder im Labor des Wuhan Institute of Virology oder im Wuhan Centre for Disease Control begonnen, von wo das Virus entwichen sei. Damit widerlegt er die von China offiziell kommunizierte „Vertuschungsstrategie“, dass das Virus vom Wildtiermarkt in Wuhan stamme und unterstreicht dessen nicht natürliche Existenz. Unter Berufung auf eine wissenschaftliche  Arbeit eines norwegisch-britischen Forschungsteams, ist sich Dearlove sicher, dass Schlüsselelemente in der genetischen Sequenz von Covid-19 „eingefügt“ wurden und das Virus demnach von Menschen gemacht sei. In einem Papier, für das sich die Forscher Angus Dalgleish vom St. George’s Hospital der Universität London und der norwegischen Virologe Birger Sorensen verantwortlich zeigen – und das derzeit in den Medien kritisiert wird – behaupten die Wissenschaftler, „eingefügte Abschnitte auf der Oberfläche der SARS-CoV-2-Zacken“ identifiziert zu haben, die erklären, wie das Virus sich an menschliche Zellen bindet. Wenn man diese einzigartigen „Fingerabdrücke“, die sich nicht natürlich entwickelt haben und vielmehr „auf eine gezielte Manipulation hindeuten“ nicht beachtet, so Dalgleish, wird die Suche nach einem Impfstoff aussichtslos bleiben. Und auch Dearlove, der in seiner Karriere oft den richtigen Riecher hatte und ein sensibles Gespür für die Machenschaften des Politischen entwickelte, bleibt dabei: „zweifelsfrei“ konstruiert. Sollte der Ex-MI6-Chef Recht haben, wäre das für Peking die schlimmste Informationspleite und käme einem gigantischen Megaerdbeben gleich. China müsste sich für den Massenmord und die Verschuldungen ganzer Kontinente im Zuge der Pandemie verantworten und das könnte das Land letztendlich in das Steinzeitalter zurückbomben; ein Gedanke, dem der Kalte Krieger Dearlove einiges „Positives“ abgewinnen könnte.

Fünf Mal weniger AIDS-Kranke sterben an Covid-19

 

Stefan Groß-Lobkowicz14.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Nach einer aktuellen Studie sterben Patienten, die mit dem HIV-Virus infiziert sind, nicht so oft an Corona. Forscher aus China und Italien untersuchen im Kampf gegen Covid-19 AIDS-Medikamente.

Woher das AIDS-Virus stammt, das sich seit den 80er Jahren als neue Zivilisationskrankheit mit pandemischen Ausmaßen verbreitet, ist bislang nicht eindeutig belegt. Die These, dass Affen die Krankheit übertragen, hält sich bis heute, aber auch Verschwörungstheorien, die das Virus Geheimdiensten und Laboren, die Biowaffen erproben, zuschreiben, wie derzeit auch bei Corona, grassieren weiter durch die Köpfe. Wie bei Covid-19 sind es Tiere, die für eine der tödlichsten Pandemien mit verantwortlich sind. Anders aber als bei Covid-19, dass insbesondere ältere Menschen mit Vorerkrankungen zur Gefahrengruppe mit hoher Sterblichkeit macht, traf die Infektionskrankheit AIDS zuerst Homosexuelle, dann aber auch immer mehr Heterosexuelle – insbesondere weiterhin in Afrika. Schädigt Covid-19 Lungen und Nieren, aber auch das Herz und andere Organe, zerstört AIDS sukzessive das Immunsystem. Bei den Erkrankten kommt es zu lebensbedrohlichen opportunistischen Infektionen und Tumoren.

Während die ersten Corona-Fälle im Dezember 2019 bekannt wurden, ist die erste AIDS-Infektion bereits beim Patienten Null im Jahr 1959 nachweisbar gewesen. Das US-amerikanische Centers for Disease Control and Prevention (CDC) stufte 1981 HIV dann als eigenständige Krankheit ein.

Sind bis Mitte Juni 2020 7,5 Millionen Menschen weltweit an Corona gestorben, so seit dem Ausbruch des AIDS-Virus mehr als 35 Millionen. 40 Millionen Menschen sind derzeit HIV-positiv. Wie bei Corona steigt auch bei AIDS die Zahl der Neuinfektionen. Der Anteil der HIV-Infizierten liegt im weltweiten Durchschnitt bei etwa 0,8 % der 15- bis 49-Jährigen und erreicht in einzelnen afrikanischen Staaten Werte um 25 %. In Deutschland zählt AIDS im Vergleich zu anderen Todesursachen mit etwa 460 Toten pro Jahr zu den eher unbedeutenden Todesursachen. Doch einen ausreichend effektiven HIV-Impfstoff gibt es bis heute nicht und die Suche geht weiter. Allein mit einem Cocktail aus unterschiedlichen Wirkstoffen kann die HIV-Infektion über einen längeren Zeitraum erfolgreich kontrolliert werden. Während in den 80er und frühen 90er Jahren die Diagnose AIDS einen Todesurteil glich, gelang 1996 mit Einführung der hoch aktiven antiretroviralen Therapie (HAART) der große Durchbruch: Mediziner gingen dazu über, die antiretrovirale Therapie (ART) auf mehrere Medikamente zu verteilen. HIV wurde damit zwar nicht heilbar – aber doch gut behandelbar: Dank dieser Medikamentierung wurde aus einer potenziell tödlich verlaufenden Krankheit eine chronische. Und durch die Kombinationstherapien ist die Lebenserwartung HIV-Infizierter in Europa und Nordamerika inzwischen um rund zehn Jahre gestiegen. In Afrika – südlich der Sahara – leben heute schätzungsweise knapp 26 Millionen Menschen mit HIV. 16,4 Millionen von ihnen erhalten laut WHO eine antivirale Therapie, die sie vor dem Ausbruch der Krankheit schützen soll. Doch in Zeiten von Corona und Malaria rechnet die UN bereits mit 500.000 zusätzliche Aids-Toten in Afrika bis 2021.

Die jahrelange Erforschung und Weiterentwicklung präventiver AIDS-Medikamente könnte nun bei der Suche nach einem Impfstoff zur Bekämpfung des Coronavirus weiterhelfen.

Ähnlichkeiten zwischen AIDS und Covid-19

Ein Team der Sun-Yat-sen-Universität in Guangzhou, Südchina konnte schon vor einigen Monaten nachweisen, dass das Coronavirus, das durch die Zelloberflächen eintritt, einige auffällige Ähnlichkeiten mit dem HIV aufweist. Professor Gu Chaojiang, ein Biowissenschaftler, der sich an der Wuhan University of Science and Technology mit HIV und Sars-CoV-2 befasst, betont zwar die Unterschiede zwischen beiden Viren, findet aber auch eine Gemeinsamkeit, da beide eine sehr ähnliche Struktur in dem stacheligen Protein hätten, das das Virus an eine Wirtszelle bindet. „Es besteht die begründete Hoffnung, eine Heilung für Covid-19 durch Anti-HIV-Medikamente, so der Wissenschaftler. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Viren erhöhe auch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei Covid-19 um eine persistente Infektion wie Aids handele, gleichwohl das Coronavirus nicht so schnell mutiere wie HIV.

Chinesische Forscher in Wuhan, dem ersten Epizentrum des Coronavirus-Ausbruchs, fanden keine Fälle von Covid-19 bei fast 200 HIV-Patienten, die Lopinavir und Ritonavir einnahmen. Bei beiden handelt es sich um Medikamente, die seit dem Jahr 2000 in einem den Ausbruch des AIDS-Virus verhindernden Cocktail verabreicht werden. Auch Wang Guangfa, ein Experte für Atemwegserkrankungen, der sich als einer der ersten in Wuhan infizierte, bestätigte, dass Lopinavir eine große Hilfe für ihn gewesen sei.

Das bestätigt die Vermutung der chinesischen Wissenschaftler, dass die niedrigen Sterblichkeitsraten von Covid-19-Patienten mit HIV mit den antiviralen Therapien in Verbindung gebracht werden könnten. Darüber hinaus waren diese auch nicht so anfällig für eine überreagierende Immunreaktion.

Neue spanische Studie – Menschen mit HIV haben eine fünf Mal niedrigere Sterberate

Laut einer neuen Studie, die ein Forscherteam aus Madrid Anfang Juni 2020 vorgestellt hat sind Menschen, die den HIV-Virus in sich tragen zwar besonders geschwächt und können viel öfter an einer Grippe sterben, weil ihr Immunsystem angegriffen ist, doch bei Patienten, die mit dem Coronavirus infiziert waren, lag die Sterblichkeit fünf Mal niedriger als bei Menschen, die kein HIV, aber das Coronavirus in  sich trugen. Damit haben die Spanier die früheren klinischen Beobachtungen aus China bestätigt: Wo Patienten Medikamente gegen AIDS einnehmen, ist eine Infektion mit Covid-19 nicht so groß. Nun keimt in Spanien, neben Italien, den USA und Brasilien, das Land mit den meisten Corona-Infektionen und -toten, die Hoffnung, dass sich durch die Erforschung von AIDS-Medikamenten neue Erkenntnis bezüglich der Struktur des Coronavirus ergeben und sich wirksame Mittel im Kampf gegen die neue Pandemie finden lassen.

Federführend bei der neuen Madrider Studie war Dr. Pilar Vizcarra vom Hospital Universitario Ramon y Cajal. Sie untersuchte die Krankenakten von fast 3.000 HIV-Infizierten und identifizierte 51 Covid-19-Fälle. Das entsprach einer Infektionsrate von 1,7 Prozent. Verglichen mit den 4 Prozent-Marke der Gesamtbevölkerung von Madrid war diese Rate damit bedeutend geringer. „Unseres Wissens ist dies die erste Studie, die die Infektionsrate von Covid-19 bei HIV-Infizierten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in derselben Region umfassend beschreibt“, so Vizcarra. Dennoch, so fügt die Wissenschaftlerin hinzu, besagt die Studie nicht, dass das Coronavirus keine Gefahr für Menschen mit HIV sei. „Trotz der niedrigen Sterblichkeitsrate wiesen 25 Prozent der HIV-infizierten Personen mit Covid-19 eine schwere Erkrankung auf, und 12 Prozent wurden auf eine [Intensivstation] eingewiesen, was eine höhere Rate als bei der Allgemeinbevölkerung ist“, doch im Verhältnis zu der besonders hohen Rate insbesondere in der Metropolregion Madrid war die Zahl eben lokal niedriger. Und das Forscherteam um Pilar Vizcarra kam zu der Erkenntnis, das Tenofovir, ein weiteres antivirales Medikament, das zur Behandlung von HIV verabreicht wird, zu einer deutlichen Verbesserung des Krankheitsverlaufes beiträgt.

Dennoch: Bislang gibt es noch keine soliden wissenschaftlichen Beweise aus groß angelegten Studien, die belegen könnten, dass Anti-HIV-Medikamente gegen Covid-19 wirksam sind. Aber mit ihren Studien zu HIV und Corona könnte den Forschern aus China und Spanien vielleicht der Durchbruch gelingen, bereits bestehende AIDS-Medikamente weiterzuentwickeln, um letztendlich Corona zu besiegen.

Der Mann, der Superlative liebt

Stefan Groß-Lobkowicz5.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

Er ist der Mann der Superlative. Teuer, noch exklusiver und am besten nur das Größte, das ist die Maxime des russisch-israelischen Milliardärs Roman Abramowitsch. Nun hat er die teuerste Villa in Zentralisrael für fast 65 Millionen Dollar gekauft.

 

Geld spielt bei Roman Arkadjewitsch Abramowitsch, dem kamerascheuen und nicht gerade öffentlichkeitsaffinen “Playboy der Nation”, wie macherorts genannt wird, eigentlich keine Rolle, nur wie er es investiert, zeigt sein Händchen für das Außergewöhnliche. Der Oligarch, der gern in die schönen Dinge des Lebens investiert, war einst politisch engagiert und schon als Gouverneur der russischen Region Tschukotka erfolgreich. Doch den reichsten Israeli und laut Forbes-Liste auch einem der weltweit reichsten Männer interessiert Luxus pur. Und wer kann es sich außer Abromowitsch leisten, eine ganz Fußballmannschaft zu kaufen? Einfach mal so investierte er 2003 210 Millionen Euro in den englischen Fußballclub FC Chelsea und ist nun das, wovon Millionen Deutsche träumen – sein eigener Fußballchef.

Seitdem fasziniert ihn das Spiel mit dem Geld. Und wie Putin oder saudische Ölscheichs liebt er prunkvolle Yachten der Superlative, Kreuzfahrschiffe für den Privatgebrauch. Aber auch hier spielt er in der Champions League. Vier Yachten nennt Abramowitsch sein Eigentum – und das Geld, das er dafür ausgibt, Schwindel erregend. Allein seine Megayacht “Pelorus” kostete 254 Millionen Euro. Aber auch mit den Flagschiffen „L’Ecstasea”, “Eclipse” und “Sussurro”, die mit U-Booten flankiert ist, zeigen, der gebürtige Russe will nicht Kleckern, sondern Klotzen. Schlösser in Garmisch-Partenkirchen, das „Château de la Croë“ an der Côte d’Azur gehören ebenso ins Portfolio des Milliardär wie die teuersten Gemälde der Welt. Für einen Francis Bacon gibt er schon mal 57,2 Millionen Euro aus.

Der luxusverliebte Milliadär

Doch wer glaubte, der 54-Jährige hat genug Luxus angehäuft, sieht sich enttäuscht. Erst im Januar 2020 hat er sich ein Superanwesen in Israel gekauft. Abramowitchs neues Imageprojekt, die Villa Herzliya Pituah, Gästehaus, Tennisplatz, Swimmingpool und ein 2,35 Morgen großes Grundstück inklusive, kostete ihn 64,5 Millionen Dollar. So etwas bezahlt der Mann mit der israelischen Staatsbürgerschaft, die ihn zugleich zur reichsten Person des Landes machte, aus der Portokasse.

Laut „Forbes“ hat er 12 Milliarden Dollar Nettovermögen

Auch in Israel ist der Yachtensammler und Fußball-Enthusiast schon seit Jahren ein Topinvestor. Ein fünfstöckiges Bürogebäude in Tel Aviv an der Strandpromenade und ein Boutique-Hotel in Tel Aviv nennt er sein eigen. Und leisten kann er sich dies alles, liegt doch sein Nettovermögen derzeit, laut Forbes, bei 12,2 Milliarden Dollar. Der Mann, der die teuren und außergewöhnlichen Dinge liebt, wird uns auch in Zukunft mit exklusiven Käufen überraschen – getreu einem Credo: nur das Feinste und Teuerste. Abramowitsch kann man zumindest nicht vorwerfen, das Leben  nicht auszukosten – und die Superlative sind für ihn eben die Würze des Alltags.

Infektionskrankheiten: Ohne Resistenzen sterben wir nach der Operation

Stefan Groß-Lobkowicz4.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Über die großen Herausforderungen sprach The European mit Dr. Wolfgang Mutter von HYpharm GmbH. Der Kampf gegen die Infektionskrankheiten wird nicht nur in Zeiten von Corona immer wichtiger. Dieser müssen wir uns stellen, so der Wissenschaftler. Wenn wir keine Resistenzen entwicken, haben wir keine Option, eine Operation zu überleben.

Herr Mutter, worin liegen die größten Herausforderungen der Biotechnologie?

In den Infektionskrankheiten. Dass die Menschen heute länger leben, liegt vor allem daran, dass wir diese durch wirksame Antibiotika in den Griff bekommen haben. Sie stellten kaum noch ein Problem dar. Jetzt aber erleben wir eine Wiederkehr dieser Krankheiten, da die Resistenzen gegen Antibiotika zunehmen. Da kommt etwas auf uns zu, das wesentlich schlimmer sein wird, als die derzeitige Corona-Pandemie. In Zukunft werden Infektionskrankheiten aus den Entwicklungsländern wieder zu uns zurückkommen. Davon bin ich zu einhundert Prozent überzeugt. In Indien ist schon jetzt praktisch ein jeder resistent. Die größte Herausforderung ist es also zuallererst vernünftig mit der Verschreibung und Einnahme von Antibiotika umzugehen. Dazu gilt es eine vernünftige Diagnostik zu machen. Heißt: Ob jemand eine virale oder bakterielle Infektion hat, muss eindeutig und schnell identifiziert werden.

Welche Krankheiten bekämpfen Sie denn eigentlich Sie bei Hypharm?

Wir entwicklen Moleküle die ihren Ursprung in Phagen haben, d.h. in Viren, die nur Bakterien infizieren. mit diesen Molekülen können wir sehr spezifisch pathogene Bakterien abtöten. Infektionen mit Propionibacterium acnes und Clostridium difficile sind neben MRSA unsere Hauptziele.

Werden Biotechnologieunternehmen in Deutschland zu viele Steine in den Weg gelegt?

Die Biotechnologie wird vor allem von Großkonzernen betrieben, weniger von kleinen Firmen. Das ist eindeutig. In Penzberg befindet sich der größte Biotech-Standort Europas. Er gehört zum Roche-Konzern. Von mehr als 6000 Mitarbeitern werden dort  Antikörper und Hormone unter anderem für Krebstherapien produziert. . Man kann also nicht sagen, dass die Biotechnologe in Deutschland nicht stattfindet. Wesentliche Entwicklungen werden aber  schlicht woanders gemacht, sprich die Wertschöpfung findet woanders statt. Dadurch, dass wir nicht in der Lage sind, eine ähnliche Biotech-Industrie aufzubauen, wie dies in den USA oder sogar inzwischen in Südkorea der Fall ist, verlieren wir an Wertschöpfung. Und  erfolgreichen  deutschen Start-up Firmen, wie beispielsweise Biontech, gehen in den USA an die Börse. Es ist schon ein Problem, dass wir in den modernen Bereichen, ob nun IT oder Biotech, international hinterherlaufen.

Kann man sagen, dass Deutschland immer erst anfängt aufzuwachen, wenn die Sache schon am Laufen ist?

 Ja, sogar eher, wenn sie beinahe schon wieder vorbei ist. Trotzdem gibt es erfolgreiche Ereignisse; einer der ersten Tests für das Coronavirus wurde  in Penzberg entwickelt. Und das innerhalb weniger  Wochen.

Wie lange hat es gedauert diesen in die Praxis umzusetzen?

Überhaupt nicht lange, die haben das sofort auf ihre Geräte gebracht. Auch die bürokratischen Hürden für die Zulassung waren aufgrund der  aktuellen Lage schnell überwunden. Die Tests laufen auf dem bestehenden Maschinenpark. Heutzutage ist das wirklich nicht mehr schwierig.

Warum sollte die Pharmaindustrie eigentlich noch in die Entwicklung neuer Medikamente investieren, wenn Forschung und Markteinführung so aufwendig und teuer sind, wie derzeit?Investitionen in Antibiotika hat die Branche ja weitestgehend schon eingestellt.

Antibiotika zu entwickeln rechnet sich einfach nicht. Um Kosten einzusparen sind wesentliche Elemente der Produktionskette nach Fernost verlagert worden.  Zusätzlich sind einige Klinikapotheken in die Produktion von Antibiotike eingestiegen. Ganz einfach, um Geld zu sparen. Die Folge der von den Krankenkassen durchgesetzten Rabattverträgen ist, dass pharmazeutische Unternehmen sich aus gewissen Marktsegmenten verabschieden.

 Aber es muss doch einen ethischen Aspekt geben? Braucht es nicht irgendein neuartiges Mittel das gegen die von Ihnen angemahnten Resistenzen gefeit ist? Etwas überspitzt formuliert, würden wir sonst ja faktisch das Überleben der Menschheit aufs Spiel setzen. 

 Ja, in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren werden wir die Resistenzen nicht im Griff haben. Deshalb sollte man sich ein Krankenhaus heutzutage nicht nach der Kunst der Operateurs heraussuchen, sondern nach den hygienischen Gesamtbedingungen. Das ist das Wichtigste, um – ganz brutal gesagt – eine Operation zu überleben.

Im Zuge des Coronavirus ist eine Debatte über Lieferketten und Lieferengpässe bei Medikamenten entstanden. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Die Rohstoffe werden hauptsächlich in China und in Indien produziert. Mehr oder weniger unter katastrophalen Produktionsbedingungen. Antibiotika landen dort tonnenweise einfach in der Umwelt, wenn in der Produktion etwas daneben geht. Unter diesen Bedingungenwerden dort systematisch  Resistenzen gegen verschiedenste Keime produziert. Umwelttechnisch ist das eine große Schweinerei; und irgendwann werden diese Keime, die dort generiert werden, wieder bei uns landen. Wir sind inzwischen von dieser Art der Produktion abhängig geworden und oftmals nicht mehr in der Lage diese Stoffe bei uns herzustellen. Das alles ist bekannt; wahrscheinlich Bedarf es einer größeren „Vorfalls“ um eine Änderung herbeizuführen.

Themawechsel: Gibt es eigentlich genügend qualifizierte Arbeitskräfte in der Biotechnologie?

Ja, gibt es. Aber der springende Punkt ist: Es gibt diplomierte, promovierte Biologen wie Sand am Meer, Fachkräfte aber, sprich technische Assistenzen, biotechnische Assistenten, pharmazeutisch-technische Assistenten, Chemikanten, gibt es viel zu wenig. Fakt ist, dass  sich vermehrt promovierte Biologen auf Technikerposten bewerben, nur um eine erste Stelle zu erhalten. Wir haben also viele gut ausgebildete Arbeitskräfte, die aber schlicht keine guten Jobaussichten haben.

Was würden Sie sich denn von Jens Spahn, dem deutschen Gesundheitsminister, wünschen?

Dass er sich mal mit den Krankenkassen zusammen Gedanken über das Vergütungssystem macht. Sinnvolle ärztliche Leistungen oder auch Arzneimittel werden teilweise miserabel vergütet. Besonders gravierend ist dies bei akuten Erkrankungen, bei denen ein sofortiger therapeutischer Ansatz zwingend erforderlich ist. In solchen Fällen ist es notwendig, dass die Diagnostik direkt beim Arzt stattfindet und nicht nach Tagen der Befund eines Labors eintrifft. Wir haben eine eindeutige Fehlallokation der vielen vielen Milliarden, die wir in unser Gesundheitssystem hineinstecken.

Die Fragen stellte Stefan Groß

Interview mit Michael Triegel – Ästhetisch liebe ich die Wiedergeburtsidee der Renaissance

Stefan Groß-Lobkowicz1.06.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Er ist einer der bedeutendsten Maler der Gegenwart, ein Genie. The European traf Michael Triegel zum Interview und sprach mit ihm natürlich über Kunst, aber auch über den Kunstmarkt und die gigantischen Summen, die dort geboten werden. Triegel sieht diesen Hype kritisch, warum, erklärt er exklusive für uns.

Sie haben mit Arno Rink und Werner Tübke geniale Lehrmeister gehabt. DDR-Realismus oder doch mehr?

Michael Triegel: Nun, Tübke war ja, als ich 1990 mit meinem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig begann, längst emeritiert. Ich bin also nicht sein Schüler. Er war mir aber seinerzeit stets eine wichtige Bezugsgröße, quasi ein Autoritätsbeweis, dass es möglich ist, durch Auseinandersetzung mit den alten Meistern und Geschichte, etwas über die Gegenwart zu sagen. Auch war es eine Art Ritterschlag, als er 2003 den Auftrag für die Predella zu einem spätgotischen Altar an mich weitergab. Der Begriff des Sozialistischen Realismus wird leider immer noch sehr pauschal für Kunst aus der DDR verwendet. Die Höllenstürze und manieristischen Überspanntheiten eines Tübke, die mythologischen Parabeln eines Mattheuer, der stets die bestehenden Verhältnisse in seiner Kunst kritisierte oder die Erotomanie und Selbstbeobachtung eines Rink haben ja nichts mit dem Klischee der siegreichen Arbeiterklasse zu tun. Ich hatte das Glück, in einer Zeit zu studieren, in der ich alle bildkünstlerischen Techniken von der Pike auf lernen konnte. Gleichzeitig konnte ich die Meisterwerke, die mich interessierten, überall auf der Welt im Original studieren. Das Studium begann nicht mit theoretischen Diskursdebatten, sondern mit dem Erlernen eines Handwerks – Maltechnik, Perspektive, Anatomie, die grafischen Techniken. Da ging es nicht zuerst um Kunst, sondern um die Voraussetzung, diese zu schaffen. Bis heute ist das Handwerk für mich kein einengendes Korsett. Seine sichere Beherrschung gibt mir im Gegenteil die Freiheit, mich vor dem Bild ganz um den Inhalt zu kümmern. Wir bekamen ein reiches Reservoir an Fertigkeiten vermittelt, das man, wenn es für das Bild notwendig war, jederzeit in einer bewussten Entscheidung reduzieren konnte – aber eben nicht aus Unvermögen oder Faulheit. Arno Rink hatte auch die Gabe des guten Lehrers, nicht in seinen Schülern lauter kleine Rinks zu klonen. Er versuchte jeden zu dessen eigener Sprache zu führen.

Kunst kommt von Können, Goethe hatte noch die Erfindung und den Genius hinzugegeben, erfand mit dem Rubriken-Meyer Regularien. Warum ist zeitgenössische Kunst oft banale Aktionskunst und Happening und auch noch handwerklich schlecht? Haben wir den guten Geschmack verloren?

Michael Triegel: Goethe, der mir sehr wichtig ist, hat ja auch wunderbar über bildende Kunst geschrieben, sehr tiefsichtig über Raffaels Transfiguration. Bei zeitgenössischer Kunst schien er weniger verständnisvoll, wenn sie an seine Ansichten zu Caspar David Friedrich denken. Da griffen seine Kriterien wohl nicht. Welche Kriterien haben wir nun heute? Provokation, Innovation, politische Haltung, Erfolg auf dem Markt – reicht das aus? Für mich ist es wieder an der Zeit, über Ästhetik und auch über die Hergestelltheit von Kunst nachzudenken, Handwerk und Inhalt als Einheit. Wie Hofmannsthal formuliert: „Form ist vom Inhalt der Sinn, Inhalt das Wesen der Form.“ In der Salonmalerei des 19. Jahrhunderts war ein gültiger Kanon hohl geworden. Ein Maler wie Cabanel malte eine Geburt der Venus, bei der es nicht wie bei Botticelli ums Göttliche eines ewig Weiblichen ging, sondern der Voyeurismus des zahlenden Großbürgertums bedient wurde. Dem hat Manet mit seiner Olympia grandios widersprochen, indem er in Form einer Venus von Tizian eine Prostituierte darstellte. Auch die Expressionisten haben mit der Zertrümmerung sämtlicher Konventionen notwendigerweise auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs reagiert, das Bauhaus danach einen inhaltlich und formalen Neuanfang ausgerufen. Aber sind nicht ein permanenter Innovationszwang und sich überbietende Tabubrüche inzwischen auch schon wieder zur Konvention geworden? Gebe ich nicht einen Großteil an Freiheit auf, wenn ich Geschichte, auch Kunstgeschichte als Reflexionsmedien nicht nutze, weil ich es nach neuem Kanon vermeintlich nicht darf, weil ich Gefahr laufe, die Todsünde der Moderne zu begehen, unmodern zu erscheinen. Da gibt es für mich die Chance eines neuen Tabubruchs.

Warum haben Sie gerade die Renaissance-Malerei für sich entdeckt, warum nicht Romantik oder Moderne?

Michael Triegel: Auch die Renaissance hat einen neuen Aufbruch gewagt, indem sie sich mit Altem auseinandersetzte. Etwas Vergessenes muss nicht tot sein. Es kann, gerade weil es unbekannt geworden ist, als neu und jugendfrisch wahrgenommen werden. In der Enge und Tristesse der späten DDR meiner Kindheit erlebte ich die Kunst der Renaissance und auch die Literatur von Ovid über Dante, Goethe, Hofmannsthal oder George als eine Gegenwelt des Geistes, wohl auch der Schönheit. Da glühten die Farben und die archetypischen Themen von Liebe, Leben, Tod und Erlösung sprachen ganz direkt zu mir. Die Fragen des Sokrates und Platon waren mir drängender als die Floskeln im sozialistischen Philosophieunterricht. Ein Kunstwerk, wenn es den Namen verdient, geht für mich immer über die Zeit seiner Entstehung hinaus, wird im unmittelbaren Gespräch mit dem Betrachter, Leser oder Hörer Gegenwart. Die Kunst der Renaissance zeigt ja nicht eine alte Zeit, in der alles gut war. Sie reflektiert durchaus Probleme und Ängste, zeigt aber auch Hoffnungen, Sehnsüchte, Utopien. Dostojewski liebte die Sixtinische Madonna so sehr, weil er meinte durch dieses Bild nicht an der Menschheit verzweifeln zu müssen. Der Mythos in seiner Überzeitlichkeit wie auch der Bezug auf Historisches schaffen mir auch eine Distanz, die möglicherweise einen größeren Überblick ermöglicht. Besonders reizvoll scheint mir dabei, das Ferne durch das Studium der Natur und ihrer Erscheinungen als ein Mögliches, sich gegenwärtig Vollziehendes zu beglaubigen, was Raffael oder Dürer mir so vorbildhaft geschafft haben. Auch deshalb sind mir Stillleben oder Porträts immer wichtig. Apropos: die Maler der Renaissance setzten sich ganz intensiv mit dem einzelnen unverwechselbaren Menschen auseinander. Eine große Tat zu Beginn der Neuzeit, doch auch eine Kinderkrankheit, die im Individualismus unserer Tage problematisch wird, wenn der Einzelne Schwierigkeiten damit hat, eine höhere Instanz als das Ego über sich oder den anderen Menschen neben sich zu sehen.

Ihre Wahlverwandtschaften sind Raffael, Giovanni Bellini, Leonardo, Pontormo, Bronzino – was reizt Sie daran? Sie transportieren christologisch-heilsgeschichtlich und antik-mythologische Themen in die Moderne. Man kann Ihnen also nicht den Vorwurf des Historisierens machen?

Michael Triegel: Historie, Geschichte also und Geschichten sind immer Spiegel einer Gegenwart – der Gegenwart ihrer Entstehung, gleichzeitig aber auch derjenigen, in der sie erzählt, neu gelesen, verändert oder auch anders verstanden und ausgelegt werden. Gerade dieser Transformationsprozess interessiert mich. Nehmen Sie den Mythos der Medea, der, wie ich finde, heute wieder sehr aktuell ist. An der Fremden, der Ausländerin, die aus Rache an Iason die eigenen Kinder tötet, sah der Grieche die Unzivilisiertheit der Barbaren und konnte so die Erzählung politisch instrumentalisieren. Der kleinasiatische Ursprungsmythos erzählt etwas anderes: Hera als Schutzgöttin der ehelichen Treue bietet Medea an, um den Ehebruch Iasons zu sühnen, die gemeinsamen Söhne zu töten und damit die Erbfolge der Herrschaft zu kappen (auch das ein Politikum) und diesen dann Unsterblichkeit zu verleihen. Eine Mutter soll zur Mörderin werden für das ewige Leben ihrer Kinder. Das ist weniger ausländerfeindlich und menschlich viel tragischer. Oder schauen wir auf den Ariadnemythos. Die von Theseus verlassene Ariadne träumt sich in die tote Vergangenheit ihrer großen Liebe, erhofft sich die Auferstehung der guten alten Zeit, nimmt durch den dauernden Schlaf aber ihren Tod vorweg, hofft, dass der ihr erscheinende Gott der Psychopompos Hermes sein möge. Sie projiziert ihre Hoffnungen auf Erlösung auf den ihr Unbekannten. Und siehe, er ist das Gegenteil ihrer Erwartung – Dionysos – der Rausch, die Jugend, der Neubeginn, das Leben. Und doch bleiben die Narben der Vergangenheit, was den Gott menschlich fühlen lehrt. Aber natürlich begeistert mich an den Bildern von Bellini, Raffael oder Bronzino auch, wie sie gemalt sind. Da geht es nicht um „bad painting“, da ist nicht jeder im Sinne von Beuys ein Künstler, da bekommt der Beruf des Künstlers, nicht zuletzt durchs geistige und manuelle Handwerk, eine Einzigartigkeit, Ernsthaftigkeit aber auch Selbstverständlichkeit, die ich ebenso beim Bäcker oder Arzt erwarte und schätze.

Ist Gott aus der Moderne getreten, zumindest in der zeitgenössischen Kunst findet man ihn kaum? Markus Lüpertz sagte in einem ­Interview, die Künstler seien jetzt die neuen Götter. Hat er Recht?

Michael Triegel: Gut, schon Michelangelo oder Raffael wurden zu ihrer Zeit als „divino“, göttlich bezeichnet. Dürer malt sich im Selbstporträt in Christuspose. Seit der Renaissance wird der Künstler als zweiter Deus creator verstanden. Michelangelo, den ich grenzenlos bewundere, signiert die Pietà im Petersdom auf einem Band über der Brust der Madonna („Michelangelo Buonarroti aus Florenz hat dies gemacht“). Das ist mehr als selbstbewusst. Markus Lüpertz, wenn Sie ihn schon ansprechen, scheint mir eher die Rolle des Malerfürsten des 19. Jahrhunderts zu spielen, eines Markart oder Lehnbach. Wobei sich so die Frage stellt, ob wir wieder eine neue Salonkunst vor uns haben, in deren Mittelpunkt die Person des Künstlers, des „Malerstars“ steht. Ich wünschte mir, dass das Ego des Künstlers hinter dem Werk verschwindet, im Werk aufgeht. Natürlich ist Kunst immer auch hochgradig subjektiv und biografisch, doch sollte nicht der Produzent angebetet werden, der sich sonst zwischen das Kunstwerk und den Rezipienten drängt. Könnten uns sonst die Schöpfungen vieler anonymer Meister so berühren? Marcel Proust beschreibt als sein Ideal eine Heiligenfigur der Kathedrale zu Amiens, die in zwanzig Metern Höhe hinter einem Pfeiler aufgestellt wurde, deren Bildhauer unbekannt ist, die nur während einer Restaurierung von Nahem betrachtet werden konnte, die aber genauso vollendet gearbeitet ist wie die Madonna am Portal. Der mittelalterliche Künstler wusste, zu wessen Ehre er sie schuf. Es war nicht zuerst die seinige.

Haben Sie in ihrem Papstbild auch die Kirche porträtiert, herrisch und zweifelnd? Papa Emeritus begrüßte Sie ja einmal mit den Worten „Sie sind also mein Raffael“.

Michael Triegel: Es gibt eine schöne Aussage Goethes über den Porträtmaler: „Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt. Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert. Man verlangt so selten von Leuten das Unmögliche und gerade von diesen fordert man es. Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen, sie sollen nicht bloß darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie ihn jeder fassen würde.“ Das konnte ich beim Porträt Papst Benedikts XVI. erleben. Manche bewunderten es, nur weil der Papst dargestellt war, manche fanden es deshalb furchtbar. Einige meinten gemalte Kritik zu erkennen, andere sahen mich als Hofkünstler. Der eine sah eine herrische und zweifelnde Kirche porträtiert, der andere vermeinte zu wenig jugendliche Frische wahrzunehmen. Ich habe seinerzeit die Audienz sehr ambivalent erlebt. Die Menschen jubelten wie auf einem Popkonzert, nur wenige schienen die berührenden Worte des Papstes über Bonaventura auch nur zu hören, geschweige denn zu verstehen. Mich überkam ein Gefühl der Einsamkeit – mich selbst betreffend, aber auch in Bezug auf diesen großen Intellektuellen, der seine Bücher schreiben, der gelesen und mit seiner Botschaft gehört werden wollte und sich nun in einem solchen Zirkus wiederfand. Irgendwie fand ich durch den Rücktritt Seiner Heiligkeit später mein Porträt beglaubigt. Doch bei jedem Porträt, ob vom Papst oder einem römischen Bettler, versuche ich zuerst das zu malen, was ich unmittelbar sehe, darauf vertrauend, dass sich in der einzigartigen Physiognomie, im Blick, den Falten, der Haltung, den Händen eine Persönlichkeit, ein Leben spiegelt, nicht in den Titeln oder gesellschaftlichen Rollen.

Der Kunstmarkt ist zu einer festen Größe, zum Investment, geworden, Tendenz steigend. Doch eine neue Rezession naht. Werden sich die Preise eher erhöhen oder fallen?

Michael Triegel: Ich bin weder Prophet noch Ökonom und interessiere mich herzlich wenig für den Kunstmarkt. Wichtiger ist doch, wie Kunst auf Krisen reagiert, welche Fragen sie stellt und wie sich das Publikum mit diesen Fragen auseinandersetzt. Vielleicht können wir ja wieder lernen, dass es nicht der Preis ist, der über den Wert eines Kunstwerks entscheidet. Schön wäre es freilich, wenn mancher erkennen möge, dass Kunst, auch ihr Erwerb, als Lebensmittel notwendiger ist als der neuste SUV.

Jeff Koons ist nach seinem Auktionsrekord in New York wieder der teuerste lebende Künstler. Sein „Rabbit“ 91,1 Millionen Dollar wert. David Hockney kommt mit seinem „Portrait Of An Artist (Pool With Two Figures)“ auf 90,3 Millionen ­Dollar. Sind das nicht absurde Preise, was steckt dahinter, Ästhetik kann es ja wohl nicht sein?

Michael Triegel: Auch 400 Millionen Dollar für das Bild eines Salvator mundi sind nicht gerechtfertigt, selbst wenn es von Leonardo wäre. Vielleicht ist ja Jeff Koons der Künstler der Stunde. Seine Kunst der Oberfläche, der Oberflächlichkeit wird zuweilen als Kapitalismuskritik interpretiert. Interessanterweise wird sie mit ihrem Bling Bling und Glamour besonders von den Oligarchen und Global Playern der Wirtschaft gekauft, die sich durch sie wohl kaum in Frage stellen. Wenn Kultur aus dem Kultus erwächst – denken Sie ans Theater und den Dionysoskult, Götterbilder, Altäre, Herrscherporträts – dann entspricht die Kunst eines Jeff Koons, deren erstgenanntes Merkmal zumeist ihr Preis ist, dem Kult unserer Zeit ums Geld – ein Zynismus, der mich anekelt.

Ein Interpret hat einmal über Ihre Kunst geschrieben: „Das Göttliche wird vermenschlicht, statt entrückter Distanz erlebt der Betrachter private Nähe“. Lässt sich so in Zeiten der Gottesferne, Gott in die Gegenwart zurückholen und Malerei als Repräsentation des Göttlichen, als Imago Dei, neu definieren?

Michael Triegel: Das könnte durchaus sein. Ich hatte bereits angedeutet, dass ich mir nicht am Schreibtisch überlege, welches relevante Problem ich thematisiere, vieles geschieht unbewusst. Ich stelle ganz persönliche Fragen, die, da ich nicht in einem Kloster in der Toskana lebe, auch Fragen meiner Zeitgenossen sein können. Ich male meine Ängste, Sehnsüchte und Zweifel und hoffe, durch die Anschauung der mich umgebenden Welt vielleicht, mit Paulus gesprochen, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren zu gelangen.

Welche Rolle hat das Göttliche in ihrem Werk, sie verbinden ja Transzendentes und Sinnliches miteinander. Oder anders gefragt: Gibt es noch einen Gott in der Moderne? Ein Rezensent hat mal über Sie geschrieben: „Triegels künstlerisches Prinzip ist das der Metamorphose. Wie ein irdischer Demiurg transformiert er den Götterhimmel in ein Reich der Gegenwart“.

Michael Triegel: Da kommen wir doch noch zum Einfluss der Romantik. Als nach der notwendigen Aufklärung der Himmel leergefegt war, erkannten zuerst die Künstler das problematische Vakuum einer Fehlstelle. Novalis suchte die Blaue Blume, eine Wiederverzauberung, Romantisierung der Welt: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Sinn gebe, romantisiere ich es.“ Nietzsche, der große Kritiker des Überkommenen aber auch seiner Gegenwart, postulierte den Tod Gottes. Ästhetisch liebe ich die Wiedergeburtsidee der Renaissance und ich glaube an Auferstehung. Die Frage nach Gott oder seiner Abwesenheit stellt sich für mich auch und gerade in der Moderne.

Sie sagen, Ihre Bilder seien Ausdruck des Wunderbaren und betonen zugleich, dass man die Welt nicht mehr mit Rationalität begreifen darf. Kommt dann das Zeitalter einen neuen Sinnlichkeit?

Michael Triegel: Ich kann da nur von mir sprechen. Sinnliches Erleben ist Quelle meines Tuns. Ich habe Probleme mit einer Kunst, die sich zuerst eine theoretische Vorgabe setzt, die sie dann bebildert. Natürlich setzt sich zeitgenössische Kunst mit großen und wichtigen Themen auseinander. Aber auch wenn es um Flüchtlingselend, um Identitäts- oder Genderfragen geht, dürfen wir nicht abstrakt bleiben. Ich finde es schwierig, wenn bei Ai Weiwei lediglich eine Rettungsweste für ein Menschenleben steht oder er sich als berühmter Künstler gar selbst in der Pose des vor Lesbos ertrunkenen Jungen Aylan Kurdi fotografieren lässt und sich somit ein Schicksal anmaßt, das nicht sein eigenes ist – bei aller guten Absicht. Die alten Meister haben bei existenziellen, auch bei theologischen Fragen nach der Menschennatur Christi, nach Schmerz und Leid, aber auch nach Schönheit und Freude zuerst unsere Sinne angesprochen. Das versuche ich auch. Der Blick in die verzweifelten Augen eines leidenden Kindes oder in das gütige Gesicht eines übersehenen Bettlers berühren mich oft tiefer als das Rollenspiel eines Künstlers oder die zuerst als Kunst wahrnehmbare Installation auf einer Biennale.

Sie haben einmal betont, dass Protestanten Musiker und Katholiken Maler hervorbringen, warum?

Michael Triegel: Ach, das war ungerecht. Freilich, wer kommt gegen Bach an? Aber die Katholiken Mozart, Beethoven oder Bruckner waren ja auch nicht schlecht. Und neben Rubens gab es auch Rembrandt. Vielleicht hat die dem Wort dienende Musik im Protestantismus einen ganz eigenen Stellenwert und im Katholizismus die Anschauung, das sich im Sinnlichen der Erscheinung Offenbarende.

Sie haben sich vor einigen Jahren taufen lassen und sind Katholik geworden! Ungewöhnlich in Zeiten zunehmender Säkularisierung? Was macht für Sie das Katholische aus?

Michael Triegel: Scherzhaft könnte ich sagen, da geht der Künstler in provokativen Widerspruch zum Zeitgeist. Böse Zungen könnten meinen, da sucht der in der DDR Sozialisierte wieder eine Autorität. Dass die Suche nach Orientierung, die Sehnsucht nach einem gütigen Vater, dessen Autorität nicht nur Behauptung ist, der Wunsch nach einer letzten Instanz im Glauben Erfüllung fanden, darf ich wohl als Gnade bezeichnen. Zweifel freilich bleiben weiterhin, sie werden zuweilen durch diese Lebensentscheidung zur Taufe noch zwingender. Das Katholische bedeutet für mich durchaus im Wortsinn das Allumfassende. Von der bisweilen fast heidnisch geprägten Volksfrömmigkeit Neapels bis zur Befreiungstheologie, vom Prunk des Petersdoms zu Franz von Assisi, mystischer Spiritualität, Rationalität oder einem philosophischen Ansatz bei ­Ignatius, Pascal oder Joseph Ratzinger. Da gibt es viele Formen der Näherung an ein Geheimnis, das nie aufhört, Geheimnis zu bleiben.

Italien ist ihr Sehnsuchtsort – Inspirationsquelle. Das Zeitalter der Renaissance ist vorbei, das von Corona eingeläutet! Gottes Strafe? Hat Gott uns jetzt vergessen oder gemäß der Theodizeefrage: Wie kann er das zulassen?

Michael Triegel: Als Maler könnte ich den Versuch wagen, dass nur durch das Grauenhafte als Referenzgröße das Schöne wahrzunehmen ist. Das wäre aber eher eine Versuchung und zynisch, würde es doch das Gute und Böse zu ästhetischen Kategorien machen. Wie ein guter Gott das Schreckliche zulassen kann, das hat ja Theologen und Philosophen seit je umgetrieben. Das Mittelalter hätte wohl einen strafenden Gott gesehen, der uns heute fremd ist. Das Erdbeben von Lissabon 1755 ließ Voltaire in seinem „Candide“ dem Satz von Leibniz, wir lebten in der besten aller Welten, widersprechen und heizte Religionskritik und Aufklärung an. Für mich als unbedarften Laien gäbe es nur den Erklärungsversuch, dass Naturgesetze wie das geologisch-physikalische eines Erdbebens oder das biologische der Mutation von Viren der Schöpfung immanent sind. Letztlich ist für mich die Theodizeefrage nicht zu beantworten, da sie darauf zielt, dass das Geschöpf ein Urteil über den Schöpfer trifft, wissend, was der Plan sei. Trostreich bleibt der Gedanke des Karfreitags, dass Gott mit den Menschen leidet und ihnen hilfreich zur Seite steht als Christus Medicus. Um noch einmal Raffael und Goethe zu bemühen – Raffaels letztes Gemälde stellt die Transfiguration Christi dar, gekoppelt mit der durch die Jünger vergeblich versuchten Heilung des fallsüchtigen Knaben. Die untere Zone der Jünger, der Krankheit, des Irdischen ist dunkel, fast chaotisch im Kontrast zur hellen Klarheit der oben dargestellten Verklärung gemalt. Goethe gibt eine wunderbare, kurze Interpretation: „… beides ist eins. Unten das Leidende, Bedürftige, oben das Wirksame, Hülfreiche, beides sich aufeinander beziehend, ineinander einwirkend.“

Was bedeutet die Coronakrise für die Kunst und den Kunstmarkt?

Michael Triegel: Was sie für den Kunstmarkt bedeutet, kann ich nicht beantworten. Viel wichtiger ist es, was sie für die Kunst, noch mehr, was sie für die Gesellschaft bedeutet. Wir könnten lernen, worauf wir alles verzichten können, auch welche Arbeit wichtig ist und wie sie bezahlt wird. Nach Diskussionen über Rechtschreibreform oder Gendersternchen, durchaus wichtig, treten wieder ganz existenzielle Fragen in den Mittelpunkt, Fragen nach Leben und Tod. Unsere Omnipotenz wird in Frage gestellt und wir werden gezwungen, uns mit unserer Verletzlichkeit und Sterblichkeit auseinanderzusetzen, wieder eine Ars Moriendi zu lernen und dadurch die Schönheit des Lebens und des Augenblicks neu zu schätzen.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Frankreich soll das Wuhan-Labor finanziert haben

Stefan Groß-Lobkowicz29.05.2020Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

Brisante Nachrichten kommen derzeit aus englischen Medien. Dort wir unter Bezug auf Insiderquellen der EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier verantwortlich für den Aufbau des Wuhan-Virus-Labor gemacht. Maßgebend unter dem Franzosen wurde der Ausbau des berüchtigten Labors, aus dem möglicherweise der Coronavirus stammt, angeschoben.

Seit dem Coronaausbruch wird heftig darüber diskutiert, woher das Virus stammt: vom Wildtiermarkt in Wuhan oder aus dem dortigen Labor? Seit es pandemische Ausmaße angenommen hat, entzweit die Suche nach den Ursprüngen des Virus die Trump-Administration und die chinesische Regierung. Gegenseitige Schuldvorwürfe stehen auf der Tagesordnung.  Unterdessen spekulieren englische Medien darüber, welche Rolle Frankreich und Brexit-Unterhändler Michel Barnier beim Aufbau des Wuhan-Labor gespielt haben.

Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler koordiniert in Brüssel gerade den geordneten Brexit. Selbst wenn Barnier ein Mann der Mitte ist, bleibt ein weicher Brexit derzeit wohl eher eine Illusion. Die Fronten zwischen Frankreich und der Downing Street sind mehr denn je verhärtet. Boris Johnsons unverantwortliches Vorgehen bei der Bewältigung des Coronavirus haben die Gräben zwischen den beiden Ländern am Ärmelkanal noch vertieft. Johnson setzte zuerst auf Herdenimmunität und spielte die Gefahr des Virus herab. Ganz anders agierten die Franzosen, die frühzeitig Sicherheitsmaßnahmen im Kampf gegen die Pandemie errichteten und für einen strengen Lockdown plädierten. Nur zwei Parallelen gibt es derzeit noch zwischen Johnson’s England und Barniers Frankreich. Beide Politiker waren die ersten Opfer des Coronavirus und in beiden Ländern wütet das Virus mit einer überproportionalen Sterberate.

Nun holt Barnier das Thema Corona wieder ein. Wie mehrere englische Zeitungen, darunter der „The Telegraph“, „Daily Mail“ und „Express“ mit Berufung auf Insider des französischen Außenministeriums berichten, hatte Barnier den Bau des Wuhan-Virus-Labors als damaliger französischer Außenminister im Jahr 2004 abgezeichnet, bzw. den Kooperationsvertrag mit den Chinesen unterzeichnet. Das Wuhan-Labor wäre damit ohne die finanzielle Unterstützung der französischen Regierung samt Spitzentechnologie unmöglich gewesen. Dies ist umso brisanter, da das chinesische Labor immer wieder beschuldigt wird, das Coronavirus bewusst entwickelt und dadurch eine globale Pandemie ausgelöst zu haben. Fast beschwörend demgegenüber versichert Wang Yanyi, Direktor des Wuhan-Instituts für Virologie, dass die Wissenschaftler an keinem der Stämme geforscht hätten, die für die Corona-Pandemie verantwortlich gewesen seien. Auch Vorwürfe des US-Präsidenten, dass das Virus aus dem Labor entwichen sei, werden aus Wuhan strikt dementiert. Doch eine dunkle Wolke hängt über dem Wuhan-Labor und der chinesischen Regierung, die sich nach wie vor weigern, ausländischen Wissenschaftlern den Zugang zu gewähren. Aber auch die Franzosen, die derzeit von den Briten hart attackiert werden und mit ihren Medien eine aggressive Stimmungsmache gegen Emmanuel Macron fahren, rücken so in den Fokus, China unnötige Unterstützung bei der Entwicklung möglicher Biowaffen geleistet zu haben.

Ursprünglich war das Labor zur Bekämpfung des SARS-Virus gedacht

Michel Barnier, der nach einer Kabinettsumbildung Jean-Pierre Raffarins Nachfolger von Dominique de Villepin 2004 Außenminister wurde und in dieser Funktion nur ein Jahr im Amt war, ist mit der finanziellen Mitförderung des Wuhan-Laborprojektes in die Fußstapfen des ehemaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac getreten. Der später wegen illegaler Parteifinanzierung angeklagte Gründer der Partei „Rassemblement pour la République“, Chirac, drängte nach dem SARS-Ausbruch im Jahr 2003 zur Gründung eines Instituts im Kampf gegen Pandemien. So  etwas wie SARS, das sich schon damals über 26 Länder ausbreitete und für fast 800 Tote verantwortlich war, sollte sich nicht mehr wiederholen.

Doch anstatt mit europäischen Forschungseinrichtung im Kampf gegen Pandemien verstärkt zu kooperieren, hatten die Franzosen damals ausgerechnet den politisch-riskanten, höchst unzuverlässlichen und aggressiv-wirtschaftlich agierenden Rivalen China, die fast letzte große Bastion des Kommunismus, ins Boot geholt.

Jean-Pierre Raffarins chinafreundliche Politik

Eine nicht unerhebliche Rolle bei den Verhandlungen spielte der damalige französische Premier Raffarin. Er galt und gilt als überaus chinafreundlich, ist „Sonderbotschafter“ für China und wird gern von den chinesischen Staatsmedien zitiert. Gerade seine Offenheit China gegenüber, dem er beim Aufbau von Transeurasien eine Schlüsselstellung zuschreibt, ist ein gefundenes Vorzeigeschild für die kommunistische Nachrichtenagentur „Xinhua“.  Raffarins Chinaliebe ging so weit, dass er die „globale Rolle Chinas“ im Kampf „gegen die Umweltverschmutzung“ lobte, „weil es sich dem Pariser Übereinkommen über den Klimawandel verpflichtet fühlt”. Darüber hinaus forderte Raffarin, dass wir „in dieser Welt der Interdependenz“ unser „Denken über alle Formen des Nationalismus hinaus erweitern“ müssen, „um unser gemeinsames Schicksal anzunehmen. Für all dies wird China der Welt nützlich bleiben, so Raffarin auf „Xinhua“ weiter. So etwas ist Öl auf die Maschinen chinesischer Propaganda. Wie eng der Draht Raffarins zu China nach wie vor ist, dokumentierte auch ein Besuch des Politikers im Stab des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Beide besuchten die Volkrepublik 2018, genau in dem Jahr, wo das Wuhan-Institut seine Arbeit aufgenommen hatte.

Es ist diese unheilige Allianz zwischen Frankreich und China, wie sie englische Medien jetzt gern aufziehen und gegen Paris schleudern. Aber eine grundlegende Frage bleibt im Raum: Warum ausgerechnet die auf dem Gebiet der Virologie führenden Franzosen diese Handlungsbeziehungen nun unbedingt auf einem so heiklen Gebiet wie auf dem Sektor der Biowaffen geschmiedet haben, ist im Anbetracht des globalen Führungsanspruch Chinas und der damals schon sich abzeichnenden Machtverschiebung nach Asien erklärungsbedürftig, zumindest aus europäischer Sicht nicht nachvollziehbar.

Dass China in Sachen Biowaffen nicht der verlässlichste Partner der Franzosen sein würde, davor warnten schon vor sechzehn Jahren der französische Geheimdienst und die Generaldirektion für äußere Sicherheit. In geheimen Dossiers riet man Anfang der 2000er Jahre vor einer derartigen Kooperation ab. Die Angst, dass Chinas schlechter Ruf in Sachen Biosicherheit zu einem katastrophalen Leck führen könnte und das kommunistische System die Technologie für die Herstellung von Biokriegswaffen nutzen könne, stand schon damals auf der Agenda der Geheimdienstexperten. Sie waren sich schon früh einig, dass sich die Chinesen nicht an das Abkommen halten würden und Paris die Kontrolle über ein derartig brisantes Unternehmen verlieren könnte.

Barnier schlug Warnungen von Sicherheitsbehörden in den Wind

Dennoch, so der mediale Angriff aus England, soll Michel Barnier den Bau des P4-Labors unterzeichnet haben, wohl wissend, dass eine derartige Forschungseinrichtung nichts anderes als eine nukleare Wiederaufbereitungsanlage, eine bakteriologische Atombombe ist. Die Viren, die in einem P4-Labor getestet werden, sind extrem gefährlich. Daher gelten dort extreme Sicherheitsstufen, Taucheranzüge und Dekontaminationsschleusen inklusive. Diese Tatsache, das es sich hier möglicherweise um einen Teufelspakt mit unbekannten Ausgang handeln könnte, hätten dem sonst so umsichtigen wie aktenkundigen Ex-EU-Kommissar Barnier zumindest Anlass zu mehr Vorsicht geben können. Barnier ist politisch kein Schnellschießer, sondern ein kluger Taktierer, ein versierter Verhandler und bedächtiger Abwäger, der bei Krisen eher auf Vermittlung denn auf Aggression setzt – diesbezüglich der deutschen Kanzlerin wesensverwandt.

Auch später gab es kritische Stimmen – 2015 hatte der Milliardär Alain Merieux hingeworfen

Bereits 2015 hatte sich ein weiterer prominenter Unterstützer des Wuhan-Projektes, Alain Merieux, vom China-Viren-Projekt zurückgezogen. Der Milliardär, der mit seinem Lyoner Institut mit am Aufbau des Labors in Wuhan beteiligt war, schmiss mit der Begründung hin: „Ich gebe den Ko-Vorsitz von dem P4-Labor, einem chinesischen Werkzeug, auf. Es gehört ihnen, auch wenn es mit technischer Unterstützung aus Frankreich entwickelt wurde.“

Auch Insider aus dem diplomatischen Dienst warnten über Jahre hinweg vor der Unzuverlässigkeit der Chinesen. Wie „Le Figaro“ berichtet, waren die mit dem China-Deal verbundenen Risiken zu groß: „Wir kannten die damit verbundenen Risiken und dachten, dass die Chinesen alles kontrollieren und uns schnell aus dem Projekt werfen würden. Wir glaubten, dass die Lieferung dieser Spitzentechnologie an ein Land mit einer endlosen Machtagenda das Risiko mit sich brächte, Frankreich im Gegenzug bloßzustellen.“

Die Befürchtungen der Kritiker wurden noch dadurch befeuert als die chinesisch-kommunistische Volksrepublik mit ihrer neuen Politik der „Dual-Use“-Technologie im Jahr 2015 ihren Streitkräften erlaubte, jede zivile Technologie für militärische Zwecke zu nutzen. Damit war der Dammbruch in Sachen Biowaffen nur noch eine Sache der Zeit und die Schleusentore möglichen Missbrauchs weiter geöffnet.

Selbst wenn nach sechs Monaten nicht geklärt ist, woher der Corona-Infektionsherd tatsächlich stammt, ob aus dem französisch mitfinanzierten Labor oder doch vom Wildtiermarkt, die Kooperation der Franzosen, die so sehr auf ein vereinigtes Europa setzen und für den europäischen Binnenmarkt plädieren, mit den Chinesen wirft kein gutes Bild auf Frankreich als europäisch sich inszenierende Vorzeigenation. Derartige Deals, dies hätte auch der schon damals hoch erfahrene Politprofi Barnier wissen müssen, schließt man nicht mit den größten Konkurrenten Europas ab.

Mit Samuel Beckett durch die Coronakrise

Für viele ist Corona eine Zeit, die sie für neue Veränderungen ihres Alltags stellt. Viele verzweifeln, doch Rettung ist auch in Sicht. Was können wir eigentlich in dieser Zeit der Stagnation von Samuel Beckett lernen?

Eigentlich ist es Frühling, doch es herbstet in Deutschland. Plätze und Straßen waren bis vor kurzem wie leergefegt. Die neuen Kathedralen sind Supermärkte und Tankstellen, die Tempel der Äußerlichkeit. Die Innerlichkeit hingegen musste sich die Domäne der auferlegten Ruhe erst erobern. Der neue Alltag nach Corona immer noch in seinen Anfängen. Das Gewohnte ist zurückgetreten und hatte einer fast mystischen Stille Raum gegeben. Eine bislang unbekannte Grabesstille hatte Deutschland umflankt und der Ritt durch die Zeit sowie die Vermessung der Erde waren in den Wartemodus getreten.

Die Menschheit, die zu neuen Himmeln stürmte, selbst die Ideologen des Transhumanismus kämpften mit dem bloßen Menschsein ums nackte Überleben. Was hilft Robotik und maschinelle Verbesserung der Neuen Menschen als Techno-Bio-Hybrid-System, wenn ein Virus in ungekannter Schnelle, für das Auge nicht sichtbar, sich wie ein Gürtel um die Erde spannt und die Lungen einschürt und zum Auflösen bringt? Der neue Mensch, Nietzsches Übermensch, musste warten, es gilt den alten zu retten, vielleicht den letzten Menschen.

Das Gute in am Schlechten in Zeiten der Krise: die Menschen rückten emotional zusammen – statt Raubierkapitalismus und Egomanie Solidarität und Humanität auf Abstand. Die Alphamännchen dieser Welt, Donald Trump, Wladimir Putin,  Recep Tayyip Erdoğan und Jair Messias Bolsonaro haben als Krisenmanager versagt, ihre Drohgebärden sind eine erbärmliche Kulisse in Coronazeiten. Allesamt waren sie schlechte Baumeister, Statisten der Krise. Die Bühne haben längst die Polizisten, Verkäufer und Ärzte und Krankenpfleger übernommen.

Die stillen Helfer waren es, denen Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“ ein Zeichen gegen das Vergessen setzte. Sie sind es auch heute, die Trost sprechen, die der Verzweiflung vieler im Angesicht der Pandemie ein Stück Menschlichkeit zurückgeben. Im Angesicht des Todes spenden Krankenschwestern, Ärzte und Pflegekräfte Zuversicht und Hoffnung, selbst in den aussichtslosesten Situationen. Sie sind die eigentlichen Heiligen in einer Zeit des Ausnahmezustandes.

Nicht umsonst steht Camus’ Roman derzeit auf den Bestsellerlisten der von der Schreckensherrschaft des Coronavirus Heimgesuchten. Liefert doch die Literatur hier das, wonach die Seele des Menschen dürstet. Sie verkündet die Botschaft, dass Liebe, Solidarität und Humanismus, eine Ethik der Verantwortlichkeit und der Pflicht ist. Die Pragmatik des Helfens scheint scheinbar siegreicher zu sein als der Tod. Camus’ Pest ist eine Trostschrift, eine die den Tod im Gepäck hat und unmittelbar angeht. Und mit ihr wird die Literatur zu einem Stück weit Bewältigung des Lebens.

Absurd erscheint die Zeit in Coronatagen. Und für viele stellt sich die Frage nach dem Sinn in einer Zeit, die bar aller Sinnhaftigkeit ist. Die Leere erfüllt den Raum, die Gefahr der Erschlaffung, der geistigen Reglosigkeit und Langeweile droht und hängt sich wie eine dunkle Wolke über all jene, denen der Alltag abhanden, die in die Arbeitslosigkeit gespült und die der Welt von Gestern verlustig gegangen sind. Paradoxerweise könnte hier ein Autor Trost spenden, von dem man es gar nicht erwartet – der Ire Samuel Beckett und sein „Warten auf Godot“

Samuel Becketts „Warten auf Godot“

Beckett gilt als der Vater des absurden Theaters. Die Interpretationen eines der einflussreichsten Werke der Literatur des 21. Jahrhunderts variieren in der breitesten nur denkbaren Schere wie einst die Romane Franz Kafkas. Beckett hatte sich einer Interpretation immer enthoben. Die Commedia dell’Arte oder die Slapsticks des Stummfilms waren geläufige Interpretationen. Religiöse Deutungen, die Yin-Yang-These von der Gegenpoligkeit von Körper und Geist waren im Spiel. Den sozialistischen Kampf gegen die Ausbeutung ebenso wie Hegels Dialektik von Herr und Knecht gängige Interpretationen. Kritische Thesen über die Verselbständigung der Sprache folgten ebenso wie die existentiell-nihilistische These vom Leben als Wartezustand.

Die beiden Vagabunden Wladimir und Estragon treffen sich auf einer einsamen Landstraße. Sie warten auf Godot, der jedoch nie kommt. Ort und Zeit sind unbestimmt. Außer einem Baum ist weit und breit nichts zu sehen. Beide verkörpern so die existentielle Unbehaustheit des Menschen. Sie stehen für Existenzen an der Grenze von Leben und Tod, verkörpern die ewig enttäuschte Illusion des Wartens und beharren in tragikomischer Hilflosigkeit, die Gewissheit ihres Verfalles überspielend.

In „Warten auf Godot“ ereignet sich buchstäblich wenig, die Zeit steht still. Eine Monotonie regiert, die auf keinen transzendenten Ideenhimmel vertrauen kann, aus dem sie Hoffnung zu speisen vermag, sondern deren einziger Trost darin besteht, im Ungewussten zu verharren. Keine Erlösung winkt, nur blanke Existenz. Das Unveränderliche bleibt so die einzige Konstante in einer ewig sich wiederholenden Welt. Doch bei aller Wiederkehr des Gleichen wird in Becketts Stücken – über die Erfahrung der Negativität hinaus – für eine Transformation ins Positive geworben. Wie bei Camus Sisyphos sein Schicksal annimmt und dieses als sein lebensweltliches Glück versteht, begreifen die Protagonisten Becketts ihren sinnlos verstellten Alltag als ein Hoffen auf Godot, möglicherweise auf Gott, der angekündigt wird, sich der Ankunft aber verweigert oder entzieht. Bei aller Erfahrung von Absurdität spricht Beckett eben auch von „glücklichen Tagen“.

Wie aktuell Beckett in der Zeiten der Coronakrise ist, liegt buchstäblich auf der Hand. Das Absurde kommt im Gewand der Pandemie und stellt die Existenz, sowohl den inneren wie den äußeren Sinn, die Seele und den physischen Menschen, auf das Neue die Probe des Belastbaren. Die Mühen der Ebene scheinen endlos und auch bislang ist kein Ende in Sicht. Denn Corona wird vorerst die Welt beherrschen und wir uns damit arrangieren.

Was bleibt, und dies scheint auch „Warten auf Godot“ zu verkörpern,  ist eine Hoffnung, die nicht geschenkt, die immer über einen Verlust erkauft werden muss. Für Beckett entzieht sich zwar das große Gebäude metaphysischer Spekulationen, doch ein Blick in die heutige Lebenswelt zeigt auch ein dem Schein des alltäglichen Hinvegetierens Entgegengesetztes. Im Umfeld des Sinnlosen wächst der Glaube an das Sinnhafte, an die Stelle von Nihilismus und Verzweiflung gilt es, das Leben in seiner scheinbar beweglosen Schleife zu akzeptieren. Die Gesundheit zu preisen und die kleinen Dinge zu würdigen, die wir sonst als belanglosen Tand verachteten, sollte zur Feier des Tages werden.

Vielleicht führt uns das Ganze aber auch zu einer neuen Religiosität oder zu einem Geist des Umdenkens, durch den wir die Natur wieder entdecken, anstatt diese zu verzwecken und ausbeuten. Hoffnung bleibt das letzte Wort, sie zu verlieren, endete auch für Beckett in der absoluten Katastrophe. Man muss nur lernen, mit dem Absurden zu leben, es ertragen – eine zweifellos schwierige Last und Herausforderung.

Die Pest ist nie verschwunden

Stefan Groß-Lobkowicz15.05.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

Seit fast viertausend Jahren wütet der Pestbazillus Yersinia pestis. Grausam griff er in die Geschichte ein, flankierte seinen Aufstieg mit Millionen Menschenleben. Die Pest war nie wirklich besiegt und das neuartige Coronavirus wird auch so schnell nicht von den Oberflächen dieser Welt verschwinden. Die Zeit der Seuchen ist auch die Stunde der Verschwörungstheoretiker. Dies gilt für die Zeit der Pest ebenso wie für das Coronavirus.

Nachgewiesen hatte man die Pest erst im 21. Jahrhundert bei Untersuchungen eines 3.800 Jahre alten Grabes im russischen Samara. Pasteurella pestis oder Yersinia pestis, von Rattenflöhen übertragen, ist die Geisel der Menschheitsgesichte. Lange bevor der „Schwarze Tod“ in Hochmittelalter und Renaissance und als „Große Pest von London“ die britische Insel von 1665-1666 heimsuchte und innerhalb eines Jahres hunderttausende Opfer forderte, grassierte zwischen 514-770 nach Christi die „Justinianische Pest“ in Europa und Asien. Die Totenberge stiegen damals ins Unermessliche und wuchsen buchstäblich in den scheinbar götterlosen Himmel.

Nach dem oströmischen Kaiser Justinian (527-565) genannt, wütete diese zyklisch im Abstand von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren. Allein mit bis zu 17 tödlichen pandemischen Wellen erlangte sie apokalyptische Ausmaße. Zuerst zermürbte das Bakterium  Ägypten, bevor es sich gespenstisch über den westlichen Mittelmeerraum und das rheinische Germanien verbreitete. Auch in Gallien und Hispanien, in Kleinasien, Syrien, Mesopotamien und Persien grassierte der Tod. Die damalige Hochkultur, der spätantike Mittelmeerraum, war wie heute die zivilisierte und globalisierte Welt Spielball eines pandemischen Ungeheuers. Schon damals hatte sie Massenverelendung, Armut, Hunger und existentielle Nöte im Gepäck. Und nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass sie politisch die Rückeroberung Westroms durch Kaiser Justinian I. zum Teil mit vereitelt und die antike Welt damit gleich mitbegraben hat. Wie sie damals aus dem Nichts heraustrat, verschwand sie 770 wieder – vorerst.

Geschichte wiederholt sich

Doch Geschichte wiederholt sich. Grausamer wird sie zuschlagen und am grausamsten regierte der „Schwarze Tod“ in den Jahren von 1347 bis 1351 in Europa, das – wie heute Covid-19 – einer Kartografie der Infektionsherde glich und die Spur des Todes nach sich zog.

Begünstigten im Mittelalter Armut, nichthygienische Verhältnisse, das Fehlen adäquater medizinischer Methoden und Impfstoffe den Aufstieg der Seuche regiert das Coronavirus heute selbst in hochzivilisierten und medizinisch top-ausgestatteten Industrienationen. Wie die Pest damals fokussiert sich auch Corona heute auf die Großstädte. Wo der Handel blühte, war man am unsichersten, an den Transportwegen und in den Ballungszentren. Innerhalb von fünf Jahren raffte die Pest 30 Millionen Menschen hinweg, knapp ein Drittel der Bevölkerung Europas. Das probateste Mittel, ihr zu entgehen, war die Flucht auf das Land. Meisterlich beschrieben in Giovanni Boccaccios „Decamerone“.

Die Pest scheint unausrottbar. Im 19. Jahrhundert kann sie ihre Schreckensherrschaft 1890 in Indochina und 1897 in Indien erneut errichten. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weit über tausend Pest-Todesfälle über den ganzen Erdball verteilt. Zu einer der größten Pestepidemien kam es im indischen Surat 1994 und 2003 folgte Algerien. Genau 56 Jahre später als der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus 1947 in seinem Roman „Die Pest“ die Chronologie des Todes zeichnete. 2005 breitete sich mit hunderten von Toten die Lungenpest in Bas-Uele im Norden der Demokratischen Republik Kongo aus. 2008 wütete sie in Uganda, Madagaskar und 2009 in der tibetisch geprägten Provinz Qinghai im Nordwesten Chinas. In den Jahren zwischen 2010 bis 2015 wurden über dreitausend Pestfälle und fast sechshundert Pest-Todesfälle registriert – und immer wieder waren China und der südliche Westen der USA Krisenherde, ob 2014 in Idaho, im chinesischen Yumen oder 2019 in der Mongolei – die Pest feiert ihre tödliche Renaissance.

Der Pest kein Ende

Der Pest kein Ende. Zu dieser Einsicht kam bereits der Protagonist, der Arzt Dr. Bernard Rieux, in Camus’ Roman „Die Pest“. Wir spielen immer nur auf Zeit – und der Bazillus wird wiederkommen. Und selbst wenn Camus in seiner Welt des Absurden gegen das Schicksal anstreitet, gegen die Menschheitsseuche rebelliert und den couragierten Kampf gegen die Pest antritt, tödliche Heimsuchungen bleiben ohne Logik und sinnlos. „Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen.  […] Weil die Plage das Maß des Möglichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen […],“ schreibt Camus.

Doch inmitten des Absurden kommt Trost, aus dem Sinnlosen erwächst neuer Sinn, ein sinnerfülltes Leben, das sich in Mut, Verstand und Solidarität manifestiert. Camus schließt seinen Roman mit zwei Botschaften: Die Pest wird zurückkehren, aber was man aus den „Heimsuchungen lernen kann, ist „den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten“. Diese Conclusio gilt auch heute in Coronazeiten.

Hartnäckig wie die Pest halten sich auch in Coronazeiten die Verschwörungstheorien

Doch Camus’ Diktum, „den Menschen  mehr zu bewundern als zu beachten“, mag dann in Schieflage kommen, wo der Mensch die Seuchen instrumentalisiert und missbraucht. Die Stunde der Gefahr ist immer die Stunde der Verschwörung – und je unbekannter die Seuche ist, desto mehr Blüten der Intrige, Desinformation und Lüge werden über ihren Ursprung hervorgetrieben. Fake News sind ja keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, wenngleich sie heute durch die Digitalisierung populärer und umso gefährlicher sind, weil sie millionenfach transportiert und geteilt werden.

Bereits seit einem halben Jahrtausend, mit dem Pestausbruch im 14. Jahrhundert, hält sich hartnäckig die Verschwörungsthese, dass die Juden für die Seuche verantwortlich seien. Faktisch wurden das Volk Jahwes durch die katholische Kirche zu den Brunnenvergiftern erklärt, die als Täter die Auslöschung der Christenheit auf ihrem teuflischen Plan von der Weltherrschaft auf dem Plan hätten. Die Pest als Instrument der Vernichtung. Pogrome und Vertreibung folgten, der Judenhass explodierte und endete zeitversetzt als radikales Böses in den Vernichtungslagern der Nazis.

Dass sich Geschichte wiederholt belegt jüngst ein Schreiben zu den Coronamaßnahmen von hohen Geistlichen und Würdenträgern der katholischen Kirche. In den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, dem Lockdown, wird der Ruf nach einer Weltverschwörung laut, die nicht nur die persönlichen Freiheitsrechte der Einzelnen dauerhaft einzuschränken sucht, so der Vorwurf, sondern nichts anders anvisiert, als einen „Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“. Weiter heißt es: „Es sind Tatsachen, dass unter dem Vorwand der Covid-19-Epidemie in vielen Fällen unveräußerliche Rechte der Bürger verletzt und ihre Grundfreiheiten unverhältnismäßig und ungerechtfertigt eingeschränkt wurden, einschließlich des Rechts auf Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Freizügigkeit.“ Zu den Unterzeichnern des dreiseitigen Dokumentes zählen der frühere Päpstliche Botschafter in den USA, Erzbischof Carlo Maria Vigano, der ehemalige Regensburger Bischof, Kardinal Gerhard Ludwig Müller und Kardinal Joseph Zen Ze-kiun aus Hongkong.

Während Verschwörungstheorien gegen Bill Gates Konjunktur feiern und gleichwohl solche, die den 5 G-Ausbau in Wuhan für die Pandemie verantwortlich machen, ist der Tenor aus den Händen der Kirchenvertreter ein anderer und läuft diametral zur Coronastrategie des römischen Pontifex – Papst Franziskus. Nicht nur, dass Müller und Co von Panik sprechen, Hysterie säen, die Bevölkerung gegen Staat und Lockdown aufhetzen und gar an der Ansteckungsgefahr des Virus zweifeln, sie benutzen die Pandemie als bewusste Stimmungsmache gegen ihren Erzfeind, den reformfreudigen Bischof von Rom. Dessen Offenheit gegenüber dem Synodalen Weg, seine Task Force im Kampf gegen den Kindermissbrauch und gewisse Zugeständnisse bei Freiheiten jeweiliger Ortskirchen ohne „lehramtliches Eingreifen“, sind den Ultrakonservativen ein Dorn im Auge. Die neue Offenheit aus dem Vatikan rüttelt zu sehr an den Grundfesten einer der ältesten Institutionen. Aber im Kampf gegen Franziskus sind den Kritikern eben alle Mittel recht – und sei es selbst das Coronavirus. Doch mit ihrem Schreiben, das von der Deutsche Bischofskonferenz unterdessen heftig kritisiert wurde, befördern sie nicht den Geist christlicher Solidarität für die Papst Franziskus steht. Es ist und bleibt ein Dokument der Selbstinszenierung eitler Bischöfe auf dem Abschiebegleis.

Der Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer, hatte auf Facebook den Unterzeichnern eine Selbstentblößung vorgeworfen. Er sei fassungslos, „was da im Namen von Kirche und Christentum verbreitet wird: krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampfrhetorik, die beängstigend klingt.“ […] Mit Jesus Christus haben derartig wirre Thesen, die Ängste schüren, Schwarz-Weiß-Denken verfolgen, üble Feindbilder zeichnen und das Miteinander in unseren Gesellschaften vergiften, nicht zu tun.“

Der traurige Befund: Die Verschwörungen bleiben und sie gewinnen dort an Macht, wo das Wissen fehlt oder der pure Wille zur Macht regiert.

„Pauschal und willkürlich Gebühren erhöhen, ist keine Lösung“

Stefan Groß-Lobkowicz14.05.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

Matthias Hach, Marketing- und Vertriebsvorstand der comdirect bank AG, über digitale Herausforderungen und warum sowohl FinTechs als auch die großen Internetkonzerne nicht als Konkurrenten gesehen werden sollten.

The European: Herr Hach, das Umfeld für Banken ist herausfordernd, wie noch nie. Wir haben anhaltend geringes Zinsniveau. Der Wettbewerb, auch durch branchenfremde Akteure, wie FinTechs und GAFAs, nimmt zu. Wird es zu einer Konsolidierung der Banken-landschaft Deutschlands kommen?

Matthias Hach: Ja, tatsächlich ist es so, dass die Bankenlandschaft, natürlich verbunden mit den Niedrigzinsen und steigender Regulatorik, die auch Kosten nach sich zieht, für alle sehr herausfordernd ist. Für viele Institute kommen nun noch Kreditausfallrisiken durch die Coronakrise hinzu. Jede Bank muss für sich einen Weg finden, damit umzugehen. Ich glaube, alleine Kosten sparen oder Gebühren erheben reicht nicht. Banken müssen sich Gedanken machen, wie sie in dem neuen Umfeld mit den genannten Wettbewerbern umgehen und wie sie es schaffen, ertragssteigernde Maßnahmen für sich abzubilden.

The European: Können Gebühren die Lösung sein?

Eigentlich nein. Gebühren können sicher kurzfristig eine Lösung sein. Sie können auch dabei helfen, spezielle Angebote oder Dienstleistungen zu bepreisen. Bei einer Direktbank wie comdirect können das beispielsweise Services sein, die der Kunde selbstständig auf der Website durchführen könnte, dafür aber unseren Kundenservice in Anspruch nimmt. Pauschal und willkürlich Gebühren zu erhöhen, stößt auf wenig Verständnis beim Kunden. Man sollte viel mehr darüber nachdenken, Dienstleistungen zu kreieren, die der Kunde auch bezahlen möchte, weil sie für ihn praktisch sind und einen Mehrwert bringen.

The European: Mit was könnten Banken punkten?

Auf jeden Fall mit Digitalisierung. Wir sehen das bei comdirect an der Entwicklung in den letzten vier, fünf Jahren. Wir haben die comdirect App lanciert, mit Sprach- und Chatüberweisung. Heute erfolgt jede vierte Transaktion unserer Kunden mobil. Wir waren beim Deutschlandstart von Apple Pay und Google Pay dabei. Kunden wollen verstärkt mobil bezahlen, die Coronakrise hat das noch einmal beflügelt. Wir haben Voice Banking über Sprachassistenten und kürzlich den digitalen Versicherungsmanager in den Markt gebracht. Dienstleistungen und Services, die vielleicht nicht ganz banknah sind, aber wo wir als smarter Finanzbegleiter unserer Kunden agieren und natürlich auch zusätzliche Erträge generieren können.

The European: Wie generieren Sie bei der Comdirect Innovation?

An ganz vielen Stellen. Natürlich intern. Wir haben eigene Innovationslabs sowie Innovations- und Bootcamps, die wir intern veranstalten.  Über die comdirect Start-up Garage kooperieren wir mit Externen. Und auch über unsere Collabothons, das sind branchenübergreifende Hackathons, und unsere Finanzbarcamps bekommen wir frische Impulse von außen. Ideen kommen bei uns von überall her, sei es  von Mitarbeitern, Kunden oder Start-ups.

The European: Haben Sie keine Angst davor Kunden zu verlieren, wenn Sie mit GAFAs  arbeiten?

Nein, tatsächlich nicht. Diese Frage wurde uns schon häufiger gestellt, weil wir einer der ersten sind und waren, die mit GAFAs zusammenarbeiteten. Wir sind jetzt seit drei Jahren mit GAFAs, im Speziellen mit Amazon, Google und Apple, unterwegs und unter dem Strich kann man sagen, dass die Produkte von den Kunden angenommen werden, sei es Voice Banking oder Mobiles Bezahlen. Kunden kommen zu uns, weil wir diese Produkte und Services anbieten. Das sorgt tatsächlich auch für Neukundenzuwachs.

The European: Wird 2020 ein schwieriges Jahr für die Bankenbranche?

Nicht schwieriger als 2018 oder 2019. Ich glaube aber genauso herausfordernd, weil wir alle das Tempo der Digitalisierung spüren, nicht zuletzt auch durch die Coronakrise, die das Kundenbedürfnis nochmal verändert hat. Auch Kunden, die vorher eher analog Bankgeschäfte erledigt haben, erwarten nun digitale Services. Hier müssen viele Institute nachbessern, insbesondere, wenn diese Services intuitiv bedienbar sein sollen, wie es Kunden aus anderen Bereichen gewohnt sind. Wir Banken müssen uns anders aufstellen, um dem Wettbewerb mit FinTechs, GAFAs und Vergleichs-Portalen gerecht zu werden.

Die Fragen stellte: Stefan Groß

Christian Lindner kritisiert Thomas Kemmerich

Stefan Groß-Lobkowicz11.05.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Die Virologen haben vor einer weiteren Verbreitung des Coronavirus gewarnt. Auch die Kanzlerin warb am Montag für ein erneutes Vertrauen in die Maßnahmen des Staates nach dem Lockdown. Doch was sich bei den Corona-Demos abspielt, widerspricht dem Gesunden Menschenverstand.

Corona – Die neue Metaphysik

Selten hatten Wissenschaftler so eine Deutungshoheit wie in Zeiten der Coronakrise. Aber wenn die Stunde schlägt, werden selbst scheue Virologen zu Erklärern der Wirklichkeit –Wahrheitsanspruch inklusive. Doch genau besehen sind die Deuter selbst in permanenter Selbstkorrektur. Die Deutung der Virologen gleicht einem Eiertanz um die Wahrheit. Auch ihnen ist das Coronavirus eine Art metaphysischer Rest, das sich permanent dem klaren Verstand entzieht. Wie die albanische Weissagerin durch die gläserne Kugel geben sie okkulte Ratschläge zur Bekämpfung und predigen eine Heuristik der Furcht, die einen das Gruseln in einer anderen Dimension neu erlernen lässt. Denn im Angesicht des Virus zeichnen sich alle Mühen der Wissenschaftler durch eine bemerkenswerte Hilf- und Ratlosigkeit aus. Corona erscheint als neuer Gott und die Wissenschaft darüber wie eine neue Metaphysik, die sich aber wie die alte nur deutend an Inhalt, Form und Erscheinung des Absoluten oder Verborgenen anzunähern vermag. Das hat sich nach zwei Monaten Viruskrise bis heute nicht verändert.

Die Zeiten der Aufklärung scheinen im 21. Jahrhundert vorbei. Nie gab es weniger Wissen über das Nichtwissen hatte Jürgen Habermas erst jüngst kritisiert und nie eine größere Vielstimmigkeit der Meinungen zu einem ganz konkreten Sachverhalt. Und in der Tat, diese neue Unübersichtlichkeit prägt gravitätisch unseren Alltag.

Der Tanz der Virologen und Wissenschaftler

Auf der einen Seite plädierten Christian Drosten und Co mit aller Nachhaltigkeit auf Entschleunigung, Kontaktsperren und favorisierten den Shutdown als Präventiv samt kategorischen Abstands-Imperativ. Dagegen hielt die älteste und wohl seriöseste Wissenschaftsakademie der Welt, die „Leopoldina“, ein Ende des Lockdowns für das Gebot der Stunde und gab ein interdisziplinäres Plädoyer für einen geordneten Rückzug in den Alltag. Im bunten Allerlei verwirrte auch eine Aussage von Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, der gerade als sich alle sechzehn Bundesländer auf das Tragen von Atemmasken geeinigt hatten, dem Tragen des Mundschutz zur Coronaeindämmung eine radikale Absage erteilte, ja, die gesetzliche Maskenpflicht für grundfalsch erklärte. Zuvor haderte auch das Robert Koch Institut über die Schutzfunktion von Masken, bevor es diese zumindest zum Selbstschutz empfahl.

Für den Verbraucher derartig breitgefächerter und sich einander ausschließender  Interpretationen gebiert dies aber nur noch Unübersichtlichkeit, die die fehlenden Informationen während der Flüchtlingskrise gar noch zu überbieten drohen. War Deutschland schon 2015 in Migrationbefürworter und -kritiker gespalten, so in Coronazeiten umso mehr. Der harte Kampf zwischen den Lockdown-Befürwortern und -gegnern ist entbrannt. Der Kampf um Verbote und Öffnungen hat sich vom Kanzleramt in den Straßenkampf verlegt und feiert dort das Fest der reinen Unbekümmertheit. Angela Merkels Kassandrarufe sind mit den bundesweiten Lockerungen im gleichen Umfang verflogen wie die sechzehn Landesfürsten in föderaler Vielstimmigkeit nun geradezu Öffnungsorgien feiern. Wie schon vor Jahrhunderten ist Deutschland wieder in seine kleinen Fürstentümer aufgespalten, die den herrschaftsfreien Diskurs als neue Souveränität gegen den Souverän feiern. Aber wenn es schief geht, können sie es dieses Mal nicht der Kanzlerin anlasten, die den Selbstermächtigungsorgien eine radikale Absage erteilte und sich letztendlich – im Falle des Scheiterns und einer zweiten Welle – zumindest unbeschadet als moralische Instanz hinausretten kann.

Corona-Demos beschädigen den Staat

Was sich aber jetzt auf den Straßen mit den neuen Corona-Demos als Foren unter dem Deckmantel des „liberal-freiheitlichen” Protestes gegen den Shutdown abspielt, gleicht einer Farce. Die Lockdown-Gegner schlagen über die Strenge und überschreiten das Maß des Gesunden Menschenverstandes. Die Revolte wird zum Happening, freiwillige Coronainfektion eingeschlossen oder gar bewusst gewollt. Wer bei derartig leichtsinnigen Darbietungen die Wahrung der Bürgerrechte vertreten wissen will, geht fehl. Sie sind nichts anderes als egoistische Manifestationen von irrlichtartig dahinschwirrenden Selbstinszenierern, die bewusst auf Konfrontation mit dem Staat gehen, weil sie weder Abstand halten noch Mund/Nasenschutz/Bedeckung tragen. Wenn sich Politiker wie der Eintags-Ministerpräsident von Thüringen, Thomas Kemmerich, zu derartigen okkulten Märschen missbrauchen lassen, dann haben Christian Lindner (FDP) und Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) mit ihrer Kritik an einem derartig verantwortungslosen Umgang in der Coronakrise Recht. Lindner kritisierte die Aktion des Thüringer Landesvorsitzenden dann auch scharf: „Die Aktion von Thomas Kemmerich schwächt unsere Argumente. Ich habe dafür kein Verständnis“ und Ramelow twitterte „Vorbildfunktion? – Fehlanzeige!“ Zwar hatte sich Kemmerich später für seine Teilnahme entschuldigt, doch für den nach der Ministerpräsidentenwahl im AfD-Stimmen ohnehin angeschlagenen FDPler bleibt es kein Ausweis für sein politisches Gespür.

Wer das „Lebe gefährlich“ Nietzsches prädestiniert, geht wie in Berlin, München und Gera maskenlos auf die Straße, provoziert den Staat und treibt die Schere zu den Lockdown-Gegnern weiter auseinander. Das Ergebnis wird eine weitere Polarisierung der Gesellschaft sein, die dann gar keines Populismus, sei er von rechts oder links ausgreifend kommend, bedarf, um weiter auseinander zu driften.

Noch mehr Transparenz von der Politik

Wenn es zum Wesen der Wissenschaft gehört – wie schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel betonte – sich in Widersprüche zu verstricken, um aus Fehlern zu lernen, muss die Politik jedoch wieder umso transparenter werden und vor allem für die Bürger verständlicher ihre Maßnahmen und Verbote kommunizieren. Sonst droht sie nicht nur missverstanden, sondern zu einem unbekannten Akteur mit metaphysischen Qualitäten zu werden, den niemand versteht. Derartige Transparenz hatte die Bundesregierung aber schon im Flüchtlingsjahr vermissen lassen und die AfD auf den Plan gehoben. Verfängt sie sich in derselben Intransparenz wie 2015 könnte mit der ausufernden Zahl von Corona-Demos eine zweite Pandemiewelle auf uns zurollen, die mit Sicherheit verheerender wird.

Merkels fünfte Amtszeit?

Stefan Groß-Lobkowicz1.05.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise oder Corona – wenn es um die pure Existenz ihrer Landeskinder geht, meldet sich die Kanzlerin zurück. Dafür wird sie in den Medien mittlerweile als weitblickende, warmherzig-menschliche und rechtstreue Heilige verehrt. Selbst ein alter Rivale bescheinigt Merkel jetzt Führungsqualität. Horst Seehofer (CSU) attestiert ihr Tugenden, die die CDU-Politikerin für eine fünfte Amtszeit qualifizieren.

In Ausnahmesituationen scheint Merkel immer wieder Kraft zu tanken, ja, die Ausnahme ist die Stunde der CDU-Politikerin. Während in Deutschland ein föderales Chaos bei der Bewältigung der Coronakrise herrscht, der Lockdown entweder kritisch in Frage gestellt oder als absolutes Heil verkündet wird, Angela Merkel hat ihren Kreuzfahrtluxusliner im Hafen vor Anker fest vertäut. Nur keiner weiß: Ist es die „Titanic“ oder die „Arche Noah“?

Bloß nicht „zu forsch“

Bloß nicht „zu forsch“ bleibt das Credo der Kanzlerin der Mitte, die auch in der Coronakrise das Steuerruder auf Standby setzt und die Schiffsrotoren zur Langsamkeit nötigt. Als Kapitän_in zu Land meidet die Bundeskanzlerin derzeit die hohe See mit ihren Abenteuern, Unübersichtlichkeiten und Gefahren. Die durch Finanz- und Flüchtlingskrise erprobte Steuerfrau hat die Lichter an Bord gedämpft. Statt Unrast, Hektik und willfähriger Entscheidungen regiert Entschleunigung. Und wie Rettungsboote sekundieren sich die Grünen und die LINKE um das große Merkelschiff, schmiegen sich um die sonst Unliebsame, flankieren die brüchigen Steuerbord- und Backbordflächen des Kreuzers und schützen die Kanzlerin auf ihrem Flug durch die Zeit. Nur Christian Lindner (FDP) und die AfD um Alexander Gauland haben Merkels „Arche Noah“ oder „Titanic“, die Kommandobrücke mit ihren besonderen Maßnahmen der eingeschränkten Grund- und Menschenrechten, verlassen. Sie sind in die Schnellboote gestiegen und in die offene See gestartet – Ausgang ungewiss. Einzig Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef, sind derzeit noch auf der Brücke. Während Söder schmiegsam den Kurs hält, bringt Laschet Unruhe in Merkels ungetriebene, gefühlte Ewigkeit. Der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Dietmar Bartsch brachte es auf den Punkt „Es ist problematisch, wenn Coronakrise und Kür des Union-Kanzlerkandidaten zusammenfallen. Da sind Herr Söder und Herr Laschet ein Stück weit verhaltensauffällig. Frau Bundeskanzlerin, es geht um das Leben und die Existenz von Menschen, nicht um die Karrieren in der Union.“

Schneller, Höher, Weiter – Die Stunde der Herausforderer

Der Kampf um den Lockdown ist zum Überbietungswettkampf der föderalen Ordnungshüter geworden, die Ministerpräsidenten wittern ihre Chance. Die Coronakrise scheint ja auch die Stunde der Ministerpräsidenten zu sein. Während Merkel missverständlich von „Öffnungs-Diskussions-Orgien“ sprach und Alleingänge der Ministerpräsidenten kritisierte, für Ruhe und Demut im Kampf gegen das Coronavirus warb, um den Status quo nicht zu gefährden, trumpfen die Föderalisten gegen den Ausnahmezustand oder schmiegen sich eben an die weichen Schultern der Übermutter.

Merkels Herausforderer, Norbert Röttgen und Friedrich Merz, sind derzeit deklassifiziert. Sie haben einfach nicht die politische Mächtigkeit und Möglichkeiten sich wie Markus Söder oder Armin Laschet zu inszenieren. Die Ersatzbank ist derzeit ihr Terrain und das taktische Spiel heißt abwarten bis einer der Big Player einen Fehler macht. Dann könnte die Stunde beider, zumindest wenn es um Merkels Nachfolge geht, kommen. Doch bis dahin gilt ein zermürbendes Warten. Während die einen in der politischen Teilnahmslosigkeit versinken, die Ohnmacht spüren, schwebt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als Seiltänzer im Drahtseilakt über die leere Fußballarena.

Söder contra Laschet

Pragmatischer als Spahn agieren hingegen seine Konkurrenten Laschet und Söder. Sowohl der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen als auch der bayerische Ministerpräsident sind die neuen Ordnungshüter der Nation und laufen sich für die Kanzlerschaft bereits warm. Doch das machen sie zuhöchst unterschiedlich. Während der Merkel-Getreue Laschet, lange ein ergebener Diener der Kanzlerin, der ihr auch in schwierigen Zeiten die Treue hielt, jetzt ohne Trainerin selbst die Zügel der Macht ergreift und gegen das politische Berlin zu Hochform aufläuft, ist der Bayer ganz Merkel-konform. Selten gab es solch eine Harmonie zwischen der CSU-Kampfzentrale um dem Bundeskanzleramt.

Söder, einst Urbild der Beschleunigung, ist zum Marathon- und Ausdauerläufer geworden, der mit fast messianischen Gesten und mit weiser landesväterlicher Manier seine Bürger vor den todbringenden Fängen des Virus zu retten versucht. Und das zeigt Wirkung: Nach Franz Josef Strauß liegt ihm fast das ganze südliche Bundesland zu Füßen und nicht nur die Südkurve winkt ihm zu. Während also Markus Söder den Marathon probt und den Ausnahmezustand zu wahren sucht, für bedachte Lockerungen plädiert, läuft Armin Laschet zwar nicht Amok, aber Kurzstrecke und das mit Rekordgeschwindigkeit. Wo Söder auf Distanz und Abstand geht, macht Laschet genau das Gegenteil, er beschleunigt auf Biegen und Brechen. Wenn Söder sogar das Oktoberfest opfert und damit die Bayern der seelischen wie physischen Selbstbehauptung beraubt, kann Laschet gar nicht schnell genug das nächste Möbelhaus eröffnen. Wo der eine die Latte beim Hochsprung hoch hängt, damit die sportliche Hürde bleibt, hängt der andere sie dauernd niedriger.

Der Countdown läuft

Soviel aber ist klar. Für beide ist die Coronakrise der Ernstfall, der über die Kanzlerschaft entscheidet. Wer jetzt gewinnt, krönt sich letztendlich in Berlin zum Kaiser. Selbst wenn es aus München tönt, dass diese Schattenspiele der Macht keineswegs den Thron von Merkel anvisieren, bereitet sich doch Söder insgeheim auf die Nachfolge – ebenso wie Laschet – vor. Beide haben das Kanzleramt fest im Blick, der Entschleuniger und der Beschleuniger. Merkel liegt zwar derzeit fest vor Anker, aber sowohl von München oder Düsseldorf aus will man ihr das Tau kappen.

Doch sowohl für Söder als auch für Laschet könnte die Stunde der verschiedenen Geschwindigkeiten auch zur Stunde des Niedergangs werden. Macht Laschet so radikal weiter, droht ihm nicht nur die Kanzlerin mit Liebesentzug, sondern auch das Gros der Ministerpräsidenten, die noch fast geschlossen mit der Kanzlerin vor Anker liegen. Laschet wäre allzu schnell isoliert und der späte Traum vom Kanzleramt in absolute Sehnsuchtsferne gerückt. Umgekehrt könnte Söder scheitern, wenn er zu lange am Lockdown festhält. Zwar kann er mit diesem Kurs derzeit punkten, doch selbst die exportstarke bayerische Wirtschaft und vor allem den Freiheitswillen der Bürger darf auch er nicht zu lange auf die Warteliste schieben. Sonst wird auch Söder scheitern. Dies hingegen wiederum wäre eine Sternstunde für den Ex-CSU-Chef und ex-bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Seehofer hat aus seiner Abneigung gegen Söder nie einen Hehl gemacht, sein Scheitern wäre ihm pure Genugtuung. Gerade wo Söder in die Falle laufen könnte oder den Staffelstab gar von Merkel übernehmen könnte, spricht der Innenminister von einer fünften Amtszeit der Bundeskanzlerin, die Deutschland „gerade sehr stark durch die Krise“ führt. „Strategische Führung“ attestiert Seehofer der Kanzlerin und betont: „Wir können froh sein, dass wir in dieser Situation eine solche Kanzlerin an der Spitze unseres Landes haben.“

Wenn Laschet scheitert und Söder nicht die Kanzlernachfolge antreten will, dann geht Angela Merkel alternativlos in die nächste Amtszeit.

Der Rummelboxer der Bundesrepublik ist tot

Norbert Blüm24.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Der CDU-Politiker Norbert Blüm ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Mit Blüm, der einzige Minister, der Bundeskanzler Helmut Kohl die ganzen 16 Jahre seiner Regierungszeit im Kabinett begleitete, hat Deutschland einen Politiker verloren, der nicht nur ein versierter “Rummelboxer der Politik” war und keinen Schlagabtausch scheute, sondern einen Denker, der sich immer wieder zur Christlichen Soziallehre bekannte. In Erinnerung an einen großen Politiker, der das Gesicht der Bundesrepublik prägte, stellen wir Ihnen hier Interview mit dem ehemaligen Politiker zum Lesen erneut zur Verfügung.

Herr Dr. Blüm, Sie sprechen unter anderem in Ihrem Buch „Ehrliche Arbeit, Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier“ von der Liturgie der Globalisierung! Die Rede ist aber auch von der Infantilisierung der Gesellschaft, was ist damit gemeint?

Das Herzwort des Neoliberalismus ist das Wort „Mehr“ und immer „Mehr“. Ohne Wachstum ist die neoliberale Welt nicht denkbar. Das ist aber eine kindliche Illusion. Und das Wesen der Erziehung muss es sein, zu lernen, dass die Welt Grenzen sowie das Leben Grenzen hat. Der heutige Finanzkapitalismus ist von der Raffgier erfasst und hat sich damit von der wirklichen Welt entfernt. Die Finanzmärkte übertreffen bei weitem die Wertschöpfung, sie laufen seit Jahren der Wertschöpfung davon, und dies ist ein kindliches Denken, das gerade zusammenbricht.

Sie rechnen in vielen Ihrer Publikationen mit dem Finanzkapitalismus ab! Wie kann man in der modernen Welt sinnvoll gegen den homo oeconomicus kämpfen und warum ist die neoliberale Nutzenmaximierung vernunftwidrig?

Weil dieser homo oeconomicus eine Kunstgestalt ist, die es gar nicht gibt – der Mensch hält es nicht aus, immer zu kalkulieren, immer zu rechnen. Liebe, Vertrauen, Solidarität, die besten Sachen, die wir Menschen kennen, haben mit Nutzenmaximierung rein gar nichts zu tun. Wenn einer eine Beziehung angeht, mit der Frage, was er davon hat, soll er gleich damit aufhören. Und insofern befriedigt diese Art von Weltanschauung die tiefen Sehnsüchte der Menschen nicht, sie ist deshalb auch nur von einer beschränkten Lebensdauer. Der Mensch lässt sich diese Reduzierung auf Nutzenmaximierung nicht gefallen, ihm gefällt es nicht, dass er ständig rechnen muss. Für mich ist dieser Schnäppchenjäger, zu dem wir ja konditioniert werden, der Prototyp dieser neuen Welt, in der der Mensch ständig die Preise vergleicht. Ein Mensch, der dazu gezwungen ist, morgens drei Stunden früher aufzustehen, um die Preise von Lidl und Aldi zu beobachten – wir haben doch Besseres zu tun.

Früher forderten Sie einen Kampf gegen die Vergesellschaftung der Wirtschaft, wie stehen Sie heute dazu?

Man muss den Spieß umdrehen. Ich habe früher zu recht gegen die Sozialisierung der Wirtschaft gesprochen, also die Vergesellschaft der Wirtschaft, heute muss ich mich gegen die Verwirtschaftung der Gesellschaft aussprechen. Es gibt kaum noch einen Bereich, der inzwischen nicht von Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerb bestimmt wird. Selbst der Kernbereich des Staates ist schon erfasst, es gibt Justizvollzugsanstalten, wo der Strafvollzug privaten Firmen übergeben wird. In Amerika gibt es mehr private Macht als staatliche Polizei, im Irak mehr Söldner als staatliches Militär. Das sind aber nur Symptome. Alles gerät unter das Diktat der Wirtschaft – selbst die Ehe. Wir reduzieren diese als Lebensabschnittspartnerschaft, weil irgendwann jemand anderes kommen könnte, der noch besser ist, also können wir uns nicht festlegen.

Welche Aufgabe könnte nach dem Scheitern von Sozialismus und Kapitalismus der Katholischen Soziallehre zukommen?

Dort, wo ihr Platz immer war. Gleich weiten Abstand zu halten zwischen Individualismus und Kollektivismus; der Kapitalismus wie der Kommunismus, sie haben nur eine Seite des Menschen im Blick, und die haben sie für das Absolute erklärt, der Kapitalismus – das Individuum und der Kommunismus das Kollektiv. Die christliche Soziallehre hingegen sieht den Menschen in seiner Ganzheit, in seiner Doppelgesichtigkeit, er ist sowohl Individuum mit individuellen Rechten und Pflichten wie Sozialwesen mit sozialen Rechten und Pflichten. Und diese Balance muss ständig neu eingependelt werden. Im Moment hat die Welt eine Schlagseite zu einem losgelassenen Individualismus und dagegen muss sich die Katholische Soziallehre wenden. Dies beginnt damit, dass sie auch die großen Institutionen des sozialen Lebens stärkt, beispielsweise die Familie, die gerade ruiniert wird. Um ein Beispiel zu geben: Nach einem Bundesgerichtshofsurteil soll eine Frau, die bisher halbtags gearbeitet hat, ganztags arbeiten, um Unterhalt zu erhalten, mit anderen Worten, die Mutter mit Kind soll genauso viel arbeiten wie der Vater ohne Kind. Hieraus lässt sich nur schlußfolgern, dass Erziehungsarbeit offenbar gar keine Arbeit ist. Hier zeigt sich schon sehr deutlich wie die Familie unter die Gesetze des Arbeitsmarktes gestellt wird.

Was verstehen Sie unter der neuen sozialen Verantwortung? Wie soll der künftige Sozialstaat konkret aussehen?

Das wichtigste Prinzip, dass wir aktivieren und vitalisieren müssen, ist die Subsidiarität, eine gegliederte Gesellschaft also, nicht eine uniformierte. Subsidiarität darf nicht isoliert werden, sonst führt dies zu einem Missverständnis. Subsidiarität funktioniert nur im Zusammenhang mit der Solidarität. Ohne Solidarität hängt die Subsidiarität in der Luft, die Subsidiarität ist das Kompetenzprinzip der Solidarität. Sie gliedert die Gemeinschaft nach der Vorfahrtsregel – zuerst die kleineren Gemeinschaften, deshalb fängt Gliederung der Gesellschaft bei der Familie an, deshalb müssen wir mehr Sozialversicherungen, nicht staatliche steuerfinanzierte Alterssicherheit und nicht kapitalgedeckte Privatversicherungen fördern – und auch nicht reine Privatversicherungen. Sozialversicherung also, und die kann selbst verwaltet werden, ohne Tarifautonomie; wir haben die Sozialpartner dezimiert, dies ist ja als Tarifkartell attackiert worden, trotzdem nimmt die Tarifpartnerschaft dem Staat Arbeit ab, sie ist also eine subsidiäre Einrichtung. Ich will drei Institutionen nennen: Familie, solidarische Sozialversicherung, die selbst verwaltet wird, und Tarifpartnerschaft. Und wenn man an das große Europa denkt, kann diese Idee nur mit Hilfe des Prinzips der Subsidiarität gelingen. Europa funktioniert weder mit nationalstaatlichem Egoismus noch mit größtem Zentralismus, sondern nur mit einer gestuften Verantwortung.

Was heißt, daß die Ordnung der Dinge der Ordnung der Personen untergeordnet werden soll? Was verstehen Sie unter einem Sozialstaat, der auf dem Selbstbewußtsein der Personen beruht?

Dies ist ein Kernsatz eines großen Konzilsdokumentes – „Gaudium et Spes“. Darin ist die ganze Katholische Soziallehre verdichtetet; nämlich dass der Mensch, die Person, wichtiger als irgendeine Sache ist. Am Menschenbild entscheidet sich das Schicksal einer Gesellschaft. Was ist der Mensch? Ist er ein autark-autonomes Wesen, was machen kann, was es will, oder hat es Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen? Also die Person muss wiederum einen gleich weiten Abstand zu Individualismus und Kollektivismus halten, die Person ist der Platzhalter einer Integration des sozialen und des individuellen Wesen des Menschen. Zwar muss die Katholische Lehre einen Beitrag zur Zeit leisten, darüber hinaus aber hat sie einen zeitlosen Kern – die Würde der menschlichen Person, und diese Würde hat ihren letzten Anker darin, dass sie Abbild Gottes ist, eine höhere Würdigung gibt es gar nicht. Das gilt für alle Menschen dieser Erde, ohne Ausnahme. Dieses Abbildsein, nicht vom Staat, sondern von Gott gegeben, das ist unser stärkstes Bollwerk zur Verteidigung des Menschen.

Beispiel Atomkraft! Wo sehen Sie hier die Dialektik der Aufklärung am Werk?

Bei diesem Thema habe ich dazugelernt. Ich war immer der Meinung, die Atomkraft sei die Spitzentechnologie der Zukunft, aber nicht erst seit Fukushima muss man darüber nachdenken, dass bis heute keine Antwort auf die Frage der Entsorgung gegeben wurde. Wir überlassen diese den nachfolgenden Generationen, ohne ihnen dafür eine Antwort geben zu können. Mit anderen Worten: Wir handhaben etwas, dass wir nicht beherrschen – und dies halte ich tatsächlich für Magie, das ist Beschwörung. Statt Beherrschung – Beschwörung. Wir haben aber nicht nur Verantwortung für die Lebenden, sondern auch für die künftigen Generationen, wir können diesen doch kein Müll hinterlassen, von dem wir nicht wissen, wie sie diesen entsorgen, hinterlassen.

Sie immer wieder Bezug zu den unterschiedlichsten Philosophen, Sie haben selbst Philosophie studiert und gelehrt. Haben Sie einen Favoriten, von dem Sie sagen könnten, dessen philosophisches Denken für Ihr Leben und Denken prägend war?

Nein. Die Philosophie ist so groß, dass sie die Wahrheit nie ganz hat, die Wahrheit ihr nicht ganz erscheint. Deshalb nähern sich die unterschiedlichsten Philosophien von allen Seiten dem vom uns nie ganz zu erfassenden Begriff der Wahrheit an. Ich würde mich daher weigern, eine Hierarchie aufzumachen. Allerdings gebe ich zu, dass meinem Lebensverständnis das Denken des Thomas von Aquin in der Nachfolge des Aristoteles entspricht. Thomas von Aquin unterscheidet sich vom platonischen Idealismus mit Aristoteles, dass er die Ideen in den Sachen sucht. Und vom Materialismus unterscheidet ihn, dass die Ideen, das Wesen, unser Telos ist, das, wohin wir uns entwickeln sollen, während der Materialismus jede Idee als gestaltgebend abstreitet. Thomas von Aquin bleibt für mich der Vertreter der aristotelischen Mitte.

Sie haben bei Papst Benedikt XVI. Theologie studiert! War er ein strenger Lehrer?

Nein. Ich habe ihn in Bonn als jungen Theologieprofessor kennengelernt. Dort war er für die Bonner Studenten eine Ausnahmegestalt, weil er mit großer Zartheit die kompliziertesten theologischen Fragen mit sanfter Stimme erklärt hat. Ratzinger kommt selbst ja aus der Tradition des heiligen Augustinus, und dies ist eine Tradition, in deren Mittelpunkt die Liebe steht: „Liebe und dann tue, was du willst“, dies ist der schönste Satz des Heiligen Augustinus’, dies ist kein Satz der Willkür, denn richtig voll zu lieben, heißt Anerkennung des Anderen; Benedikt XVI. ist ein Papst, der von seiner theologischen Herkunft auch starke Brücken zum Luthertum bauen kann, denn auch Luther war von Augustinus und dessen Gnadenlehre stark beeinflußt.

„Dumm ist der Konservatismus nicht“ – so darf ich Sie zitieren, warum brauchen wir diesen Konservatismus in den Tagen des anything goes, der großen Beliebigkeit?

Ich bin von Herkunft und Gemüt gar kein Konservativer, ich habe mich immer als progressiven Menschen verstanden. Ich entdecke nur plötzlich im Alter, dass möglicherweise die Welt zu bewahren die neue Maxime des Fortschrittes und der Zukunft ist. In einer Zeit der großen Veränderungen geht es eigentlich um Entschleunigung, weil wir sonst vor lauter Tempo, vor lauter Bäumen, den Wald nicht mehr sehen. Ich habe auch entdeckt, dass Sachen zu verteidigen, die gut sind, Tapferkeitsfragen sind. Das tapfer und modisch nicht nur der ist, der was Neues will, sondern auch der, der Altes, Gutes verteidigt. Deshalb glaube ich, müssen wir in diesen Turbozeiten die Beweislast umdrehen. Nicht mehr das Alte muss beweisen, dass es besser ist als das Neue, sondern das Neue muss beweisen, dass es besser ist. Ich bin ja nicht für Stillstand, natürlich gibt es Veränderung, aber wer etwas verändern will, hat die Beweislast, dass das, was verändert werden soll, dass das Ziel der Veränderung also besser ist als das Bestehende. Wir müssen die Beweislast umdrehen, weil wir sonst kopflos, verrückt werden. Das Bewahren geht vor Verändern, trotzdem bleibt die Welt nicht stehen. Wir sind nie am Ziel, aber mit der Entschleunigung würde es uns weitaus besser gehen.

Fragen: Stefan Groß

Philosoph Paul Virilio sah den Lockdown voraus

Stefan Groß-Lobkowicz22.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Was derzeit passiert, ist mehr als ein Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Beschleunigung hat den Rückwärtsgang eingelegt und der rasende Stillstand ist an ihre Stelle getreten. Paul Virilio hat diesen Entschleunigungsprozess vorausgesagt und nannte diesen Lockdown rasenden Stillstand.

Einst waren wir Geschwindigkeitsweltmeister, nun sind wir ungewollte Entschleuniger. Stillstand überall – das öffentliche Leben liegt lahm, Geisterstädte überall und das Land wirkt wie ausgestorben. Vom einstigen Beschleunigungswahn ist derzeit wenig geblieben. Der globale Raum derzeit unerreichbar, auf Zimmergröße geschmolzen. Die Zeit hingegen verdichtet und exponiert sich graduell mit der gesellschaftlichen Gespensterruhe. Selten in der Menschheitsgeschichte gab es einen solchen paralysierten Stillstand und selbst bei der Pestepidemie im Mittelalter waren die Räume nicht so eng. Ein kleiner Virus, unerkennbar und übermächtig, hinterhältig und bislang unerklärbar, hat uns von Transrapidgeschwindigkeit und Überschall in der Beschaulichkeit der Straßenbahngeschwindigkeit anlangen lassen. Der Geschwindigkeitsrausch, der dem neoliberalen Kapitalismus und einem systemischen Fortschrittsgedanken innewohnt, ist nun tatsächlich in seinem Gegenteil angekommen.

Paul Virilio und der rasende Stillstand

„Gerade die Geschwindigkeit selbst führt sie irre“. Dies stößt jenen zu, die in einem Labyrinth eilig umher irren, hatte schon Seneca gelehrt. Doch erst der Franzose Paul Virilio (1932-2018) hat über das Verhältnis von Fortschritt und Stillstand tiefgreifender reflektiert. Seine These – wir leben in einer Beschleunigungswelt, die Menschheitsgeschichte ist nicht anderes als eben so eine Beschleunigungsgeschichte mit der exponentiell die Gefahr des Stillstandes einhergeht. Rasenden Stillstand nennt es Virilio und erteilt damit dem Fortschrittsdenken eine Absage. Seines Erachtens vernichtet die Geschwindigkeit den Raum und verdichtet die Zeit und dies sei zugleich das verhängnisvollste Phänomen des 20. Jahrhunderts.

Seine kritischen Rufe waren kassandrahaft und pessimistisch. Dennoch war Virilio, ein bekennender Katholik, der getreu dem Lebensmotto seines Namensheiligen, des Apostel Paulus nach der Maxime „Hoffen gegen alle Hoffnung“ lebte, kein bloßer Romantiker, der Entschleunigungspredigten in burnoutüberhitzten Zeiten gehalten hat, sondern ein politisch bewegter Diagnostiker. So schrieb er bereits 1992 sein Buch „Rasender Stillstand“. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen – Shitstorm und Fake News, die Hysterieeffekte mit ihren Rückkoppelungsschleifen in Echtzeitkommunikation noch in weiter Ferne. Doch alles sollte so kommen, wie es der Prophet und Mahner, der „christliche Anarchist“, wie er sich selbst nannte, prophezeite.

Virilios Philosophie, die sich in dem Kunstwort Dromologie, aus „dromos“ (Beschleunigung) und „logos“ (Lehre) zusammengesetzt, spielt den Geschwindigkeitsrausch in allen Szenarien der Post-Post-Moderne durch. Ob Börsenspekulation oder Teilchenbeschleuniger: die technisierte Welt verheißt nur Unheil. Und dieses Unheilsurteil verhängt der Philosoph sowohl über die Mediengeschichte, die Naturwissenschaften, die Medizin, Physik und sogar über die Metaphysik. Je mehr die Geschwindigkeit prozentual ansteigt, umso mehr wächst dazu parallel die Stagnation. Einfachste Beispiele sind: Wir haben immer mehr Mobilität und stehen immer mehr im Stau: Wir sind Telekommunikationsweltmeister, doch erreichbar ist per Telefon kaum noch einer. Einer seiner eindringlichsten Sätze bleibt, dass wir nicht mehr an einem Ort wohnen, „sondern im Transport“ – auf Autobahnen und Flughäfen.

Von der Steinschleuder, über die Feuerwaffen bis hin zur Atomrakete, vom Pferd über die Eisenbahn bis hin zu Autos und Flugzeugen – die Geschichte kannte immer nur ein Schneller, Höher und Weiter als ihr Ziel. Der Mensch wird, davor hatte bereits der Philosoph Günther Anders in seiner “Die Antiquiertheit des Menschen“ 1961 gewarnt, in der telemedialen Welt durch die simultane Teilhabe zu einem rein vegetativen Zuschauer. Reglos verharrt dieser lichtsensibel vor dem Geflimmer auf den Bildschirm starrend. Und die an die Bildschirme gefesselten Mediennutzer werden zu Hampelmännern, von den Kontrolleuren künstlicher Bilderfluten manipuliert. Die Tyrannei der Bilder, die „Informationsbomben“ der „Live-Demokratie“ und „die Kontrolle des Weltbildschirms“ kritisierte Virilio. Nach seiner Emeritierung als Professor für Architektur in Paris floh er – natürlich ohne Fernsehen und Auto – an die entschleunigte Atlantikküste.

„Ich glaube, wir steuern auf eine, wie ich es nenne, „Globalisierung der Affekte“ zu. Wir befinden uns hier vor einem neuartigen, wenn nicht religiösen Phänomen: vor der gottgleichen Möglichkeit, praktisch auf der ganzen Welt das gleiche Gefühl zu erzeugen.“

Globalisierung der Affekte, darin sah Virilio den drohenden Endzustand. Dem Wahn, elektronischer Telekommunikation in ihrer All- und Omnipräsenz ausgeliefert zu sein, die Erfahrung der geschichtslosen Augenblicklichkeit im Beobachten und die Verführung der simultanen Teilhabe standen für den Medientheoretiker, Stadtplaner und Architekten exemplarisch für einen Zustand der medialen Ghettoisierung, der elektronischen Apartheid und für das Koma schlechthin. Eine Gesellschaft, die mit allen Mitteln an ihrem Fortschritt arbeitet, Zeit und Raum hochtechnologisch beherrschen will, arbeitet letztendlich an der Auslöschung ihrer selbst, ihr droht eine totale Regression.

Insbesondere in der Echtzeitübertragung sah Virilio den größten Gau der Zivilisation und hat daraus, so in einem seiner letzten Bücher, „Der große Beschleuniger“, den konjunkturellen Verfall der Wirtschaftsmärkte abgeleitet. Das Argument dabei: Die Zeit sei derart verdichtet, kennt kein Gestern und kein Morgen, dass nur noch rasende Algorithmen regieren und der Mensch dahinter zurücktritt. „Digitale Diktatur“ nannte es Virilio und spielte diese mit seinem „dromologischen Blick auf die Probleme der Finanzkrise, der Deregulierung der Arbeitswelt, der Flüchtlingsströme, des Massentourismus, der Krise der Demokratie und vor allem der Krise der Familie durch.

Geschwindigkeit entscheidet über unsere Zukunft

Für Virilio bleibt die Geschwindigkeit nicht nur der alles entscheidende Faktor, der über unsere Zukunft entscheidet, sondern mit der Geschwindigkeit steht und fällt unser Schicksal schlechthin. Die Dialektik, die dieser Dromologie innewohnt, überzeugt gerade in Zeiten der Coronakrise, denn hier zeigt sich überdeutlich, dass der gegenteilige Effekt, der absolute Stillstand oder der rasende Stillstand, eingetreten ist.

Was würde Virilio in Zeiten der Pandemie, er, der große Entschleuniger, also sagen? Zuerst würde er den telegenen Hype kritisieren, die Hyperreflexe, die die Medien auslösen und den Konsumenten willfährig abhängig machen. Die Bilder der Panik und des Todes lassen diesen ja allein in universaler Tele-Präsenz resignieren und diese Echtzeit erzeugt Angst. Schon früh warnte Virilio davor, dass die dromologische Entwicklung zu übersteigerten Ängsten – vor Pandemien, vor Börsenpanik zu Essphobien und Klaustrophobie führen wird, die allesamt von den Regierungen orchestriert werden, um damit Politik zu machen. Inmitten des hyperrationalen 21. Jahrhunderts schlägt die Aufklärung durch Covid-19 in rasende Angst um und gebiert den totalitären Stillstand, die Repression und die Depression. An die Stelle der Vernunft ist die „Verwaltung der Angst“ getreten, die selbst ohnmächtig ist.

Die Medizin, die Virilio als Eroberung des Körpers kritisierte, weil sie seine Individualität bedroht und aus den Menschen durch Herzschrittmacher, Organtransplantationen, prothetische Chirurgie ein Ersatzteillager macht, ist unfähig einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln. Diese hochspezialisierte und -technologisierte Medizin kann nur den Ist-Zustand verwalten. Dringende Operationen werden aufgeschoben, um die Kapazität für Intensivpatienten zu garantieren. Die Medizin ist im Angesicht des Coronavirus im operativen Stillstand angelangt.

Das Coronavirus, die Pandemie, die die ganze Welt in Echtzeit lahm legt, durchseucht und infiziert, ist letztendlich ein Produkt der Globalisierung, zumindest seine Verbreitung. Die Technik hat die Pandemie letztendlich befördert. Durch Flugzeuge, Lieferketten und Menschen im Transport hat sich Covid-19 rasend über der ganzen Welt verstreut und dieser letztendlich den Shutdown gebracht, das totale Erliegen des gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Lebens. Virilio, von einigen Zeitgenossen ob seiner Theorie des dromologischen Fortschritts belächelt, sah dies alles voraus – er war Prophet und Mahner zugleich. Gehört hat keiner auf seine Stimme – das Ergebnis ist erschreckend wie voraussehbar.

Statt Selbstermächtigung muss die Vernunft wieder pragmatischer werden

Stefan Groß-Lobkowicz12.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Für eine demütige Vernunft plädiert der Autor. Und er warnt: Es könnte noch schlimmer werden, wenn wir es nicht schaffen, endlich neue Antibiotika gegen multiresistente Erreger zu entwickeln.

Wir leben virtuell in Echtzeit, fliegen zum Mond und haben den Mars auf der Kartografie unserer Eroberungen. Wir analysieren die Materie mit Teilchenbeschleunigern im subatomaren Bereich, ergründen die Ursprünge des Universums. Wir entschlüsseln das Erbgut und die reproduktive Medizin ist auf ihrer Schöpfungshöhe. Das Klonen rückt erschreckend nah, ist denkbarer denn je und der Transhumanismus will den Neuen Menschen erschaffen. Die Künstliche Intelligenz wird bald nichts mehr als Pragmatik sein, der Mensch ein Hybrid aus Maschine und Fleisch. Wir spielen Gott.

Doch in der Stunde der Allmachtsfantasien geschieht das Unfassbare. Ausgerechnet uns Lebensoptimieren traumatisiert ein einziges, kaum sichtbares Covid-19 Virus und stellt die Moderne vor die Zerreißprobe. Jürgen Habermas betonte fast sokratisch: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“ und Alexander Kluge ruft sogar den „Gaskrieg“ aus. Ja, die Moderne ist zerbrechlicher denn je. Der Mensch ist als vernünftiges Wesen gefragt, aber als einer, der sein Menschsein nicht überhöht, sondern demütig den Kampf mit der Natur aufnimmt.

Vom altgriechischen Sophisten Protagoras ist der berühmte Satz überliefert, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, der Homo-Mensura-Satz, der vor zweitausend Jahren Immanuel Kants Aufklärung schon vorwegnahm. Alle Dinge sind nur so, wie sie dem Menschen erscheinen, meinte der Grieche und Kant machte daraus ein System der kritischen Vernunft. Später wird Carl Amery hinzufügen: „Von da an war der Mensch alles, alles andere nichts.“ Doch dieses „alles andere nichts“ richtet sich gerade auf, breitet als unsichtbarer Feind seine schwarzen Flügel aus und bedeutet einen neuerlichen Angriff auf die Existenz des Menschen.

Krankheit und Tod waren stets allmächtige Begleiter der Evolution, die die Menschheit auf die Probe stellten, oft sogar bis zur Erschöpfung hin auf die Knie zwangen. So sehr Krankheitserreger zur Natur gehören und der Mensch Teil derselben ist, wird diese Bedrohung ein ständiger dunkler Gesellschafter, sein Schatten sein.

Was interessieren Viren und Pestbakterien unsere Vernunft? Geschichtlich sind sie älter als wir. Bakterien existieren seit 250 Millionen Jahren und gelten als die ältesten Lebewesen der Welt; Viren sind Gene von Lebewesen, die vor der ersten Zelle entstanden – als RNA-Genome stehen sie allesamt für Überbleibsel der Prä-DNA-Welt. Viren und Bakterien bleiben es auch, selbst in der vernunft-affinen Moderne sind sie, metaphysisch gesehen, ungelöste Probleme.

Der Mensch als Herr der Welt muss sich diese immer wieder erkämpfen, in der Natur wird nichts geschenkt, die Evolution bleibt ein Kampf ums Dasein. Der Griff in den Himmel, Genetik und Transhumanismus, müssen warten, denn der Mensch selbst steht auf dem Spiel, wieder einmal! Es bleibt sein Dilemma: Himmelstürmer einerseits, andererseits dem irrlichthaften dunklen Willen der Natur ausgeliefert.

Das bestätigt auch ein Blick in die jüngste Geschichte der Pandemie. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem ersten Technikkrieg der Menschheitsgeschichte, wird die Spanische Grippe 50 Millionen Menschen hinwegraffen. Cholera und Tuberkulose erobern sich ihre Domänen zurück. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts wütet die Hongkong-Grippe als eine der letzten großen Grippepandemien mit weltweit mehr als einer Million Toten zwischen 1968 und 1970. Auch die „Vogelgrippe“, bekannt als Influenza-A- Virus H1H5, richtete in den Jahren 2003-2020 ihre Schreckensherrschaft auf. Gegen diese Pandemien ist aktuell rückblickend Corona noch ein Infektionszwerg.

Ob die durch das Bakterium Yersinia pestis ausgelöste Pest oder das Coronavirus, welches anders als lokal-beschränkte Pestepidemien fast allmächtig, omnipräsent in Echtzeit den Globus infiziert und Hunderttausende in den Tod mitreißt, der Mensch kann im Angesicht der Seuche immer nur re-agieren, immer nur antworten auf das, was ihn aus der Dunkelheit und Unsichtbarkeit attackiert. Doch er kann es mit Impfungen und Antibiotika eindämmen, vernichten kann er sie nie.

Die nächste Herausforderung droht – die multiresistenten Erreger

Doch hinter Pest und Corona wartet ein möglicherweise, ein noch größeres Übel, auf die Menschheit. Die multiresistenten Erreger, der bekannteste ist MRSA, unempfindlich gegenüber unseren derzeitigen Antibiotika, wüten verstärkt seit 2019. Gelingt es moderner Technik und Wissenschaft nicht, der pragmatischen Vernunft also, die sich nicht transzendiert, diesen resistenten Bakterienstämmen ein völlig neuartiges Antibiotika entgegenzusetzen, wird die Medizin vor einem weiteren Gau stehen. Höchstkomplizierte Operationen und Transplantationen sind möglich, doch die kleinste bakterielle Entzündung führt die Hightech-Medizin an die Grenze. Der banale Tod an einer nicht behandelbar-lapidaren Grippe zu sterben, könnte die Menschheit zurück in die Steinzeit bombardieren. Was nutzt Jens Spahns Votum für die Organspende, wenn die postoperative Genesung plötzlich zur Herausforderung wird, weil die Antibiotika nicht wirken?

Die Gefahr steht im Raum, die Medien warnen, sie haben das Klagelied schon angestimmt, doch die Pharmaindustrie reagiert nicht. Gegen jede praktische Vernunft wird an keinem neuen Antibiotikum geforscht, weil es zu teuer ist und sich als Präventiv finanziell nicht lohnt. Im Kampf gegen das Coronavirus wird die Antibiotika-Resistenz vorerst beiseite geschoben. Milliarden werden weltweit auf der Suche nach einem Covid-19-Impfstoff investiert. Doch wenn nicht parallel dazu an der Entwicklung eines neuen „anti bios“, eines neuartigen Antibiotikums geforscht wird, wird uns in Zukunft Covid-19 wie ein peripheres unerhebliches Ereignis samt Todesstatistik in Erinnerung bleiben.

Die Vernunft des Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist und über den technischen Fortschritt gebietet, sollte in Zeiten neuer Pandemien nicht übermütig werden, sondern sich auf das Faktische begrenzen. Er sollte nicht am neuen Menschen bauen, sondern dem alten seinen Bestand sichern. Wir dürfen unsere Vernunft nicht als Überschallflugzeug einsetzen, sondern für unsere Lebensversicherung. Vielleicht wird uns die Coronapandemie lehren, auch demütiger mit unserer Vernunft umzugehen – denn nur so bleibt der Mensch das Maß aller Dinge und die Vernunft eine pragmatische Zeugin seiner heilenden Möglichkeiten. Nur eine Vernunft, die ihre Grenzen kennt, kann aus einem Karfreitag einen Ostersonntag machen.

Sebastian Kurz war Merkel schon immer einen Schritt voraus

Stefan Groß-Lobkowicz7.04.2020Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

Sebastian Kurz hat es Europa mal wieder gezeigt. Er fährt in die andere Richtung als seine Kollegen. Wo andere im Shutdown verharren, denkt er über Lockerungen nach. Kurz ist nach der Flüchtlingskrise 2015 wieder zum Macher und Taktgeber Europas geworden. Er setzt neue Akzente und gibt den Bürgern Hoffnung.

Wenn es so etwas wie einen Mann der Stunde gibt, dann ist es wieder der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Mal wieder muss man sagen, denn Kurz ist die Schließung der Balkanroute im Flüchtlingsjahr 2015 zu verdanken. Ohne den jüngsten Bundeskanzler der Welt, den sich die meisten Deutschen schon sei langem als Alternative zu Angela Merkel wünschen, wäre hierzulande die Bundesregierung der Getriebenen wahrscheinlich immer noch im Räsonnieren. Doch Kurz gab damals  den Takt vor, er ist der geheime Dirigent, der im Orchester Europas der Vielstimmigkeit immer wieder mit politischem Kalkül und pragmatisch agiert.

War er 2015 bereits die Lokomotive – an die sich ganz Europa als Bummelzug dann anschloss, wird er auch 2020 innerhalb der Coronakrise wieder zum Motor einer Agilität, die sich quer zum europäischen und deutschen Mainstream stellt. Während für Emmanuel Macron die Welt im Krieg gegen das Coronavirus versinkt, der Lockdown die europäische Wirtschaft in einen abgründigen Abwärtstaumel führt, der vielleicht gar irreparabel ist, macht der Österreicher das Gegenteil. Er lockert die Coronabeschränkungen und setzt damit – wieder einmal – auch Deutschland unter Druck. Selbst Angela Merkel betonte in ihrer Pressekonferenz am Montag: “Österreich war uns immer einen Schritt voraus.”

Während die deutsche Bundeskanzlerin in der Krise wieder eine Renaissance einfährt, im Abschiedsmodus noch einmal auf „On“ schaltet und die Grünen mit Wohlfühlratschlägen und banalen Corona-Tipps sich mehr durch die Krise lavieren als diese zu gestalten, können zumindest die Volksparteien wieder an alte Erfolge anknüpfen. Selbst die totgesagte SPD rückt zu den Grünen auf. Es bleibt wohl eine ausgemachte Tatsache, dass die Grünen nur dann auf der Überholspur fahren, wenn die Welt in prästabilierter Ordnung ist. Krisenlöser sind und werden sie nicht. Und auch die im ewigen Angriffsmodus lauernde AfD, die gern die Revolte gegen die Volksparteien probt und die Feuer der Agitation anzündet, ist fast stimmlos geworden, auch sie taugt in Ausnahmezeiten eben auch nicht als Problemlöser.

Selbst der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), eigentlich sturmerprobt, ein Barrikadenstürmer in Person und sensibel, wenn es um die Wirtschaft geht, plädiert immer noch für die Aufrechterhaltung des Shutdowns, denn die Krise sei noch nicht vorbei, ein Rückfall jederzeit möglich. Also Söder wie Merkel stehen derzeit in Sachen Shutdown auf dem Abstellgleis, die deutsche Wirtschaft plätschert zunehmend in die Ohnmacht oder gar ins Koma.

Dagegen hat Kurz eben wieder eigenständig ein Rezept für sein Land und damit wohl exemplarisch für den Rest Europas gegeben. Sein Glück, er hat eben andere Grüne an seiner Seite als die deutsche Bundesregierung. Kurz’ Grüne sind eben keine Hardliner, sondern liberal und tragen ein Wirtschaftsgen in sich.

Sebastian Kurz gibt den Menschen Hoffnung

Auch psychologisch macht Sebastian Kurz alles richtig. Denn die Dauerkrise, der Dauermodus, macht die Menschen mürbe, viele ersticken in Langeweile, viele verzweifeln in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit. Die Seele nimmt Schaden – nicht nur durch die ausgesetzten Freiheitsrechte, wie Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, sondern die tiefe Unsicherheit vor der Zukunft ist es, was viele nicht nur hierzulande in die Depression führt. Der Schaden, der hier eine gefährliche Szenerie entwickelt, könnte in Zukunft die Krankenkassen mit teuren Therapien noch weiter belasten. Die häusliche Gewalt, die dann droht, wenn die Unsicherheit den familiär-inneren Frieden zerstört und in ihrem Gepäck bedrohliche Eskalationen und Exzesse mit sich führt, könnte für viele Kinder langfristig negative Folgen haben. Die Zahl der Menschen, die resigniert derzeit den Freitod vorziehen, weil sie desillusioniert sind, sind die Negativ-Facetten eines Shutdowns, der eben nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Seelen lähmt.

Wenn die Wirtschaft jetzt endgültig in den Krisenmodus schaltet, bleibt es die Frage, ob sie noch rechtzeitig wieder neu beatmet und belebt werden kann. Kann sie es nicht, wird die Dauerarbeitslosigkeit wieder regieren. Ein Szenario wie vor der Weltwirtschaftskrise droht und der Schaden für die Gesellschaft und das Individuum werden mit Sicherheit noch größer als die derzeitige Blockade.

All diese „Wenn“ hat Sebastian Kurz eingeplant, einkalkuliert. Und seine Entscheidung, wie Österreich wieder aus dem Lockdown herauskommt, ist wegweisend und mutig. Damit gibt Kurz den Menschen in Zeiten der Unsicherheit eben das, was nötiger als alles andere ist, Hoffnung als eine Perspektive am Ende des Tunnels. In einer Welt, wo derzeit alles grau oder schwarz ist, erscheint der Österreicher fast messianisch. Und selbst, wenn sich die Lockerungen verzögern, Kurz hat die Ausnahmesituation entschärft. Er blickt wie Nietzsche nicht pessimistisch nach hinten, sondern qualitativ nach vorn. Wünscht sich eine Wiederkehr des Gleichen, aber eben eine qualitativ bessere. Derzeit warnt aber auch Kurz noch vor dem Aufheben des Status quo. Auch das ist richtig, er wägt ab. Denn er weiß: der Kampf gegen das Coronavirus ist noch nicht gewonnen, ein Impfstoff nicht in Sicht, die Herdenimmunität umstritten, Maskenpflicht und Abstandhalten vorläufige Gefährten eingeschränkter Freiheiten. Die Reisen über die Landesgrenzen hinweg wird es wohl monatelang geben. Doch – der Hoffnung ist ein zarter Blick geschenkt, sie soll keine Utopie wie einst bei Ernst Bloch bleiben, sondern bald zum Taktgeber des Lebens wieder werden, dafür steht letztendlich Sebastian Kurz.

Merkels 4 Coronakrisenmanager

Stefan Groß-Lobkowicz6.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Krisenmanager sind in Coronazeiten gefragt. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gleich vier davon. Drei von ihnen sind potentielle Kanzlerkandidaten, Markus Söder, Jens Spahn und Armin Laschet.

 

Helge Braun

Für die Bundeskanzlerin ist Helge Braun so etwas wie der Hauptfeuerwehrmann in der Coronakrise. Der Kanzleramtschef hat jetzt seinen großen Auftritt, er hält die Krisenstäbe zusammen und ist zum wichtigsten Kopf im Kanzleramt in der Krise geworden. Braun, aus Hessen stammend, ist ein Arbeitstier, darüber hinaus äußert loyal zur Kanzlerin wie sonst nur noch Peter Altmaier, Steffen Seibert, Strategin Eva Christiansen und Büroleitern Beate Baumann.

Dabei ist der 47-Jährige alles andere als ein showerprobter Mediendauerläufer, dem der Medienzirkus Lebenselixier ist. Braun ist eher das Gegenteil, scheu und unauffällig im Hintergrund agierend. Was Braun derzeit für die Kanzlerin zum Ausnahmetalent macht, ist, dass er wie Merkel selbst Naturwissenschaftler ist. Der Draht zwischen beiden fein gesponnen. Es ist die nüchtern, sachlich-faktische Art, die die Physikerin der Macht an Braun wertschätzt. Der Kanzleramtsminister, von Haus aus Anästhesist und Notfallmediziner, verdiente sich seine Meriten einst im Uniklinikum Gießen. Das tägliche Gespräch mit Virologen ist daher für ihn vertrautes Terrain, quasi ein Heimspiel. Wo andere sich erst in das Thema hineindenken können, ist die Kompetenz Brauns in der Krise sein strategischer Vorteil. Und das unterstreicht er auch: „Ich komme aus der Anästhesie und der Intensivmedizin. Da gibt es eine Null-Fehler-Strategie und knappe Zeitrahmen“.

Was Braun nicht will, und darum schläft er kaum, sind italienische Verhältnisse in Deutschland. Leben erhalten, Krankenhauskapazitäten ausbauen, Intensivbetten bereitstellen und Atemgeräte kaufen, stehen jetzt ganz oben auf seiner Agenda. Neben all dem muss er den Spagat wagen, einerseits die Bevölkerung nicht mit Hiobsbotschaften in die Panik zu jagen, andererseits aber mit Bestimmtheit für Ausgangssperren und Freiheitsbeschränkungen eintreten. Was Braun derzeit vollzieht, gleicht einem Drahtseilakt und einem kommunikativen Seiltanz, steht er doch immer in Gefahr, von der einen oder anderen Seite fehl interpretiert zu werden.

Markus Söder

Aus anderem Holz geschnitzt ist der bayerische Ministerpräsident. Er liebt große Auftritte, ob bei der Frankenfasnacht oder als Minister. Söder spielt immer im Glanz, ist aber im Amt des Ministerpräsidenten deutlich gewachsen. Er hat Bayern fest im Griff, gibt sich ökologisch und geht in grünen Gewässern auf Wählerjagd. Der einstige Intimus von Horst Seehofer ist politisch erwachsen und verkörpert die politische Stabilität in politisch schweren Fahrwassern meisterlich als Kapitän. In der Kanzlerfrage hält er sich noch zurück, wenngleich eins deutlich bleibt, er will Kanzlermacher sein. Und Söder wird damit zum Fels in der Brandung, an dem sich potentielle Merkelnachfolger abarbeiten müssen, an ihm führt nichts vorbei.

Vorbei die Seiten des Ehrgeizlings mit stählernen Ellenbogen. Söder ist von der Bühne der Eitelkeiten ins seriöse Fach gewechselt und eine Art Neben-Vize-Kanzler geworden. War Bayern seit der Flüchtlingskrise zum Hort des patriotischen Widerstandes gegen Berlin geworden, lieferte sich eine Materialschlacht um die andere mit dem Kanzleramt, gibt es unter König Markus keinen erkennbaren Konflikt mit Angela Merkel.

Der Jurist Carl Schmitt hat immer für einen starken Staat geworben, denn „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Im Ausnahmezustand, in der Corona-Krise, steht Söder wie kaum ein anderer für den starken Staat, der wie Hobbes’ „Leviathan“ in der Lage ist, „alle Bürger zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe gegen auswärtige Feinde zu zwingen“. Die Coronakrise wurde für den geborenen Nürnberger zu dem, was der Fall ist, hier konnte er blitzschnell agieren, wurde zum Treiber und politischen Leitfigur, ja vielleicht zu dem führenden Landespolitiker im Bund. Als Feuerwehrhauptmann setzte er früh auf Ausgangsbeschränkungen, brachte Bayern wieder in den Mittelpunkt positiver Wahrnehmung.

Mit Söder hat Angela Merkel nicht nur einen erprobten Krisenmanager, der Corona als auch Chance sieht, seinen politischen Einfluss in Berlin zu erweitern. Das macht er aber bislang nicht im Stil von Franz Josef Strauß, sondern weltoffener und wenig aggressiver.

Jens Spahn

Der Bankkaufmann aus der tiefsten Provinz, Gesundheitsminister Jens Spahn, ist seit Jahren auf der Überholspur. Selbst Merkel musste gegen ihn beim Doppelpass-Beschluss Federn lassen. Und Spahn – im Gegensatz zur Kanzlerin –  Katholik, bekennender Schwuler ist nicht wie Helge Braun einer, der auf Kuschelkurs mit Merkel geht, sondern der sich schon während der Flüchtlingskrise 2015 von der Kanzlerin emanzipierte, von Staatsversagen sprach und den naiven Multikulturalismus kritisierte. Spahn ist auch anders als Braun einer, der in die Offensive geht, er liebt das Spiel mit dem Feuer – und er hat keine Angst zu verbrennen. Er gilt als konservativ-liberaler, wird als Kanzlerkandidat gehandelt und setzt beim Poker um die Macht eigene Akzente, sei es bei seiner kritischen Sicht auf den Islam, das Burkaverbot oder die Kinderehen.

Aber Spahn polarisiert auch – und dies immer wieder gern. Sein Satz: „Hartz IV bedeutet keine Armut“, brachte ihm am Anfang seiner Ministerzeit viel Kritik ein. Es sei zu befürchten, dass das „Gesundheitsministerium zu einer sozialen Kältekammer verkommt“, bemerkte damals Katja Kipping von der Linkspartei.

Doch in der Coronakrise sieht Spahn jetzt seine Chance, alles richtig zu machen. Punktet er jetzt, kann ihn das weit nach oben tragen, verliert er, riskiert er seine politische Karriere und landet auf dem Abstellgleis.

Span ist agil, wendig, äußert fleißig und zutiefst kommunikativ – ein Twitterkönig. Wie Söder ist auch Spahn im Amt gereift, erwachsener geworden, selbst ehemalige Kritiker loben ihn, er geht besonnen vor, lobt FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus. War Spahn früher eher unter dem Typus Wadenbeißer zu subsumieren, ist er jetzt zum Sachpolitiker geworden, mit dem nach Merkel 51 Prozent der Deutschen zufrieden sind, so der Deutschlandtrend vom März 2020. Gerade in der Coronakrise macht Spahn eben keinen Wahlkampf, sondern gibt sich als solide Informationsquelle, die überparteilich Anerkennung findet. Der Feuerwehrhauptmann Spahn spielt in der Coronakrise partei- und fraktionsübergreifend. Damit setzt er das kontinuierlich fort, was sich einst Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sogar geschworen haben, eine gute Zusammenarbeit. Wenn er weiter sein Gesundheitsministerium mit weiser und besonnener Hand durch die Krise führt, könnte er in den nächsten zehn Jahren durchaus aus dem Kanzleramt seine Anweisungen geben. Werden Schwächen innerhalb des Gesundheitswesens, das zu anderen Ländern vergleichsweise gut aufgestellt ist, in den nächsten Wochen offenbar, dann wird es für Spahn schwer und die Bekämpfung der Corona-Pandemie tatsächlich zu seiner Schicksalsfrage.

Armin Laschet

Die Coronakrise ist auch die Stunde des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen – Armin Laschet (CDU). Wie Braun, Söder und Spahn ist er Taktgeber und vertritt die Kanzlerin in Quarantäne mit konzilianter rheinischer Natur. Erst vergangene Woche gründete er einen „Expertenrat Corona“, der ihn im weiteren Umgang mit der Krise beraten soll. „Wir müssen heute damit beginnen, anhand transparenter Verfahren Kriterien und Maßstäbe für die Öffnung des sozialen und öffentlichen Lebens zu entwickeln“, so Laschet.

Laschet weiß, wovon er spricht. Mit dem Corona Hot Spot Heinsberg hat er einen extremen Krisenherd im eigenen Land. Und Laschet nimmt die Lage durchaus sehr ernst, es sei die ernsteste „Situation in den letzten 70 Jahren unseres Landes“ betont er sogar. Dass er mit seiner härteren Gangart Recht hat, zeigt die Entwicklung in Heinsberg, scheinen dort die strengen Maßnahmen „zu wirken, die Kurve flacht ab“, erklärte der CDU-Politiker und Kandidat um den CDU-Vorsitz vor dem Düsseldorfer Landtag

Intern gilt Laschet, der seit Jahren die schwarz-gelbe Koalition in NRW erfolgreich führt, als Brückenbauer, er kann charmant vermitteln, nimmt sich der Sorgen seiner Landeskinder fürsorglich an und ist damit für viele so etwas wie ein echter Landesvater geworden, dem man auch am Rhein zutraut, das großkoalitonäre Berlin aufzumischen und eigene Akzente zu setzen. Es ist die rheinische Frohnatur, die Laschet von Söder und Sphan unterscheidet, ein ausgeglichenes Naturell. Das lässt ihn – bei allem Leid – das das Coronavirus nicht nur in Deutschland ausstrahlt, zu einer neuen Lichtfigur werden, der vielleicht bald nicht mehr der regionale Krisenmanager und Feuerwehrhauptmann in NRW ist, sondern derjenige, der die CDU wieder zurück an die Macht führt und damit das angeschlagene Image der Volkspartei mit energischer Sanftmut kittet.

Mitten in der Krise, Emmanuel Macron sprach vom Krieg und viele Politiker von der größten Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg, hat Angela Merkel vier starke Männer an ihrer Seite, die sie angesichts ihres politischen Rückzugs 2021 nicht mehr ignorieren, geschweige denn Wegbeißen kann.

Raffael – Zur Aktualität seiner Kunst in Zeiten der Pandemie

Stefan Groß-Lobkowicz6.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Vor 500 Jahren ist er gestorben, Der Malel und das Genie Raffael. Mitten im Leben hat ihn der dunkle Tod ereilt, ob Malaria oder doch die Pest – das bleibt umstritten. Doch sein letztes Werk „Verklärung Christi“ ist in Coronazeiten aktueller denn je. Wir erinnern an einen Ausnahmekünstler, der neben Leonardo da Vinci und Michelangelo der bedeutendste Maler der Renaissance war.

An einem Karfreitag, dem 6. April 1520, soll es gewesen sein, so berichtet Künstlerbiograph Giorgio Vasari, als Raffael mit 37 Jahren verstarb, genau an jenem Tag, an dem er 1483 in Urbino das Licht der Welt erblickte. Mythen ranken sich um seinen Tod; war er ein Opfer seiner Sexualität, seiner vielen amourösen Liebesexzesse, hatte er Burnout oder war es die Malaria, die aus den Sümpfen um Rom gefährlich-tödlich aufstieg? Die Fragen bleibt uns die Geschichte schuldig, doch in Zeiten wie in der Coronakrise lässt der Befund aufhorchen. Einer der berühmtesten Künstler der abendländischen Kultur Opfer von Mikroorganismen? Während Raffael mit dem fiebernden Tod rang, soll sich im Apostolischen Palast ein gefährlicher Riss aufgetan haben wie sich einst beim Tode Christi in Golgota die Erde auftat.

Geboren in der ländlichen Idylle, auf die Raffael später immer wieder als Vorbild seiner Landschaftsidyllen Bezug nehmen wird, hatte er nach dem Tod des Vaters, des Hofmalers und Dichters Giovanni Santi (1435–1494), die Werkstatt übernommen. Doch drängte es den jugendlichen Sanftmütigen, charmant, ein angenehmer Zeitgenosse ohne Starallüren soll er gewesen sein, in die Welt der großen Kunst, zu Michelangelo und Leonardo da Vinci. Mit ihnen wollte das nur so vor Kraft strotzende Kunstgenie in den Ring steigen, sie sollten bald seine Mitspieler beim triumphalen Einzug in den irdischen Olymp der Malergötter werden.

Renaissance heißt ja Wiederbelebung der Antike, „edle Einfalt, stille Größe“ hatte es einst Johann Joachim Winckelmann genannt. Wie sehr sich diese idealische Schönheit, vollkommene Harmonie zwischen Mensch und Natur miteinander versöhnen, dafür wird der Ausnahmekünstler Raffael in der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte stehen, das Genie, das am 6. April vor 500 Jahren gestorben ist.

Es waren bewegende Zeiten, in die Raffael hineingeboren wurde. Der Geist des tiefen Mittealters mit seinen Kommentaren und düsteren Andachts- und Heiligenbildern, mit dem abgöttischen Dogmatismus und einer die Ratio verleugnenden Theologie, die zwischen Verdammnis, Hölle, Gnadenlehre und Erbsünde den Menschen in seiner Freiheit rigoros beschnitt, war in den Zeiten, als die Medici in Florenz erblühten, Kunst und Individualität förderten, endgültig Schluss. Die Natur und der Mensch feierten eine Auferstehung – aus einer Synthese zwischen Platonismus und den Lehren des Aristoteles heraus.

Goldenes Zeitalter

Der Geist des Neuanfangs hatte damals Italien ergriffen. Gerade dieses Italien, das jetzt dramatisch an der neuen Coronapest leidet, war zwischen 1470-1530 der geistige Hort Europas, die lebendige Quelle, in der bereits vor der Aufklärung das Ich die kopernikanische Wende einläutete, den Himmel auf die Erde sog und die Welt in ihrer harmonischen Darstellung als Spiegelbild des Göttlichen feierte.

Die Philosophie entdeckte die Antike, die Theologie den Humanismus, den Menschen. Erasmus von Rotterdam, Lorenzo Valla, Marsilio Ficino, Bessarion, Georgios Gemistos Plethon Pico de la Mirandola sind die geistigen Lichtgestalten dieser Epoche ungeahnter Aufbruchstimmung. Im Bild „Die Schule von Athen“ in der Stanza della Senatura wird Raffael der Antike ein ewiges Denkmal setzen; würdigt den Menschen mit seinem Bild als animum rationale und sensuale. In „La disputa del sacramento“ um 1509/10 für die „Stanze di Raffaelo“ erschaffen, schöpft er ein großartiges theologisches Panorama von Mose bis hin zu Augustinus. Der göttliche Dante, Theologen und Heilige versammeln sich unter dem weit geöffneten Gotteshimmel. Damit vereint er systematisch die zwei großen Themen der Renaissance, Welt und Gott, Wissen und Glauben. Denn jetzt ging es nicht mehr nur um Gott, sondern um die Würde des Menschen, um eine neue Kosmologie, die ebenso die Naturwissenschaft wie die neue Technik der Druckgrafik zu ihren Verbündeten im Kampf gegen das Traditionelle machte.

Anstelle ikonenhafter Strenge trat die Grazie, die Anmut. Und Raffael war ihr Perfektionist. Zärtlichkeit und Melancholie, ruhige Landschaftsbilder entdeckten nicht nur die Natur als neues Sujet, sondern die in ihr waltende göttliche Harmonie. Auch mit seinen Porträts läutete Raffael eine Renaissance ein. Der Mensch als individuelle Person, als sinnlich-leibliche Schönheit trat in den Vordergrund, sanfte Gesichter, der offene Blick, die verletzliche und werdende Unschuld ersetzte die Ikonographie des Mittelalters.

Ewige Stadt Rom – ewiger Glanz

1508 in Rom angekommen, machte Raffael Karriere. Blitzartig stieg er zu den Größen der damaligen Zeit hinauf, zu dem rational-kühlen Leonardo da Vinci und dem melancholisch-schroffen Michelangelo. Der junge Raffael verdankte dem einen eine anatomisch geschulte Realistik, dem herkulischen Michelangelo hingegen die Kraft der großen Panoramen. Doch keiner konnte sie besser nachahmen, die Individualität der Dargestellten, das Persönliche in Mimik, Gestalt und virtuoser Bildsprache als er – in all seinen Historien- und Altarbilden. Selbst Papst Julius II. und den späteren Papst Leo X., ein Medici, hatte die Sprengkraft des Raffael in den Bann gezogen. Julius ließ Raffael in seinen Privaträumen, den Stanzen, freie Hand und der geistig eigenständige Künstler dankt es ihm mit einem Bildprogramm voller humanistischer Ideen, feierte seinen Lobeshymnus nicht auf den machtgierigen Papst, sondern verherrlichte das Wissen seiner Zeit und die Vision des gerechten Handelns. Doch alles bei Raffael wirkt leicht, unbeschwert, er malt die Welt in großen epischen Zügen, und selbst da, wo er Martyrien malt, betritt nie die Abgründigkeit des Bösen die Bühne, sondern über allem thront das Ideal der friedlichen Welt und schwebt wie ein versöhnender Baldachin darüber.

Auf der Suche nach Selbstvervollkommnung

In Rom feierte der Renaissancemeister seine Triumphe, nicht nur als Maler, sondern auch als Baumeister im Vatikan und als Antiken-Spezialist im Kirchenstaat, vollendete 1512/13 die „Sixtinische Madonna“. Papst Leo X. verpflichtete ihn als römischen Stadtarchäologen und nach dem Tod des Petersdomarchitekten Bramante mit dem Bau des damals größten Gebäudes der Welt. Raffael wurde zunehmend alles in einem – Baumeister, Historiker und Maler, alles dies lernend, mit einer Freude an Selbstvervollkommnung und kritischer Selbstsuche, aber am Ende immer vollkommen ideal. Genau dieses Ideal, die Natur durch die Kunst zu vollenden, war seinem Kunstbegriff geschuldet.

Allein die Kunst, so Raffael, besitzt den ästhetischen Wert an sich, denn sie vervollkommnet die unvollendete Natur. Nur sie ist imstande, die Schönheit zu offenbaren, weil Kunst Synthese zwischen Ratio und Sinnlichkeit bleibt, aber als intellektuelle Erfindung den Taktstock führt. Diese höhere Kunst bleibt eine „zweite Erfindung“ wie Goethe es später für die Gattungsfrage einfordern wird. Und dafür steht – auch für den Weimarer Dichterfürsten – nicht Leonardo und nicht Michelangelo, sondern Raffael, weil er Genius und Techniker, Idealist und Realist in einem war.

Und genau diese Synthese ist es, die uns nach 500 Jahren immer wieder von Raffael in den Bann ziehen lässt, jenes Genies, der 1520 an Fieberkrämpfen in Rom verstarb und im Pantheon beigesetzt wurde. Aus Angst vor der Malaria oder Pest hatte man die Beerdigungsrituale stark verkürzt, den Leichnam schnellstmöglich beigesetzt, um so möglicherweise eine Ansteckung anderer zu verhindern. Das liest sich in heutigen Zeiten von Corona brandaktuell.

Die „Verklärung Christi“ in Zeiten der modernen Pest

Und dennoch bleibt uns Raffael als der Schöpfer solcher Jahrtausendwerke wie der „Madonna del Granduca“, der „Madonna mit dem Stieglitz“, der „Sixtinischen Madonna“, der „Schule von Athen“ oder der „Vertreibung Heliodors“ als Genuis in  kollektiver Erinnerung. Nicht nur weil er „naturgetreuer als die Natur selbst“ gemalt hatte, wie Künstlerbiograph Vasari attestierte, sondern auch wegen seines letzten Werkes, der „Verklärung Christi“ oder „Transfiguration“. Zwei Ereignisse aus dem Neuen Testament, erzählt von den Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas, sind in der Komposition, die schon Züge des Manierismus trägt, dargestellt: Im oberen Teil die „Verklärung Christi“ auf dem Berg Tabor und im unteren Teil die Heilung des mondsüchtigen Knaben. Die obere Bildhälfte brilliert in Leuchtkraft, mit hellen, reinen Farben, die der Bildkomposition Symmetrie und Harmonie verleihen. Die untere Bildhälfte ist düster, dunkel, eine gedrängte Fülle von Menschen, Emotionen, ein irdisch verzweifeltes Verwirrspiel. Doch in den sich in viele Richtungen kreuzenden Kompositionslinien verdeutlicht sich das Spannungsfeld zwischen der heilenden Kraft des göttlichen Erlösers und der chaotisch-irdischen Welt. Sind die Apostel bei der Heilung des Knaben letztendlich gescheitert, bedarf es der Kraft Jesu’, auf den der in auffallendes Rot gekleidete Apostel zeigt, der einzig den Knaben zu heilen vermag. Transportieren wir diese Komposition auf das 21. Jahrhundert, auf die Coronapest, die in der ganzen Welt als Pandemie waltet, so lässt sich auch eine Conclusio zu: Den Himmel zu verleugnen, pure Säkularisierung und reine Technikaffinität werden dem Menschen nicht gerecht in der Stunde äußerster Not, denn der Heilung bedarf es auch Wunder, und diese Hoffnung teilen Menschen aller Religionen heute wieder im gemeinsamen Gebet. Und selbst wenn Gott uns nicht rettet, kommt diese Rettung vielleicht vom Menschen selbst, der als Stellvertreter Gottes zumindest die Gabe des Heilens in sich trägt. Raffael ist moderner als einem in diesen Zeiten lieb ist.

Fazit: Die enzyklopädische Weite des Renais­sancemeisters bleibt über die Zeiten hinweg beeindruckend. In ihm war ein Wille am Werk, der mit ungeheurer Intensität den Geist der Antike wiederbelebte und ihn der Kultur der Neuzeit anverwandelte. Als Archäologe und als Erfinder neuarti­ger Baustoffe ist Raffael tätig gewesen, als Bühnenbildner und Teppichweber, Porträtist und Aktzeichner. Vor allem aber als machtvolles Genie der Form und des Ma­ßes, dessen Schönheitskanon unvergäng­lich die Zeiten durchstrahlt. Seine „Verklärung Christ“ könnte uns wieder den Mut und die Hoffnung geben, die düstere Gegenwart in eine neue, aber vielleicht andere Heilsidylle zu transformieren.

5 Dinge, die ich seit der Coronakrise mache

Stefan Groß-Lobkowicz1.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Es ist der 1. April, ein Grund genug, mal etwas anderes über die Welt in Zeiten des Coronavirus zu schreiben. Was ich jetzt mache und vor allem wie mir das gelingt, lesen sie in dieser ironisch-bissigen Satire.

 

1.     Ich fühle mich wie Monsieur Teste

Zuerst dachte ich ja, ich bin Metaphysiker, weil ich so gern über Gott und die Welt räsoniere, dann glaubte ich ein frenetischer Anhänger der Aufklärung zu sein – spätestens nach dem Fall der Mauer. Doch in Zeiten von Coronakrise bin ich wieder Stoiker geworden. Nicht, dass ich gern den Schierlingsbecher meines geliebten Seneca entgegennehmen würde, wie dieser ihn einst von seinem Zögling Nero zum Abschied nahm. Nein, ich würde ihn auch nicht nehmen, wenn ihn mir meine Kanzlerin reichen würde, mit dem Hinweis, dass ich in diesen schweren Zeiten meine Lunge doch lieber jemand jüngeren spenden sollte; besser einem Raucher denke ich, ein anderer hätte damit auch keine Freude. Von Fürstin Carolyne von  Sayn-Wittgenstein ist ja überliefert, dass Gäste bei Besuchen erst auslüften müssten, damit die Dichte des Raucherqualms im Zimmer nicht ruiniert wird. Eine weise Frau.

Nein, ich bin Stoiker, ich lebe in düsteren Zeiten, wo Baumarkt, Tankstelle und Supermarkt meine neuen Kathedralen sind. In heiterer Gelassenheit entsage ich der materiellen Welt sowie fleischlichen Gelüsten, was ohnehin derzeit unmöglich ist, weil ich mit meiner Lebenspartnerin Abstand wahre, mindestens, so hat es eine neue Studie aus den USA herausgefunden, zwei Meter, was bei dem kleinen Liebesnest für mich bedeutet, auf dem Fußboden zu nächtigen. Hinzu kommt jetzt als Argument nicht mehr die Migräne, die ja zeitlich befristet und nach einer mehr oder weinigeren Kurzweil Hoffnung verspricht, nein, jetzt heißt das Argument Coronakrise, ausgebrannt, leer, erregungslos, Ende ungewiss. Wo einst ein Schlot stand, guckt man jetzt ins Ofenrohr.

Da kein Mensch auf dieser Welt weiß, wie lange die neue Pest noch andauern wird, sich auf der Restwelt des Planeten alle möglichen Menschen wieder scheiden lassen und ihre Kinder quälen, die häusliche Gewalt nimmt täglich zu, begreife ich diese Auszeit als Ruf Gottes zur Askese hin und lebe jetzt nach Gusto des Monsieur Teste, der Hauptfigur der 1896 erschienenen Erzählung von Paul Valéry, „Ein Abend bei Herrn Teste“. So wie Teste habe ich alles Persönliche ausgelöscht, betrachte ganz stoisch nur mein eigenes Ich, nutze den Tag, denn „vita brevis est“, das Leben ist kurz, und wird wie es aussieht in der aktuellen Krise immer kürzer.

2.     Ich gehe jetzt gern einkaufen – Ich fühle mich wie ein Aussätziger

Einkaufen ist in Coronazeiten etwas besonderes. Man fühlt sich wie ein Aussätziger und auch die anderen fühlen sich so, was auch wieder ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt, die menschliche Harmonie und Wärme, von der ja in diesen Tagen viel die Rede ist. Doch in Zeiten von Corona ist Obacht angesagt. Auch ich habe mir das zur obersten Maxime gemacht. Bevor ich  Haus und Tür verlasse, überprüfe ich detektivisch, ob nicht ein Animale rationale in der Nähe ist, nach Aristoteles ist das die Fähigkeit des Menschen zu denken, die ihm vom Tier unterscheidet. Aber als Philosoph weiß ich, dass sie wohl eher selten sind. Was es hingegen mehr gibt, sind Homos sapiens, so viele, dass böse Zungen behaupten, Corona sei dazu da, um hier eine biologische Selektion vorzunehmen. Jedenfalls prüfe ich immer genau, ob ein Homo sapiens in der Nähe ist, der mich im schlimmsten Fall auch zum Träger dieses bösartigen Virus machen könnte. Gestern habe ich 48 Mal versucht aus der Haustür zu kommen, 48 Mal bin ich wieder in die Wohnung geflohen. Die Quintessenz – ich war nicht einkaufen. Ich frage mich immer, was machen alle Menschen da draußen, wo doch alle in Quarantäne sein sollten. Mensch, denke ich mir, in China, wo das Virus ja herkommt, weil sich die „tierliebenden“ alles fressenden Chinesen infiziert haben, wäre ein Herumspazieren in Zeiten der Ausgangsbeschränkung unmöglich, da hätte der rigide Kommunismus die Türen zugeriegelt und die Chinesen, die hier im Supermarkt mit Masken laufen, wären auch nicht bei uns auf der Straße.

Endlich geschafft, das Supermarkt-Highlight. Wenn sonst schon alles tot ist, brennt hier wenigstens noch Licht. Nach Klopapier schaue ich gar nicht mehr. Mit so hoch spekulativen Wertpapieren gebe ich mich nicht mehr ab, selbst wenn zu Hause der Installateur auch nicht kommt, weil ich auf Zeitungen umgestiegen bin, die den Effekt haben, dass jetzt die Sickergrube voll ist. Also Klopapier kann ich mir eh nicht leisten.

Im Supermarkt herrscht eine gespenstische Atmosphäre, die mich irritiert. Immer wenn ich eine Regalzeile langgehe, fliehen alle vor mir als sei ich das lebendige Coronavirus selbst. Als ich beim Butterstand angekommen war, versuchte ich 30 Mal an die Butter zu kommen, aber es weilte immer ein Homo sapiens im Gang, der sich nicht zwischen Butter und Joghurt entscheiden konnte, was ich mit 20 Minuten meiner kostbaren Lebenszeit, gerade in Coronatagen, bitter bezahlen musste. Zum Schluss kaufte er Kondome – ich denke für so eine abgefahrene Corona-Party wie sie im Mittelalter, bei der Pest, ja als sexuell-finale Ausschweifungen, geradezu ekstatisch gefeiert wurden. Warum Kondom, das hatte ich immer noch nicht verstanden. Vielleicht wollte er nicht Aids zu Corona noch dazu bekommen.

Irgendwie ist es im Supermarkt wie in der DDR. Da gab es neulich einen coolen Spruch auf Facebook. „Grenzen dicht, Regale leer, Willkommen in der DDR“. Schlimmer als in der DDR, da gab es zwar keine Bananen, aber Klopapier. Dass die Grenzen dicht sind, kommt wieder meiner stoischen Einkehr entgegen. „Sieh, das Gute liegt so nah, Lerne nur das Glück ergreifen, Denn das Glück ist immer da“ hatte mal ein Frankfurter Jurist gedichtet.

Hefe gibt es auch nicht mehr, was, wie mir eine Kollegin mitteilte, den Verdacht hegt, dass schwarz Alkohol gebrannt wird. Hoffen wir bei diesen ungelenken Zeiten, dass hier richtig und nicht wie in Russland immer überdosiert wird, was zu einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 53 Jahren und einer ruinierten Leber in ehemaligen Zarenreich führt. Aber die Russen sind so voll mit Wodka, da wird selbst Corona besoffen.

Aber was mich in Coronazeiten an die DDR im Supermarkt erinnert, ist, dass hier alle auf der Flucht sind, nicht vor Erich Mielke oder Margot Honecker, sondern vor Corona, vor sich selbst und vor dem anderen Ich. Jeder flieht vor jedem, eine reine Flüchtlingswelle, die sich da auslöst. Komisch, denke ich mir, warum haben die Ossis so viel Angst vor Flüchtlingen?

Der Einkauf gleicht derzeit einem Versteckspiel und ich fühle mich immer wieder an die Kindheit erinnert, wo man liebevoll Räuber und Gendarm spielte. Die einzigen, die nicht fliehen, sind Hochschwangere, sie genießen sogar Nähe mit dem Argument: „Ich bin Schwanger, ich kriege kein Corona.“ Wie Bulldozer fegen sie durch die Regalzeilen mit so einer ambivalenten Miene, einer Mischung aus „ich bin die Retterin der Nation, aber viel zu müde und schlechtgelaunt, Platz da“. Auch Mütter mit Kinderwägen sind nicht so ängstlich. Dann und wann werfe ich einen gutgelaunten Blick auf den Nachwuchs und entdecke Vaterfreuden, gleichwohl die ganze Schar nun auch wiederum nicht von mir sein kann, ich bin ja Stoiker und „Monsieur Teste“ obendrein.

An der Kasse im Supermarkt kommt man immer mehr mit Älteren in Kontakt. Ich habe mich an die liebenswürdigen Alten gewöhnt, zumal die Damen ja nicht meine, aber ich umgekehrt immer mehr ihre Zielgruppe werde. Während die Youngsters, aus Angst von der bösartigen Lungenkrankheit befallen zu werden, auf Distanz gehen, sind die Alten geradezu zutraulich. Ganz Alte haben den Ersten Weltkrieg, den Zweiten und die Diamantene Hochzeit überstanden, DDR, Wende, Massenarbeitslosigkeit und die Flüchtlingswelle inklusive, Merkel hingegen noch nicht, das sieht auch immer schlechter aus, macht sie doch gutes Spiel in schlechten Zeiten. Also, vor was sollen sie sich denn noch fürchten?

Zum Glück gehören sie nicht zu den Alten, die einsam sterben und ohne würdevolle Beerdigungen hinscheiden. Auch nicht zu denen, denen das Essen von ihren Nachkommen wie im Gefängnis vor die Tür gestellt, geklingelt und fluchtartig getürmt wird. Nein, sie sind gelassen wie ich, während die Jungen glauben, da kommt noch was. Je älter man wird, desto mehr weiß man doch, es kommt eigentlich nur der Tod, und der immer schneller. Die Jungen denken es geht noch positiv weiter, dachte ich auch, auch ohne Corona, ein Irrtum.

3.     Wenn ich nicht im Supermarkt bin, versuche ich mit Gummihandschuhen und Atemmaske zu essen

Die Coronazeiten sind hart. Aber ich spiele schon seit Lebensbeginn mit Handicap, nein, nicht beim Golf. Steißgeburt und Zangengeburt – beides kann ich unisono auf meine Person vereinnahmen. Der damalige Chefarzt der Gynäkologie, ein guter Freund meiner Eltern, sah finster drein und meinte das wird nichts – oder nicht sehr viel. Böse Zungen hätten formuliert. „Bei Dir haben sie ja auch den Embryo weggeworfen und die Nachgeburt großgezogen“. Aber auch das stört einen stoischen Zangengeburt- Monsieur Teste weniger. Ich habe mich mit Vorurteilen arrangiert und wie der noch nicht gefundene Impfstoff eine Immunisierungsstrategie entwickelt.

 Aber auch mein Spielraum ist in der Coronakrise eingeschränkt. Sportlich aktiv war ich eigentlich nie, ich hielt es da immer mit Winston Churchill –„No sports“. Eigentlich bin ich ein Nerd, nur ohne Programmierungserfahrung, also ein Steiß- und Zangengeburt, Monsieur Teste und ein Nerd. Nur beim Après-Ski habe ich dann und wann eine Ausnahme gemacht. Aber dieses Jahr war ich mal nicht in Ichgl, dem österreichischen Hot Spot, wo sich halb Europa angesteckt hatte. Und ich erinnere mich: Es gab ja schon einmal einen aus Österreich, wo sich halb Europa angesteckt hat, die Folgen sind bekannt. Ich hoffe nur Corona entwickelt nicht diese Dramaturgie, obgleich der französische Präsident Emmanuel Macron davon gesprochen hatte, dass wir im Krieg sind.

 Gerade versuche ich mit Messer und Gabel zu essen, manche sprechen in der Tat von einem Versuch, das ist auch schwierig mit Atemmaske und noch schwieriger mit diesen komischen Gummihandschuhen. Auch Stabmikado geht damit irgendwie schlecht und beim Kartenhausbauen fällt mir die ganze Bude immer wieder ein. Ich werde mich vorerst auch nicht an die Atemmaske gewöhnen, aber ich habe mir jetzt eine aus dem BH meiner Freundin gemacht, wenngleich dieser gleich meinen ganzen Kopf mit bedeckt. Hätten die Chinesen mal nicht so viele exotische Tiere gegessen, müsste ich jetzt mich nicht zum Affen machen.

4.     Mit den Gassigängen hat es sich dramatisch verändert

Vor Corona ging ich Gassi, ungern, dachte an Pampers für den Vierbeiner oder zumindest daran, dass sie es verstehen, allein zu gehen, quasi der autonome Gassigang; muss doch gehen wo alle über das autonome Fahren nachdenken und jetzt bald die Tracking App für Coronainfizierte kommt. Doch die Biester blieben erziehungsresistent. Ein Vorwurf, den ich nur zu gut aus meiner Partnerschaft als auch aus dem greisen Elternhaus immer wieder höre und mich, anders als Covid-19, dagegen schon immunisiert habe. Ich habe also eine Immunisierungsstrategie entwickelt und könnte eigentlich auch beim Robert Koch Institut anfangen. Dann müsste ich nicht zu Hause sitzen, sondern hätte jeden Tag eine Pressekonferenz mit Herrn Professor Drosten, der mittlerweile der George Clooney der Virologie – wie einst Georg Gänswein – der smarte katholische Heilbringer war. Frauen denken sowohl bei dem einen als auch bei den anderen, so lese ich immer wieder, zuerst gar nicht an Virologie oder Covid-19. Vielmehr umgekehrt: wie bekomme ich Covid-19 um endlich von dem smarten Typen aus der Charité persönlich untersucht zu werden.

Doch zurück zum Hund. Der ist derart immun gegen Befehle, dass sich diese Immunität wechselseitig aufschaukelt. Einer heißt  Theresa, aber weil sie braun ist und irgendwie immer Obdachlose und Asylanten anbellt, wollte ich sie Eva Braun nennen, aber das irritiert selbst in diesen Zeiten zu sehr. Zur Notduft und aus Verwechslung der Örtlichkeiten hatte der andere neulich einen Spanier als einen Baum erkannt und dementsprechend markiert. Der Spanier bedankte sich darauf hin aus einen für mich nicht zu erspürbarem Grund und ich suchte das Weite. Das ist eine völlig neue Qualität in der europäischen Verständigung dachte ich mir. In Italien ist es ganz verrückt. Dort ist es nicht selten, dass, um die Ausgangssperre zu umgehen, besonders schlaue Mitbürger mit Plüschhunden jetzt beim Gassi gesehen worden sind, nur um überhaupt in den Genuss von UV-Strahlen zu kommen.

Das Gassiproblem habe ich jetzt anders gelöst. Ich mache es wie in dem berühmten Film Das Fenster zum Hof  von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1954. Warum immer vor die Tür gehen, vielleicht bringt ihn dann, weil er mal wieder davongelaufen ist, im schlimmsten Fall, so ein Corona-Partygänger zu mir nach Hause und hustet mich noch an. Dann lasse ich doch die Hunde ganz elegant wie bei Hitchcock im Körbchen nach unten auf die Straße segeln.

Ich selbst komme mir in diesen Tagen wie eine Monade à la Leibniz vor, nein, dass ist nicht der Keks, den hat Bahlsen erfunden, nein das sind so eine Art metaphysische Konstrukte und Bausteine der Welt. In sich abgeschlossen und in prästabilierter Harmonie. Leibniz, in Halle geboren, war ja der Erfinder des Dualsystems, der Dezimalklassifikation, des Unterseebootes, der Integral und Differentialrechung. Von all dem habe ich wenig behalten, aber Monade, Einheit, fand ich schon vor dreißig Jahren gut – Deutsche Einheit. Das monadische Sein legitimiert auch endlich die einsamen Autofahrten in die noch einsameren und noch verlasseneren Städte – und es gibt viele Monaden, die es mir gleichtun. Früher wurden wir dafür als Umweltschweine geschimpft, jetzt achten wir auf Hygiene und isolieren uns selbst – jetzt sind wir zwar nicht klimaneutral, aber solidarisch.

5.     Ohne Angela Merkel bin ich einsamer denn je und schaue jetzt Prominachrichten

Meine Kanzlerin ist in Quarantäne. Das ist so als wenn mir jemand die Luft zum Atmen weggenommen hat, denn in den gefühlt fünfzig Jahren ihrer Regierungszeit ist mir die ostdeutsche Pastorenmutter ans Herz gewachsen und eigentlich kenne ich gar keinen anderen Kanzler. Es war immer Merkel, auch wenn es davor mal einen Saumagenesser gab und einer der „Cohiba“ im Maßanzug rauchte und Frauen wie AUDI-Ringe sammelte. Irgendwie fühle ich mich allein – wie Oliver Pocher, der ist ja auch in Quarantäne, was nicht nur seine Kritiker, sondern auch Michael Wendler und seine Freundin freut. Mit Wohlwollen höre ich, dass Neurentner Jürgen Drews Mallorca verschont, was wiederum die Insulaner freut, die nicht zum 50.000 Mal ein „Bett im Kornfeld“ hören müssen.

Dieser Tage musste ich mächtig mit dem Schicksal hadern, weil mir die Mutter Beimler, die zweite Mutti der Nation, und mit ihr mir die „Lindenstraße“ abhanden gekommen sind. Ich fühle mich so entwurzelt.

Dafür hat sich aber die erste Bundesmutti wieder aus der Quarantäne zurück gemeldet und mahnt uns zu Besonnenheit. Und das Gute an all diesen schlechten Nachrichten: Der Co2-Ausstoss und die Stickstoffdioxide gehen zurück. Das Klima erholt sich. Die Luft in den Städten wird sauberer. Und was keiner mehr dachte, die Bundeskanzlerin hat es geschafft, dass Deutschland in Folge der Coronakrise sein Klimaschutz-Ziel für das Jahr 2020 erreichen wird. Denn es könnten je nach Ausmaß der Krise nicht nur wie angestrebt 40 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 ausgestoßen werden, sondern sogar bis zu 45 Prozent weniger. Corona sei Dank. Aber man soll ja keine Witze am 1. April machen, dies hat selbst der ehemalige Faschingsprinz Markus Söder gesagt.

Zum ersten Teil der Satire kommen Sie hier: “4 Dinge, die ich nicht in Coronazeiten tun würde”

Achtung Satire: Wir bleiben bei der Winterzeit

Stefan Groß-Lobkowicz28.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Seit 1996 werden in der Europäischen Union am letzten Sonntag im März sowie am letzten Sonntag im Oktober die Uhren jeweils eine Stunde umgestellt. Viele hatten sich die Abschaffung der Prozedur gewünscht. Werden auch die Uhren in diesem Jahr wieder umgestellt? Nein: in diesem Frühjahr ist alles anders.

 

Seit Jahren wird den Medien viel über die Zeitumstellung diskutiert. Über 4 Millionen EU-Bürger hatten 2018 abgestimmt. Sind Sie für oder gegen die Sommerzeit, so hieß es damals aus Brüssel? Nicht nur die Deutschen fühlten sich gestresst.

Die EU-Kommission wollte eigentlich die Zeitumstellung ganz abschaffen. Der ehemalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hatte den genialen Plan schon 2018 auf den Tisch gelegt. Der sollte dann 2019 greifen. Griff er aber nicht. Dann wollte man ihn auf 2021 verschieben. Da schiebt er noch vor sich hin. Grund: Die einzelnen EU-Länder müssen dem Plan noch zustimmen. Doch – ob Flüchtlingsfrage, Verteilungsschlüssel oder Eurobonds – auch hier ist man sich nicht einig, wird es wahrscheinlich auch nicht. Die neue Chefin, Ursula von der Leyen, will erst einmal die Welt retten, bevor sie an die Zeit denkt, die Sommer- oder Winterzeit – das ist von der Leyen eigentlich egal, denn sie ist die Zeit, die vollendete Zeit, zeitlos.

Zeitknappheit  – dies gilt umso mehr in Zeiten des Coronavirus. Die Lage ist angespannt, die Zeit drängt. Aus diesem aktuellen Grund, in Zeiten von Ausgangssperre und Kontaktverbot, hat Brüssel nun das Thema der Zeitumstellung selbst in die Hand genommen. Wegen der Coronakrise findet die Umstellung dieses Jahr nicht statt. Begründung: Wir haben eh so wenig Zeit und im Kampf gegen das Coronavirus zählt jede Sekunde. Daher sei es völlig kontraproduktiv eine Stunde der kostbaren Zeit zu opfern. Wir haben keine Zeit triggern ja immer die Medien und die EU verschafft der coronageschundenen Welt jetzt eine Atempause. Das hat auch medizinische Gründe, wie Brüssel verlautbaren ließ. Der Biorhythmus sei zeitbedingt gestört, die Menschen ohnehin am Anfang eines kollektiven Nervenzusammenbruches. Daher sei es unverantwortlich; Menschen in Quarantäne mit dieser Lappalie zu belasten.

Wie Brüssel nun mitteilte, sollte man den Augenblick genießen, das gelte in Zeiten von Corona noch mehr. Denn die Zeit wird immer knapper. Ob es in Zukunft überhaupt noch Zeit, Sommerzeit, Winterzeit, Prä- oder Post-Corona-Zeit oder nur noch Ewigkeit geben wird, hat die EU-Kommission jetzt einmal vertagt. Wer aber nicht mehr in der Europäischen Union ist, wie der mit dem Coronavirus erkrankte Boris Johnson, sollte die Zeit jetzt nutzen, um über seine Europapolitik nachzudenken. Quarantäne als Nachdenkzeit. Apokalyptiker hingegen sprechen schon von Endzeit.

Achtung Satire: Beim Gassigehen verwandele ich mich zum Eremiten

Stefan Groß-Lobkowicz25.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Coronakrise, eingesperrt zu Hause, da kommt man auf die komischsten Gedanken. Was den Autor in Ausnahmezeiten dennoch bewegt, hat er hier zusammengetragen, wohl wissentlich, dass sein Leben ohne Corona andere Gedankenspiele hervorgebracht hätte, aber vielleicht ist auch das nur ein Trugschluss.

 

  1. Ich fühle mich wie Archimedes

Ich fühle mich wie Archimedes. Aber nicht, weil ich unbekleidet durch die Stadt laufe, auch nicht, weil ich in der Badewanne, wo einem oft zugegebenermaßen die besten Ideen kommen, das Archimedische Prinzip entdeckt habe, dass bekanntlich besagt, dass „der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium genauso groß ist wie die Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums.“  Nein: Ich schreie Heureka, „Ich habe [es] gefunden“. Nein, nicht mein Ich, nein viel wichtiger und existentieller –  endlich Klopapier. Wie ein Fährtenhund hatte ich mich auf Spurensuche tagelang vergebens gemacht – und wurde mit dem mir Undenkbaren belohnt. Fast hätte ich meinen Glauben aufgegeben, doch Gott verlässt eben einen im tiefsten Abgrund nicht, so grausam kann selbst die Theodizee nicht sein. Klopapier – was einst eine Selbstverständlichkeit war, unbeachtet im Supermarktregal lag, und das man immer ein wenig mit Scham sich in die unterste Lage des Einkaufkorbes packte, ist in Zeiten der Coronakrise zum Bestseller geworden. Ausverkauft über Tage. Nie hatte Klopapier so eine Renaissance, nie wurde es mehr zum viral-medialen Hype, triggerte durch die Nachrichtensender als gäbe es keine anderen Probleme. Hamsterkäufe heißt das heute, aber es meint nicht den Nager, den man in der Zoohandlung für schmales Geld erwerben kann, der aber, so Wissenschafter und zu meinem Entsetzen, nicht gegen den Befall mit dem Coronavirus schützt, sonst hätte ich mir gleich zwei gekauft, hätte Karl Theodor zu Guttenberg sicherlich auch, wenn es um Doktortitel ginge, so wäre ihm zumindest einer geblieben. Aber diese Hamsterkäufe, als gäbe es kein Morgen, gibt es eigentlich regelmäßig vor einem Feiertag, weil dann alle denken, zu verhungern. Nur darüber spricht eben keiner, weil es nichts, rein gar nichts,  mit dem Virus zu tun hat. Aber diese Hamsterkäufe haben selbst den niederländischen Ministerpräsident Mark Rutte auf den Plan treten lassen, der von der Raffgier seiner Landsknechte so erschreckt war, dass er den grandiosen Satz verkündete:  „Wir haben soviel, wir können zehn Jahre kacken.“

Ältere Damen, die Weltkrieg und DDR, im schlimmsten Fall, beides überstanden haben, wundern sich brüskiert über diesen Run aufs Klopapier. Zeitungen für die alltäglichen Üblichkeiten des Menschen als Mängelwesen zu verwenden, war vor den Zeiten der Komfortzone grüner SUV-Fahrer keine Notlösung, sondern Usus. Die Aufbauhelferinnen und Trümmerfrauen, also nicht die verwöhnte, dreilagige Klorollen konsumierende Generation von heute, waren darin mit Sicherheit viel pragmatischer. Und der Journalist wusste indirekt, wozu er gebraucht wird. Zeitungen im wahrsten Sinne als Bückwahre. Derartiger Ge- oder Missbrauch hat manche Schmiererei davor bewahrt, erinnert zu werden, irgendwo in den Archiven der Onlinemedien rumzugeistern. Also auch noch produktive Selektion.

  1. Ich bin zwar keine Frau, halte aber eine Armlänge Abstand

Normalerweise pflege ich Kontakt mit meinem Mitmenschen. Gebe ganz, wie Thomas de Maizière in Sachen Leitkultur einst in seinem Katalog des guten Deutschen einforderte, anderen die Hand als Zeichen meiner Wertschätzung. Das „Reich mir die Hand mein Leben“ aus Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ wird heute schon als Provokation gesehen, schlimmer, als Aufruf zum Massenmord. Und seit der Coronakrise ist das auch für mich keine Selbstverständlichkeit mehr. Staatdessen kommuniziere ich mit meinen Eltern nur noch übers Haustelefon. Man weiß ja nie wie das Virus mutiert, vielleicht hat es dieses demnächst gar nicht mehr auf Alte abgesehen, sondern auf Jüngere, macht einen postmodernen Turn in die Gegenläufigkeit. Aber in erster Linie kultiviere ich diese Art der Selbstbeschränkung, um nicht nur der Weisung von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker Genüge zu leisten, die nach der Flüchtlingskrise 2016 Frauen riet, „eine Armlänge Abstand zu Fremden zu halten“, sondern weil ich die Ausnahmeentscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten respektiere, der gegen geltendes Recht, aber dafür von seinen Untertanen beehrt, auch mir den Abstand wie dem Rest des Bergvolkes verordnet hat. Dabei spielt es in Zeiten von Corona für mich eigentlich auch keine Rolle mehr, wenn eh alles auf Endzeitstimmung paralysiert läuft, ob ich eine Frau, ein Mann oder doch ein Gender bin, der nur noch nicht über diese Möglichkeit seiner Existenz nachgedacht hat. Ich gehe, eigentlich schon immer, lieber auf Behindertentoiletten, denn da gibt es zumeist Klopapier, gerade in harten Zeiten wie diesen, sie sind zudem deutlich sauberer und man hat Zeit. Dafür aber ist man sehr einsam. Vielleicht, so denke ich mir, teste ich doch die Unisextoilette, da trifft man ja eine Menge Menschen auf Selbstfindungstrip, denen man, wenn man nicht ins Berghain oder in den KitKatClub geht, in seinem Leben nie begegnen würde.

  1. Beim Gassigehen verwandele ich mich zum Eremiten

Gassigehen ist das, was einen Hundebesitzer am meisten nervt. So sehr man seinen Vierbeiner auch liebt, der ständige Drang nach Entleerung des treuen Begleiters wird insbesondere im Winter zur physischen Herausforderung, von den psychischen Qualen ganz zu schweigen, die einem durch die Winterdepression entgegenschlagen. Dann denkt man grausamerweise insgeheim an die Tage ohne Hund, aber sofort tilgt man die bösen Bilder und ersetzt sie damit: Ein Leben ohne Dackel ist zwar möglich, aber eigentlich sinnlos.

Doch ganz anders ist es im Sommer. Da funktioniert der Hund wie eine Kontaktbörse. Unbekannte sprechen einen an, man kommt in Gespräche mit charmanten und sogar jüngeren Damen, die einen sonst nie begegnen, geschweige denn mit einem reden würden, was dann auch dem eigenen Alter entsprechenden Pulsschlag erhöht, zu kurzzeitigen vergnüglichen Herzarrhythmien führt und damit indirekt wiederum zugleich die Tierliebe festigt. Gleichwohl man auch feststellen muss, dass die Aufmerksamkeit nicht einem selbst, sondern dem „Köter“ entgegengebracht wird, was die Tierliebe dann wiederum rasant schmälert. In diesen Augenblicken zärtlicher Umkosungen wünscht man sich gern, ein Hund zu sein, auch wenn man sich sonst eine kynische Lebensweise nicht als Maxime auf die Fahnen der Existenz malen möchte. Doch in Zeiten von Corona ist auch das wieder anders. Verkehrte Welt. Der neue Kategorische Imperativ lautet:  „Handle so, dass dir keine Frau, kein Hund und kein Mensch begegne“. Die Crux an der Geschichte – es gibt nur noch Eremiten im Englischen Garten, nur noch Mutige gehen zu zweit, die meisten bleiben zu Hause und nutzen die Zeit zur Vermehrung. Die Freizeit, so bin ich mir sicher, sinnierend, einsam auf den leeren Pfaden, wird zur Weihnachtszeit einen Kindersegen den Deutschen bringen, die zwar ähnlich wie die Franzosen immer unfruchtbarer werden, aber mit genügend Zeit durchaus Volltreffer erzeugen dürften. Und jetzt, wo es bald Massenarbeitslosigkeit gibt, ist der Kinderwunsch zumindest eine Möglichkeit, die neu gefundene Freizeit von Feministinnen und Karriere-Power-Frauen sinnvoll in die Nachkommenschaft zu investieren. Dadurch könnte uns vielleicht auch die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland erspart bleiben, wobei ich mich immer verwundert frage, was die vielen einsamen Männer, die Migranten, jetzt in ihrer Freizeit tun. Sorry, die haben ja immer mehr Freizeit gehabt, nur wir mussten arbeiten, um das zu bezahlen. Dann jedoch verwerfe ich diesen Gedanken als rassistisch, der selbst in der Coronakrise nicht zu rechtfertigen ist, denn ich bin weder kynisch noch zynisch.

  1. Ich schaue mir neuerdings Instagram-Bilder an

Normalerweise nutze ich Soziale Netzwerke eigentlich zur zum Erkenntnisgewinn. Was manchmal schwierig ist, denn dem Post eines „Toastes“ eine metaphysische Qualität abzuringen, ist beinahe intellektuell uneinholbar. Noch schwieriger, wenn gerade dieser Post, zigtausende Likes hat. Dann fragt man sich berechtigt, ist nur einer verblödet oder das ganze Following? Was macht den Toast qualitativ so wertvoll, währenddessen kluge Sachen zu gut wie möglich im Netz ignoriert werden.

Dann gibt es ja noch die Postings von der AfD, die haben Konjunktur – und hier denke ich mir, es muss wohl am Corona liegen, dass die Krankheit einfach in den Kopf gestiegen ist und dort das Denk- und Reflexionszentrum in die Knie zwingt. Björn Höcke samt geistiger Diarrhö, die er messianisch über seine Adepten aussendet, hat es wohl schon länger. Vielleicht hat er es irgendwelchen Nazis in China infiltriert, deren Frauen, die ja vermehrt in der Modebranche in der italienischen Lombardei arbeiten, wo das Virus wie in Whuan grassiert und die zudem in Sachen Luftverschmutzung in Europa in der Champions League spielt, wenn sonst schon keiner mehr auf dem Kontinent Fußball spielt, wieder nach Europa gebracht. Aber das bleiben Spekulationen von Verschwörungstheoretikern, die gerade bei Facebook ihre Renaissance feiern.

Bei Instagram hingegen hat man immer schöne Bilder – Frauen zeigen sich in den freizügigsten Posen. Blöd nur, ich habe nie eine davon in der Wirklichkeit gesehen. Wie Realität und Virtualität seltsam auseinander gehen, denke ich. Aber das liegt wahrscheinlich an der Ausgangssperre tröste ich mich im selben Atemzuge.

Ich werde sie alle wieder sehen, sobald mir die Sache mit dem Klopapier aus dem Kopf gegangen ist, ich den Abstand nicht mehr halten muss und endlich meinen Hund wieder als Kontaktbörse einsetzten kann. Doch jetzt gehe ich aus Solidarität mit meiner Kanzlerin Angela Merkel, die Kontakt mit einem Viruserkrankten hatte, vorerst selbst in Quarantäne und warte auf Godot. Soviel Patriotismus muss sein. #IchBleibeZuhause.

Ein Plädoyer für mehr Innerlichkeit

Stefan Groß-Lobkowicz20.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Das Coronavirus hat die Welt verändert. Der Alltag ist ein anderer geworden, die Menschen mehr auf sich selbst gestellt. Doch was können wir in dieser Zeit der Uneigentlichkeit an neuer Eigentlichkeit gewinnen? Ein Aufruf zu mehr Innerlichkeit.

 

Ostern wird zu Karfreitag

Einst waren wir Beschleunigungsweltmeister und unser Alltag glich denen von Getriebenen. Die Meßlatte war auf Unendlichkeit und grenzenloses Wachstum eingestellt. Doch heute entschleunigt das Coronavirus die Welt, die nur ein Vorwärts kannte, eine ungeheure Eile, ein Rasen in die Zukunft hinein. Nun liegt sie verlassen da, gespenstisch diese Ruhe, ungewohnt. Die Börsen fallen wie welkes Laub, die bunte Welt von Goethes „Osterspaziergang“  eingefroren, Ostern wird zu Karfreitag.  Statt „Dorfs Getümmel, hier ist es Volkes wahrer Himmel“ allenthalben lähmende Ungewissheit, Panik und Zweifel. Unsichtbar nagt das Virus an unseren Seelen und zwingt uns, den Freiheitsfanatikern, zu selbst verordneter Demut. Die Einsamkeit webt ihr Band und seltsam mutet es an, im „Nebel zu wandern“ wie Herrmann Hesse einst schrieb. Der Herbst, so scheint es, ist inmitten des Frühlings angekommen – und unruhig wandern wir durchs Unbekannte. Vielleicht sind wir auf dem Weg in eine neue Sentimentalität, hin zu einer melancholischen Schönheit, die so vielen Künstlern eigen war.

„#WirBleibenZuHause“ ist zur neuen Lebensmaxime geworden und der homo oeconomicus  agiert aus Quarantäne und Home-Office. Die einst globalisierte Welt ist zu Beschaulichkeit und Übersichtlichkeit geschrumpft, der Blick aus dem Fenster die einzige Form lebensweltlicher Interaktion. Die globale Welt ist nun tatsächlich das Dorf, aber das Dorf unserer Einsamkeiten.

Die Interaktionsäume sind kleiner geworden, aber die Zeit verdichtet sich. Fegte sie früher wie ein Orkan über uns hinweg, wird sie nun zur statischen Konstante. Die Sinnfrage stellt sich in Zeiten anmutender Sinnlosigkeit. Doch, „wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr,“ schrieb einst Rainer Maria Rilke und der große Stoiker Seneca empfahl bereits vor zweitausend Jahren: „Zieh dich zurück in die Stille der Muße, aber lass auch um diese Muße selbst die Stille walten.“

„Nur die Ruhe ist heiter, die uns die Vernunft schenkt“

Kannte der aufgeklärte und technikaffine Mensch des 21. Jahrhunderts nur die positive Freiheit, die „Freiheit zu“, so spürt er nunmehr die negative Freiheit, die ihm als Ausgangssperre die eigentliche Handlungsfreiheit verstellt und in ungekannte Zwangslagen bringt. Doch diese Selbstbeschränkung gilt es auszuhalten, stoisch zu ertragen. Die äußere Unfreiheit in die innere Freiheit positiv zu übersetzen ist das Gebot der Stunde, die einst verlorene Seelenruhe zurückgewinnen und dem getriebenen Ich ein Stück weit Frieden, Langsamkeit und Besinnlichkeit zu geben. Das bleibt das Einzige, was uns in diesen Zeiten übrig bleibt. Verwandeln wir sie zu einer neuen Tugend, die in der Beschränkung möglicherweise einen neuen Sinn zu Reflexion, zu einer neu sich erfindenden Innerlichkeit und besonneneren Ruhe findet. „Nur die Ruhe ist heiter, die uns die Vernunft schenkt“, hatte ja Seneca schon gelehrt.

 

Von links bis rechts – Mit Beethoven kokettierten alle

Stefan Groß-Lobkowicz19.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Sie gilt als eine seiner Meisterwerke, die „Neunte“. Für die Freiheit war sie geschrieben, die Freiheit wollte sie feiern und auf den Thron heben. Doch Beethovens 9. Symphonie faszinierte später linke und rechte Diktatoren gleichermaßen. Alle nahmen das Recht in Anspruch, sich mit ihrem Freiheitsdenken auf den Bonner Komponisten zu berufen.

 

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt hatte Gottkaiser Napoleon einst diktiert. Nicht weiter als ein Schritt bleibt auch der von Freiheit in die Tyrannei. Die freiheitlichste Revolution auf dem Kontinent, die Französische, versank kurzerhand im Terrorstaat der Jakobiner und fraß buchstäblich ihre Kinder. Und Napoleon wird später eine Diktatur errichten, die halb Europa in den Krieg stürzt. Die Tränen der Freiheit überzogen buchstäblich das Land mit den Gräueltaten des Imperators. Freiheit und Notwendigkeit traten – wie immer – in der Geschichte auf den Schlachtplätzen Europas tief auseinander, fielen in dunkle Extreme und hinterließen die grausame Blutspur der Macht. Die Geschichte war und ist nichts anderes als der Abenteuerspielplatz dieser Dialektik.

Die Dialektik als Movens

Während Hegel, der in diesem Jahr 250. Geburtstag feiert, diese Dialektik in eine kraftvollere Synthesis überführen will, wo das Wahre eben das Ganze sei, verblasst das Theoreticum der Philosophie immer dann, wenn die blutige Realität sich die Räume erobert. Das musste sich selbst der enttäuschte Hegel eingestehen, dem Freiheit das A und O seines Denkens werden soll, selbst wenn er anfangs Napoleon als die „Weltseele zu Pferde“ verklärte. Doch Hegel sollte wie Beethoven ein liberaler Aufklärer bleiben.

Die Interpretationsgeschichte eines der bekanntesten deutschen Symphonien, Beethovens Neunter, hat sich leicht neben Hegels berühmter Dialektik geschrieben und hat statt Harmonie Dissonanzen wie Unkraut hervor treiben lassen. Zerfiel Hegels Philosophie einerseits mit Kierkegaard in den Existentialismus, mit Marx bekanntlich in den fatalen sozialistischen Realismus, der mit Lenin und Stalin die Orgien des Todes feierte, so hat kaum ein anderes Kunstwerk als die 9. Symphonie weit über Beethovens Tod hinaus den deutschen Geist polarisiert. Beethoven starb 1827, krank, taub, vom Leben stigmatisiert, doch ungebrochen blieb sein Pathos für die Freiheit.

Thomas Mann warnte vor der “Neunten”

Hatte Beethoven einst die Neunte Friedrich Wilhelm III. von Preußen gewidmet, in Erwartung, dass sich der zögerliche und zaudernde Regent, der reformwillig, aber nach der Restauration zugleich wieder zum Hardliner wurde, Pressefreiheit und bürgerliche Freiheitsrechte zugunsten des Adels verbrämte, für den Gedanken bürgerlicher Freiheit begeistern möge, forderte später Dichterfürst Thomas Mann sogar in seinem „Doktor Faustus, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“, die 9. Sinfonie zurücknehmen. „Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen,“ so der Protagonist Adrian Leverkühn. Doch was trieb den Literaturpreisträger Mann dazu, Beethovens „Neunte“ zurücknehmen zu wollen?

Von links bis rechts

Beethovens 9. Symphonie orchestrierte die Welt, ob von links oder von rechts. Als Hymne der Befreiung aus geistiger Sklaverei, selbstherrlichem Despotentum erwachte sie als musikalisches Manifest der Arbeiterbewegung, trug sie doch wie kaum ein anderes Werk den Emanzipationsgedanken von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie ein glorreiches Transparent vor sich her. Sie galt für die Lohnarbeiter als Befreiungsschlag gegenüber der Tyrannei eines entfesselten kapitalistischen Unterdrückungssystems.

Ideologisierung durch den Diktator Josef Stalin

Für den sowjetischen Diktator Josef Stalin, der Millionen von Menschen in die GuLags oder auf dem Schafott seiner Ideologien opferte, war sie „die richtige Musik für die Massen“, die „nicht oft genug aufgeführt werden“ könne. Ein geradezu linksradikaler Beethovenkult hatte sich in der Stalin-Ära etabliert, eine Beethoven-Epidemie überschwemmte regelrecht die sozialistische Sowjetrepublik und Beethovens Freiheitsideal wurde von den linken Machthabern instrumentalisiert, so dass vom ursprünglichen Freiheitsgedanken rein nichts mehr übrig bleiben sollte.

Radikalisierte Stalin die „Ode an die Freiheit“ in ihrer Einseitigkeit, so fand auf der anderen Seite geradezu eine nationale Hysterie um Beethoven statt. Die deutschnationale Bewegung entflammte mit ihren Stereotypen für die 9. Symphonie, verdrehte die einstigen Ideale, stellte sie quasi vom Kopf auf die Füße und rechtfertige samt ihrer den grausamen Kampf der NS-Regimes. Freiheit hieß nun bei Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels, was die Nazis darunter verstanden: Säuberung von unwertem Leben, Volk ohne Raum-Politik und die Auslöschung ganzer Ethnien wie sie sich im Holocaust spiegelte.

Beethovens Vereinnahmung durch die Nazis

Was der Stürmer und Dränger und spätere Klassiker Friedrich Schiller einst in rauschhafter Freude verfasste und Beethoven in Musik verwandelte, entartet im Dritten Reich zur nationalistischen Hybris, zur Titanenmusik von Krieg, Terror und dem zweifelhaften Freiheitsgedanken der Nazis. So verkündigte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1942 auf einer Feier der NSDAP zum 53. Geburtstag von Adolf Hitler: „Diesmal sollen die Klänge der heroischsten Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmten, dieses Bekenntnis in eine ernste und weihevolle Höhe erheben.“ Und Goebbels weiter: „Wenn am Ende unserer Feierstunde die Stimmen der Menschen und Instrumente zum großen Schlussakkord der neunten Sinfonie ansetzen, wenn der rauschende Choral der Freude ertönt und ein Gefühl für die Größe und Weite dieser Zeit bis in die letzte deutsche Hütte hineinträgt, wenn seine Hymnen über alle Weiten und Länder erklingen, auf denen deutsche Regimenter auf Wache stehen, dann wollen wir alle, ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Soldat, ob Bauer, ob Arbeiter oder Beamter, zugleich des Ernstes der Stunde bewusst werden und ihm auch das Glück empfinden, Zeuge und Mitgestalter dieser größten geschichtlichen Epoche sein zu dürfen.“

Vielleicht hätte Beethoven, so er denn den Weitblick in die Zukunft gehabt hätte, die „Neunte“ gar nicht geschrieben, weil sie von links und rechts missbraucht wurde? Doch, er hätte sie geschrieben, weil er als überzeugter Idealist auch daran glaubte, dass man doch aus der Geschichte lernen kann und letztendlich die Freiheit über die Tyrannei siegen wird.

Dem Coronavirus mit Vernunft begegnen

Stefan Groß-Lobkowicz13.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Das Absurde regiert. Es regiert im Gewand eines Virus, der die Welt in Atem hält. Doch so sehr das Coronavirus sich ausbreiet, Ängste schürt; es gibt nichts Absurdes – gegen das sich der Mensch nicht stemmen kann. So absurd die Welt nach zwei Weltkriegen und dem grassierenden Virus auch ist, Rettung erwächst vom rebellierenden Menschen. Das Coronaviurs zeigt aber auch: das Analoge regiert weiter die Welt.

Camus‘ Philosophie ist eine im Wartestand. Denn weder glaubt er an die Verheißungen der Ideologen und eilfertigen Theologen noch liefert er sich dem Nichts Sartres aus. Jenseits der Tablets, jenseits des Machbarkeitswahns bleibt sie, die Absurdität und erweist sich als tägliche Konstante, der keiner entrinnt – hier hilft auch kein virtueller Verdrängungsmechanismus. Größer als die Macht des Virtuellen bleibt das Analoge, das als Schicksal immer dann und gewaltig zuschlägt, als Todeserfahrung, als Trennung oder Selbstentzweiung. Das Virtuelle verfängt nicht im Scheitern – das Analoge schon, denn es zeigt, dass sich Differenz- und Leiderfahrungen nicht virtualisieren lassen, dass bei allem Digitalisierungs- und Optimierungswahn die nackte Existenz bleibt. Vielleicht ist das Leben der technikaffinen Selbstoptimierer sogar absurder, weil es das rein Menschliche und Endliche verdrängt, weil es dem Leben gerade das nimmt, was es motiviert sich dagegen aufzulehnen – das Absurde, das Leid?

Das Coronavirus als die Offenbarung des Absurden

Die Selbstverschanzung und Vermummung hinter dem Virtuellen erweist sich nämlich genau dann als schöner Schein, wenn das Leben, die Welt in ihrer Unendlichkeit, Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit als Klimakrise oder neue Pest, als Coronavirus, die Hybris offenbart und sich in die Fratze des Absurden kleidet, der keiner mehr zu entrinnen vermag und die den Selbstoptimierern vielmehr die Atemmasken ins Antlitz drückt.

So ist die Absurdität des Daseins mit der Pandemie wieder auf den Plan getreten und die Digitalisierer geraten in Anbetracht dessen in Verzweiflung, weil der Virus etwas ist, das sich nicht per Mausklick abschalten lässt. Und aus dieser Ohnmacht heraus geriert sich ein neuer Pessimismus, der nicht nur allerorten regiert, sondern der mittlerweile Dimensionen annimmt, die selbst Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ radikal zu überbieten scheint.

Die Welt scheint aus den Fugen. Die hysterische Menschheit steht vor der Klippe. Lässt sie sich von Pessimismus und Resignation einfangen, springt sie gar in den Glauben wie einst Kierkegaard oder widersteht sie dem pandemischen Absurden durch Revolte, lehnt sie sich gegen das Schicksal auf?

Dem Absurden mit Vernunft begegnen

Camus‘ Pessimismus führt nicht in die Resignation, gebiert nicht lähmende Untätigkeit, sondern schöpft aus der Tiefe des Pessimismus heraus jene Kraft zur Revolte, die Behauptung der eigenen Existenz. „Eben weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für die Gerechtigkeit wirken. Und weil sie im Grunde absurd ist, müssen wir ihr umso mehr Vernunft geben.“ Oder: Weil die Pandemie die Grenzen des Vernünftigen sprengt, müssen wir ihr mit mehr Vernunft begegnen, müssen ein Scheitern-Können in einen produktiven Sieg verwandeln, zumindest dieser Form des Absurden widerstehen oder es gar als reinigende Kraft begreifen, die uns das Schicksal in die Hände gelegt hat, um der Selbstreflexion willen, um das Absurde als das zu verstehen, was es immer war, die Konfrontationslinie, der Sperrzaun, die Grenzmauer, die das Subjekt immer wieder in Frage stellt und ihm dadurch dennoch Würde zurückgibt.

Sein wie Sisyhos

Die Rebellion bleibt das letzte Wort Camus‘. Das Meer des Lebens auszutrinken ist das humanitäre Ideal des Einzelnen, der selbst, wenn er in seiner Individualität zu Grunde geht, buchstäblich nichts mehr von ihm bleibt, keine Träne und selbst die Erinnerung nicht. Eben weil nichts von uns bleibt, weil uns die Geschichte wie die tosende Brandung, die an der Erde nagt, tilgt und hinwegträgt, wenn keine Träne im endlosen Meer an uns erinnert, gilt es standhaft wie Sisyphos zu sein, glücklich im Absurden, heroisch kämpfend auch in Zeiten der Pandemie. Nur wenn wir standhalten, wenn wir den Irrsinn eines fast medial-metayphsich aufgeblasenem Coronavirus mutig entgegentreten, scheitern wir nicht endgültig.

„Unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander sind auf eine Probe gestellt“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf die Bedrohung durch den Coronavirus. Und genau diese Menschlichkeit zu finden, meint Humanität im Sinne Albert Camus’.

Was bleibt von Albert Camus? Sind wir nicht Verdränger des Absurden?

Stefan Groß-Lobkowicz9.03.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Selbstoptimierung, Selfie-Wahn, Happenings – wer nicht gut drauf ist, wirkt asozial. Konjunktur im Selbstbeweihräucherungsrausch haben die Sozialen Netzwerke, scheinen sie dem Menschen doch Halteseile der Glückseligkeit per se, Definitionen der je eigenen Existenz. Doch näher betrachtet, sind sie banale und platte Verdrängungsoberflächen einer Unkultur, die im Flüchtigen und Belanglosen den Augenblick feiern. Und damit stellt sich die Frage, ob ein Philosoph wie Albert Camus, dessen Denken immer wieder um das Absurde, die Absurdität des Lebens kreiste, im 21. Jahrhundert nicht eine reichlich obsolete Größe geworden ist, mit dem zu philosophieren, bzw. von ihm aus die Welt zu denken, den Blick in die Zukunft eher verstellt als dass sie diese befördert?

Die stählernen Kolosse faschistischer und kommunistischer Ideologie sind verschwunden, doch Ungerechtigkeit, Intoleranz und Kriege geblieben. Das absolute Glück liegt weiterhin in den Sarkophagen und die Wahrheit wird der Meinungsmache geopfert. Geistige GuLags werden errichtet und die Freiheit Andersdenkender steht im Bannstrahl etablierter Deutungshoheiten. Das Irrationale überwuchert die Vernunft, Fake News die Realität, das Bewusstsein taumelt von Happening zu Happening und wird nicht mehr Gewissen. Das Glück ist nicht näher gerückt und das Unglück nicht weniger geworden. Doch medial exponiert hat es sich, flimmert in Echtzeit vom Nord- zum Südpol.

Wenn „The Biggest Loser“ oder „Germany’s Next Topmodel“ mehr Seelenheiler sind

Doch, so ließe sich fragen, verliert das Unglück, das Absurde, damit nicht an Geltungskraft, weil es allgegenwärtig die Auffassungs- und Emotionalität des Menschen überfordert und so zu einer tolerierbaren, einkalkulierten Größe wird, die man wegzappt, wenn die Spannungskurve der Negativitäten überschritten ist, „The Biggest Loser“ oder „Germany’s Next Topmodel“ mehr Seelenheiler werden als das Grauen der Welt dieser bereiten kann? Ist das Absurde Camus‘ im 21. Jahrhundert so nicht eine obsolete Größe geworden, die den Blick in die Zukunft eher verstellt als dass sie diese befördert? Denn das Scheitern-Können gehört nicht mehr in den Katalog der Eitelkeiten des Erfolgsmenschen, der nur auf der Überholspur eilig seine Gewinne kassiert. So droht das Absurde in Zeiten von Handyanbetung und iPad-Seligkeit in die Vergessenheit zu kippen. Im Virtuellen, als neuer Unendlichkeit gedacht, wird die Endlichkeit gestrichen, die Sterblichkeit eher als Ballast als ein Sein-zum-Tode verstanden durch die Sinnfindung und -stiftung aber allererst möglich wird. Und so manifestiert sich die Ego-Gesellschaft als neuer Mensch und weicht im Virtuellen selbst den Tod mit auf.

Per Mausklick ins Glück

Die neuen Oberflächen sind Transhumanismus, Künstliche Intelligenz, Kryonik und Big Data. Und die neuen Reproduktionstechnologien sind drauf und dran, die Differenz zwischen Welt und Ich, für die bei Camus das Absurde stand, aufzulösen und eine Kontinuität zu erzeugen, die auf absolute Erklärbarkeit, Plausibilität, Unsterblichkeit und letztendlich wieder auf einen Totalitarismus der Überwachung hinausläuft. Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft, Existentialien camus’scher Glücksfindung gehen Gefahr, in ihr Gegenteil zu kippen, in Angepasstheit und Uniformität. Freiheit wird als Einsicht in das Notwendige verstanden und gerät zur Schablone der schönen, neuen Welt. Die Leidenschaft verkommt zur Schimäre in einer technikaffinen Welt, die in die Brunnenstuben der Macht hinabsteigt und das Bild des Menschen radikal zu ändern sucht. Und die Leidenschaft als das Netz, das emotional verfängt, abzustreifen, ist die neue Resilienz ungestörter Selbstbehauptung, die sich in der iPhone Vereinsamung eine Welt erschafft, die keine Grenze mehr kennt, für die sich die camus’sche Ambivalenz von Sinnhaftigkeit und Glück und der Erfahrung der Sinnlosigkeit gar nicht mehr stellt, per Mausklick ins Glück.

Eben weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für die Gerechtigkeit wirken

Camus‘ Philosophie des Absurden mag bei näherer Betrachtung genau die richtige Weltanschauung für fleißige und tapfere Menschen sein, die von der Vergeblichkeit all ihrer Anstrengungen überzeugt sind, und die dennoch ihre Würde behalten wollen, die in aussichtsloser Lage arbeiten und kämpfen und eben deshalb groß und vor sich selbst und den anderen gerechtfertigt sind.

So bleibt Camus der Anwalt genau jener, die zwischen Sinnlosigkeit und Sinnsuche schwanken. Er ist es, der den Gedemütigten und Entrechteten eine Stimme verleiht, einen Humanismus ohne rettenden Anker zugleich, der ihnen aber im Angesicht ihres unwürdigen Schicksals, in ihrer Endlichkeit und Absurdität Unendlichkeit und Ewigkeit verschafft. Denn zeigt sich wahre Größe nicht im Scheitern und dennoch Standhalten, im Gedemütigtwerden und dennoch Würdigsein?

Das Absurde lässt sich nur ästhetisch rechtfertigen

Die Form der Vergegenwärtigung bleibt für den Literaturpreisträger Camus dabei die Kunst und der Künstler ihr Chronist. „Die absurde Welt lässt sich nur ästhetisch rechtfertigen“, notiert er Ende 1942 in seinem Tagebuch. Von Homers „Ilias“ bis hin zu John Waynes „Alamo“ – die gewaltigsten Heldenepen sind Epen des Untergangs. So degradieren die Feuer des versinkenden Trojas die griechischen Sieger zu zuckenden Schatten. Es waren nicht die siegreichen Griechen, sondern die geschlagenen und dem Tode überlieferten Trojaner, die im Scheitern ihre existentielle Würde dokumentierten. Ein Trost bleibt also, selbst in einer Welt, wo das Absurde regiert. Ein Trost, der das Resignieren auflöst, solange er sich mutig dem Kampf stellt. Das macht Camus so aktuell, gerade in Zeiten von Flüchtlingskrise, Hungersnöten, einem heraufeilenden Klimawandel und einem sich in Windeseile verbreitenden neuartigen Coronavirus. All diesen Miseren ist, so würde Camus sagen, nicht gleichgültig zu begegnen, sondern die „Auflehnung stellt die Welt in jeder Sekunde in Frage“, denn der absurde Mensch ist das Gegenteil des Versöhnten. „Der absurde Mensch kann alles nur ausschöpfen und sich selbst erschöpfen. Das Absurde ist seine äußerste Anspannung, an der er beständig mit einer unerhörten Anstrengung festhält; denn er weiß: in diesem Bewusstsein und in dieser Auflehnung bezeugt er Tag für Tag eine einzige Wahrheit, die Herausforderung“.

Albert Camus: Mit Sisyphos gegen die Absurdität

Stefan Groß-Lobkowicz24.02.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

„Etsi deus non daretur“ – zu Leben als ob es Gott nicht gäbe. Für Dietrich Bonhoeffer war es die Lebensmaxime eines bekennenden Christen. Für Albert Camus, den Denker des Absurden, ist es die Herausforderung des Lebens, das in einer sinnlosen Welt nur die Revolte proben kann, dem aber alle metaphysischen Rückversicherungen unmöglich bleiben.

Für manche ist das Leben ein Honigkuchen wie für den jungen Augustinus vor den „Bekenntnissen“, dem man sich hedonistisch in wilder Leidenschaft ergeben kann, für andere eines, das in stoischer Gelassenheit zu ertragen sei – und das schließlich darin kulminiert, sein Schicksal anzunehmen wie es der große Seneca formulierte. Für andere wiederum ist es nichts anderes als eine absurde Realität, die im noch absurderen Tod endet.

Philosophie des Absurden

Es war Albert Camus, der 1960, vor sechzig Jahren, bei einem Autounfall tragisch verstorben ist, der zum Denker des Absurden wurde. Mehr noch: Camus‘ Existentialismus gerät zu einer „Philosophie des Absurden“, die den Menschen in seinem Hier- und Dasein quasi umstellt. Aus dieser Absurdität als Faktum gibt es keinen Ausweg, keinen Notfallplan, kein Heil; hier wächst das Rettende nicht als metaphysische Qualität vom Himmel, sondern schmiegt sich buchstäblich an den Lehm der Erde. „Wenn es das Absurde gibt, dann nur im Universum des Menschen. Sobald dieser Begriff sich in ein Sprungbrett zur Ewigkeit verwandelt, ist er nicht mehr mit der menschlichen Hellsichtigkeit verbunden. Dann ist das Absurde nicht mehr die Evidenz, die der Mensch feststellt, ohne in sie einzuwilligen. Der Kampf ist dann vermieden“, heißt es bei Camus.

Anders als bei Sören Kierkegaard, der aus der „Krankheit zum Tode“ in den Glauben springt, anders als Nietzsches Amor fati, das den Übermenschen zum neuen Gott macht und anders als der marxistisch eingefärbte Existentialismus Jean-Paul Sartres, ist das Absurde für Camus das Meer, das den Menschen umstellt, es auszutrinken doch seine Aufgabe bleibt.

Das Transzendente lässt sich nicht öffnen

Religiöses Hoffen auf Erlösung ist ihm ebenso fremd wie irgendein Idealismus. Aber gerade im Fehlen dieser transzendenten Momente zeigt sich seine neue qualitative Freiheit, die Freiheit des Auf-sich-selbst-Gestelltseins. Und diese ist es, die in einer absurd-sinnleeren Welt zum Movens wird, zur Gestaltungskraft gegen das Absurde zu rebellieren, selbst wenn dieses das Umgreifende bleibt, sinnlos und ohne Ziel. Und diese Existenz des Absurden lässt sich nicht verleugnen, da dieses weder im Menschen noch in der Welt allein ist, sondern weil es seine unbezwingbare Macht daraus bezieht, nichts von beiden zu sein und damit uneinholbar immer schon dem Bewusstsein vorausliegt. Diese Unvereinbarkeit von Mensch und Welt ist immer schon gesetzt, zwingt diesen aber dadurch, sich die Welt anzueignen.

Doch damit ist er allein auf sich gestellt. Der einstige Götterhimmel ist verblasst und das Absurde regiert so im Gewand des Gottesverlustes des Atheisten, der sich kein Jenseits mehr vorzustellen vermag, weil Gott für ihn ohnehin tot ist. Und so würfelt sich das Absurde wahllos in das Schicksal hinein, es ist buchstäblich banal zuhanden, vermag es doch „jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen.“ Es bleibt existentiell, greift in die Tiefen der Seele aus und vollzieht die negativen Brüche des Daseins. Als Qualität des Seins ist es totalitär, unabwendbar und unerkennbar und nagt faktisch an jeder Existenz.

Wider den Nihilismus in einer absurden Welt

Und dennoch verfällt Camus bei aller Radikalität, wie er das Absurde denkt keinem Nihilismus, sondern plädiert für einen heroischen Pessimismus, der aus der Sinnlosigkeit heraus, Sinn stiften kann, aus der Absurdität die Revolte zu entzünden vermag und das Aufbegehren gegen Unrecht, Inhumanität, Totalitarismus und Fundamentalismus.

Das Glück des Sisyphos

Die Mühen und Banalitäten des Alltages gilt es zu ertragen und aus dem Ewig-Gleichen, aus der Wiederholung des scheinbar Sinnlosen, Glück zu schöpfen. Für dieses Glück jenseits des Sinnlosen steht letztendlich die mythologische Figur des Sisyphos, stellvertretend für alle Menschen, der sein Schicksal bejaht, indem er es annimmt, den Stein immer wieder den Berg hinaufrollt, in dem Wissen, dass er im Nu wieder bergab fällt. Aber in der Reflexion darüber gewinnt er seine Freiheit und sein Glück. Oder wie es Camus beschreibt: „Ich sehe wie dieser Mann […] zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde seines Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen.“

Sisyphos verneint nicht die Welt wie Arthur Schopenhauer an sich, sondern begreift das Negative als Vorlage der Selbstverwirklichung. „Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. […] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. […] Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. […] Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Würde im Scheitern

Indem der tragische Held Sisyphos scheitert, dokumentiert er seine Würde. Und darin zeigt sich die Würde eines jedes Menschen, der gegen die Sinnlosigkeit seines Schicksals aufbegehrt. Es kommt darauf an, diese im Scheitern zu manifestieren und zur Chiffre, zum Symbol, werden zu lassen.

Und wenn Camus im „Mythos des Sisyphos“ noch das individuelle Schicksal als „Gewissheit eines erdrückenden Schicksals“ umschreibt, geht er im „Der Mensch in der Revolte“ über dieses hinaus. Der allen Menschsein zugrunde liegende gemeinsame Wert ist die „menschliche Natur“, ohne sie einzubeziehen oder zu setzen, ergibt die Revolte keinen Sinn. Und diese zeigt sich eben darin, dass es nun die Gemeinschaft ist, die rebelliert, die sich gegen die Absurditäten auflehnt und Solidarität und „menschliche Wärme“ dagegensetzt.

Die Empörung als Revolte

Indem sich der Mensch empört, erschafft er das „Wir“, das nach Gerechtigkeit schreit. „Die weder von Gott noch in der Geschichte ihren Frieden finden, verurteilen sich dazu, für die zu leben, welche, wie sie, nicht leben können: die Gedemütigten.“ Die „Brüderlichkeit der Menschen, die gegen das Fatum kämpfen“, soll zu einer Zivilisation, zu einer neuen Revolte ohne Mord und Totschlag führen, „in welcher die Dienste, die jedermann den anderen schuldet, ausgewogen sind durch das Nachdenken, die Muße und die Teilhabe am Glück, die jedermann sich selbst schuldig ist“.

Wie sagte Camus seinerzeit in seiner Nobelpreisrede in Stockholm? „Während die totalitäre Gesellschaft auf Grund ihrer Wesensart den Freund zwingt, den Freund auszuliefern, wollen wir daran denken, daß die westliche Gesellschaft trotz all ihrer Irrungen immer wieder jenen Menschenschlag hervorbringt, der die Ehre des Lebens hochhält, das heißt jenen Schlag, der selbst dem Feind die Hand entgegenstreckt, um ihn vor dem Unglück oder dem Tod zu retten.“

Der Terror von Hanau und Camus’ menschliche Wärme

Nach Hanau scheint das Absurde wieder näher ins Leben getreten zu sein. Der Terror, diesmal nicht von links, wie ihn Camus immer wieder kritisierte, hat sich den Alltag zurückerobert, die Fratze des Absurden desmaskiert den bürgerlichen Rechtsstaat. Doch die Menschheit, die westliche, rebelliert im Angesicht des Absurden und schafft den neuen Geist der Versöhnung, eben im „Wir“, das nach Gerechtigkeit schreit. Im Anblick der Grausamkeiten dieser Welt bleibt Camus‘ menschliche Wärme und zündet Kerzen an, wo das Absurde in die Brunnenstuben des Bösen gestiegen ist und die Gesellschaft an den Grundfesten erschüttert.

„Die große Klammer – eine Theorie der Normalität“

Stefan Groß-Lobkowicz16.02.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Was ist eigentlich normal? In Thüringen momentan wohl wenig. Passend zur Karnevalszeit geht es im Erfurter Landtag drunter und drüber. Wie konnte es dazu kommen? Eine ziemlich häufige Antwort von Kommentatoren ist die, dass sich Geschichte wiederhole. Die 20er Jahre waren bereits vor 100 Jahren ein Jahrzehnt des großen Durcheinanders, vor allem aber des Verlustes von Normalität. Heute erscheint die Lage kaum anders: mehr als 54% der Wähler hatten im Herbst 2019 Parteien ins Parlament gewählt, die als nicht normale – jedenfalls in einem übergeordneten Zusammenhang – betrachtet werden.

Wie kann daraus normale Politik erwachsen? Zum Thema Normalität hat Hans Martin Esser einen lesenswerten Essay geschrieben („Die große Klammer – eine Theorie der Normalität“, Kulturverlag Kadmos). Dabei beschäftigt er sich sehr tiefgehend und zugleich humorvoll-polemisch damit, wie Normalität entsteht, jenseits von moralisierenden Forderungen, obwohl Normalität doch gern als moralische Kategorie bemüht, gar missbraucht wird.

 Normalität als Phänomen

Wie entsteht nun das Normale? Gemäß Esser ist Normalität vor allem ein Maßstab, der aus Gruppendenken erwächst und der Bequemlichkeit aller dient. Normalität bricht Komplexität herunter. Jedes Wort ist gemäß Nietzsche ein Vorurteil. So sind es Sätze gemäß Esser erst recht Vorurteile, nicht zuletzt aufgrund ihrer standardisierten Floskelhaftigkeit. Aussagen wie „Nie wieder Krieg“ sind solche Narrative, also eingeübte Sätze, die die Kultur einer Gruppe prägen.

Sie werden zu den Geschichten, die man sich als Richtschnur hernimmt in den Gemeinschaften, denen man angehört, um nicht anzuecken und sich zu orientieren im großen Chaos. Das Normale entsteht nach Lesart der „großen Klammer“ durch die Übereinkunft der anonymen Masse und einem – wie Esser es nennt Paradigmatiker-, einer Person, die die Richtung vorgibt. So ist sowohl das Christentum aus dem Paradigmatiker Jesus über seine Anhängerschaft zu einer Normalität des Westens geworden. Ähnlich funktionierte es auch bei Greta Thunberg und Che Guevara, die Standards prägten und noch immer prägen.

Ohne eine hinreichende Zahl von Menschen, die sich mitziehen lassen, ist aber der Anführer aufgeschmissen. Meist entstehen neue Trampelpfade, wenn eine große Anzahl mit der bisherigen Normalität nicht zufrieden ist. So wären sowohl Greta Thunberg als auch Donald Trump unbedeutend geblieben, wenn die bisherigen Verhältnisse als zufriedenstellend empfunden worden wären. Gemäß Essers Essay kann die große Klammer Normalität brechen. Die Übereinkunft darüber, was politisch und kulturell zu gelten hat, ist also nicht in Stein gemeißelt. So sehen wir nicht zuletzt in Thüringen, dass es anders als noch vor 20 Jahren wohl keine grundsätzliche Übereinkunft gibt, was normal ist. Es brechen sich dann Echokammern mit Gleichgesinnten bahn, weil man auch dort auf eine Gruppenübereinkunft angewiesen ist. So ist die Verständigung auf das, was normal zu sein hat, Basis jeder Kultur, auch jeder Subkultur. Esser hantiert dort mit selbst kreierten Begriffen, nennt es Subnormalität, was man als Subkultur oder regionale Kultur bezeichnet. Überhaupt erscheinen Kultur und Normalität bei ihm oft als Synonyme.

Normalität als Waffe

Ohne Greta Thunberg und Donald Trump explizit zu erwähnen, wird sofort klar, was mit Subnormalität gemeint ist. In der Anhängerschaft des paradigmatischen Anführers stiftet die Übereinkunft über die Grenzen des Debattenkorridors Gemeinschaftsgefühl, oft in Abgrenzung zum anderen Lager.

Hatte Carl Schmitt noch argumentiert, Macht sei die Deutungshoheit über den Ausnahmezustand, dreht Esser den Spieß um. Der Normalzustand ist logischerweise das Gegenteil des Ausnahmezustands. So sieht Esser Macht als Deutungshoheit über das, was normal zu sein hat. Wie einst Nationen durch die Übereinkunft über das Normale geklammert wurden, geht gerade heute ein Riss durch Nationen, der sich mit der Sympathie für Greta beziehungsweise Donald personifizieren lässt. Die Lager bezichtigen sich gegenseitig der Unkultur. Fragt man nach dem Kriterium, warum man wiederum Donald Trumps beziehungsweise Greta Thunbergs Politik ablehnt, kommt es zu einem Kurzschlussargument, interessanterweise auf beiden Seiten mit den gleichen Worten: „Die sind doch nicht normal, die Greta (bzw. Donald) folgen“. Die Definitionshoheit über das Normale wird dann zur Waffe beider Lager mit dem gleichen Argument, nämlich mit dem Mangel an Normalität der Gegenseite.

Ein Wort des Trostes

Nun könnte man nicht zuletzt in Anbetracht der Unversöhnlichkeit der politischen Lager, mit der sich die Parteien zurzeit nicht nur in Thüringen, England oder den USA gegenüberstehen, einen Niedergang sehen. Da hat Esser mit seiner Abhandlung „Die große Klammer“ einen Trost parat. In seiner Lesart gibt es als Konstante den Hang zur Bequemlichkeit bei allen Menschen. So argumentiert er ökonomisch. Stets entsteht selbst in den vertracktesten Situationen Kriegsmüdigkeit und die Sehnsucht danach, nun endlich zur Normalität zurückzukehren. Kriegsmüdigkeit und Bequemlichkeit sind gerade die Lösungen der Konflikte.

So steht die zerbrochene Klammer Normalität dann gemäß Essers Interpretation wie Christus am dritten Tage von den Toten auf. Neben den Querverweisen zu Kunst und Liturgie gelingt es Esser leicht und elegant, komplizierte Phänomene mit einem Schuss Polemik zu würzen.

„Die große Klammer – eine Theorie der Normalität“ (Kulturverlag Kadmos) von Hans Martin Esser ist daher unbedingt lesenswert und höchst aktuell.

Das Buch zur Stunde

Musik ist höchste Offenbarung jenseits aller Weisheit und Philosophie

Stefan Groß-Lobkowicz1.02.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Es gibt Meisterdenker und Klassiker der Musikgeschichte. Ludwig van Beethoven war Deutschlands Genius der Symphoniekantate. Damit betrat er neuen Boden und schuf eine Musik, die auch nach zwei Jahrhunderten immer noch fasziniert. Vor 250 Jahren wurde das Genie in Bonn geboren, doch zu Ruhm wird er erst in seiner Wiener Zeit gelangen. Was aber fasziniert Beethoven an den Idealen der Aufklärung? Wir begeben uns auf Spurensuche.

Vor 250 Jahren, am 17. Dezember 1770, wurde er in Bonn geboren, das Genie Ludwig van Beethoven. Und er war der Revolutionär in Geist und Musik, Sprengstoff pur, emotional wie ein Vulkan, ein Übermensch, der für eine neue Epoche der Musik steht und Mozarts fulminanter Klassik seine Symphoniekantate entgegensetzen wird. Bekannte sich der Salzburger Wunderknabe bereits in, „Le nozze di Figaro“, im „Don Giovanni“ und in der „Der Zauberflöte“ zu den freiheitlich-bürgerlichen und antimonarchischen Idealen der Freimaurer, folgt ihm Beethoven dann, wenn er sich selbst als glühender Verfechter der französischen Revolutionsideen versteht, die er dann heroisch in seiner 9. Sinfonie als sein höchstpersönliches Glaubensbekenntnis manifestiert.

Der Ruf nach Freiheit war explosiv

Es war der Sieg der Aufklärung über den Absolutismus. Was 1789 als Französische Revolution begann, hatte die Weltgeschichte gründlich verändert und die Fundamente der Moderne gezimmert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pfiff es durch die Gassen und zündete dann in den Köpfen jene Feuer, die seither für die Freiheit brennen. Ob die deutschen Idealisten, ob Friedrich Schiller oder die Romantiker – ihnen allen wurde Freiheit zum Losungswort von Dichtung und Kultur – und für den Bonner Ludwig van Beethoven zur Passion. Schillers Ode „An die Freude“ ist es, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, die er aber erst 1824, drei Jahre vor seinem Tod, grandios und gigantisch in Musik vollenden kann.

Beethovens Angst vor dem System Metternich

Schillers Ode, das „umschlungen Millionen“ im vierten Satz von Beethovens Neunter, war auch für den Bonner Menschheitsideal. Und wie sich einst Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts über den „Policeystaat“ beklagt, so litt auch Beethoven an der Bespitzelung, an der Restauration und einem aufstrebenden Adel unter Metternich nach dem Wiener Kongress 1814/15. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, heißt es bekanntlich im Freiheitschor der einzigen Oper, dem „Fidelio“. Der Ruf nach Freiheit drohte in Deutschland zumindest wieder zu ersticken. Und wie einst Jean-Jacques Rousseau ein „Zurück zur Natur“ einklagen wird, so ist Beethovens Neunte ein Aufruf an das entmündigte Bürgertum, liberal, grenzenlos, für die Ewigkeit der Menschheit gedacht, ein globaler Freiheitsruf par excellence, der mit Schiller an das Frankreich im Jahr 1789 erinnert und die Bande neu knüpfen will.

Schiller, der Meisterdenker der Freiheit

Beethoven war ein glühender Verfechter der französischen Ideen und Schiller lieferte den Stoff dazu. 1885 hatte der Dichter in Leipzig-Gohlis für seinen Freund Körner, wie Mozart ebenfalls Freimaurer und Aufklärer, die Strophen geschrieben, die Weltgeschichte machen sollten. Doch dieser Schiller war kein unbeschriebenes Blatt. War er doch der Autor der „Die Räuber“ und in ganz Deutschland darob frenetisch gefeiert. Und Schiller selbst derzeit noch ein Ausgestoßener und Flüchtiger, verbannt aus dem Herzogtum Württemberg unter Herzog Karl Eugen, hatte das Joch der Tyrannei endgültig abgestreift. Der Verve der Ode war geballte Kraft eines Genius, der sich die Freiheit geradezu aus der Seele schreibt. Dieser Wille zur Unbändigkeit, dieser Frevel, die bestehende Ordnung kritisch zu hinterfragen, diese Lebendigkeit und dieser Pathos der Freiheitsbeschwörung haben Beethoven, der seit 1802 zunehmend an Schwerhörigkeit litt und dies im berühmten „Heiligenstädter Testament“ verewigte, beflügelt, gegen das Räderwerk des Absolutismus zu opponieren. Diese Energie hat dem Krankheitsgeplagten immer wieder das Blut in den Adern auflodern lassen.

Faszination und Geheimnis – Der wird keine Zehnte geben

Die 9. Sinfonie, die d-Moll-Symphonie, sei vergleichbar mit Da Vincis Mona Lisa, so zumindest hatte sie Claude Debussy 1901 beschrieben. Faszinierend und zugleich geheimnisvoll. Faszinierend wirkte sie auf Robert Schumann, für den sie einen Endpunkt markierte, wo Maß und Ziel der Instrumentalmusik erschöpft seien. Von Erlösung wird später Richard Wagner sprechen, da „auf sie kein Fortschritt mehr möglich“ sei, „denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeine Drama folgen.“ Der Barrikadenstürmer Wagner, der Revolutionär, wurde sodann von den Aufständischen feurig begrüßt, als am 6. Mai 1849 die Alte Dresdner Oper in den Flammen aufging. „Herr Kapellmeister, der ‚Freude schöner Götterfunken’ hat gezündet, das morsche Gebäude ist in Grund und Boden verbrannt“.

Musik ist höchste Offenbarung jenseits aller Weisheit und Philosophie

Für eine ganze Generation, für Berlioz über Liszt bis hin zu Mahler wird die 9. Symphonie Prototyp für ein die Gattungsgrenzen überschreitendes Kunstwerk bleiben, war sie doch, wie Beethoven generell von der Kraft der Musik überzeugt gewesen war, „höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“ zusammen.

Die Erlösung wartet noch

Aber geheimnisvoll blieb sie auch, weil sie mit der Aura des Todes seltsam umwoben war, gar eine Offenbarung des nahen Endes bedeuten sollte. Beethoven wird keine „Zehnte“ mehr schreiben, ebenso wenig wie Anton Bruckner. Auch Gustav Mahler hatte Angst vor dem Begriff „Neunte Symphonie“. Und auch er wird seine nicht überleben. Der Mythos der Neunten kulminierte so im Aberglauben, dass kein Symphoniker darüber hinauskommen sollte. Wie sehr Segen und Fluch sich in ihr verbanden, brachte 1912 Arnold Schönberg auf den Punkt: „Die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könne, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schrieb.“

Mehr Aktualität Beethovens geht nicht

Spätestens als Europahymne, die die 9. Symphonie seit 1972 ist, steht sie für Beethovens Wunsch nach universaler und globaler Freiheit. Jenseits von Blutrausch, Nationalismus und Chauvinismus, „was der Mode Schwerd getheilt“, bleibt die Vision des Bonner Musikers zu höchst aktuell in einem Europa, das sich „Einheit in Vielfalt“ auf die Fahnen geschrieben hat. Und Beethoven wie Schiller sind auch nach über 200 Jahren die geistigen Vordenker für eine Welt, wo gemeinsame Werte regieren, wo Verschiedenheit der Kulturen kein Frevel, sondern eine Bereicherung ist, und wo es den Gedanken zu verteidigen gilt, dass alle Menschen Brüder werden.

 

Das Genie feiert seinen 250. Geburtstag

Stefan Groß-Lobkowicz17.01.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Er war genial, zu Lebzeiten verkannt und sein Ruhm sollte sich erst nach seinem Tod einstellen. Doch Friedrich Hölderlin, vor 250 Jahren in Lauffen am Neckar geboren, wurde einer der wichtigsten deutschen Dichter. Wir betreten ehrfürchtig seine Spuren, begeben uns auf eine Entdeckungstour durch sein Leben und seine Kunst, die später ganze Generation in ihren Bann ziehen wird.

Zu Lebzeiten verkannt, der „Hyperion“ floppte, doch Hölderlin kämpfte. Er kämpfte gegen die Zerrissenheit der Welt, gegen den Dualismus und die Knechtschaft der Unfreiheit. Er träumte von einem neuen Götterhimmel und einem Universalreich der Poesie, das die Welt in einen ewigen Frühling führt. Dieser Hölderlin, der vor 250 Jahren geboren wurde, ist durchaus eine moderne Existenz. Hin- und hergetrieben auf der Suche nach dem eigenen Selbst, dieses genauso überwindend wie setzend – darin bleibt er Ästhetiker, dem die Poesie alles werden sollte: genialischer Sinnentwurf und poetische Überwindung der Wirklichkeit.

Jede Zeit hat Höhen und Tiefen, in denen sie manchmal mit Intellekt spart und die Ebenen mit Grausamkeiten und Blut überzieht, in denen sie aber manchmal geradezu Geist gnädig verschenkt. Eine komprimierte Zeit der Intellektuellen war das Deutschland von Aufklärung, Klassik und Romantik mit ihren Zentren in Tübingen, Heidelberg, Weimar und Jena. Geistesgeschichte pur, Zeit “vollendeten Wissens”.

Die Veränderung der Welt

Während einst in der Antike geistige Superstars wie Sokrates, Platon oder Aristoteles einer zweitausendjährigen Geschichte ihr Siegel aufdrückten, die die kommende Weltgeschichte quasi in einer Fußnote behandelte, wie Alfred North Whitehead schrieb, so war das Jahr 1770 ein ganz besonderes für den Geist der Philosophie und der Ästhetik. Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel werden es sein, die die Zeit, Welt und Geschichte verändern.

Kant weiterdenken

Es war ein großartiges Jahrhundert – durchaus ebenbürtig der Antike, der Renaissance und dem Mittelalter samt seinen Scholien und Kommentaren. Lessing hatte für mehr Toleranz unter den Religionen geworben, Immanuel Kant die Fackel der Aufklärung von David Hume und John Locke endgültig entzündet und Johann Gottlieb Fichte das absolute Ich zum Ausgangspunkt aller Philosophie gemacht. Der Königsberger Kant war Markstein, Quelle und Überbietungsanspruch zugleich, denn mit seinem wohlbekannten „Ding an sich“, der immanenten Unerkennbarkeit der Welt oder Gottes, wollte man sich nicht zufriedengeben. Kant und Fichte galt es gleichermaßen zu überbieten – und dazu hatten sich die Tübinger Jugendfreunde Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel eingeschworen. Ihre gemeinsame Schrift war Programmansage. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist nichts anderes als der Entwurf kantischer Überbietung. Eine „unsichtbare Kirche“ wollten sie gründen, eine der Liebe gegen die kategorische Macht des Imperativs der Pflicht stellen. Ein Pendant zu Kants negativer Naturphilosophie galt es zu finden – und selbst das Absolute oder Göttliche sollte nicht als ein „Also ob“ wieder Einzug finden im Geist der deutschen Idealisten. Eine Revolution der Denkungsart sollte es sein – und Hölderlin schickte sich an, dieses Projekt eigenständig zu verwirklichen.

Eine fast romantische Existenz

Genial, begabt, später anmutig von äußerer Gestalt, ein Adonis gleichermaßen, erblickte der Dichter der Einsamkeit, der Natur und des Göttlichen, vor 250 Jahren in Lauffen am Neckar das Licht der Welt. Von Selbstermächtigung einerseits, von tiefen Selbstzweifeln andererseits angetrieben, war Hölderlin ein Temperament, das zwischen Euphorie und tiefer Leidseligkeit, Weltanklage litt und schwankte. Eine fast typische romantische Existenz könnte man meinen, wenn er im Augenblick Glückseligkeit atmete und dann, wenn er in den Wirren der inneren Existenz zum Philosophieren neigte. Doch Romantiker war Hölderlin nie, Kunst war für ihn nie bloßes „Ereignis“, Happening, und „Universalpoesie“ wie einst für Friedrich Schlegel nie die bloß heitere Geselligkeit. Kunst wird für ihn zum Existential, wie es Martin Heidegger später denken wird.

Als Mensch ein Einsamer

Als Mensch bleibt Hölderlin ein Einsamer, ein Steppenwolf, der die Tiefe des Geistes in sich auslotete, der aber genauso lebensbegierig und trinkfest wie die übrigen Tübinger Stiftler sein konnte, durchaus gesellig, doch dies alles auf Zeit, auf begrenzte Dauer. Zeit war in erster Linie Lebensinnenzeit, die Durchmessung der Seele in ihren Tiefen und Höhen, in ihrem kurzweiligen Glücksrausch und erlauchten Liebesgefühlen, die aber in ihrer Dialektik immer wieder ins Gegenteil verfiel. Euphorie, gesteigertes Glückgefühl einerseits, die beide aber nur im Augenblick zu haben waren, wechselten mit der größten erdenklichen Schwermut andererseits. Eine brüchige Existenz war Hölderlins Wesen – und damit durchaus modern.

Die Idee der Humanität

Hölderlin, der Dichter der Schwaben, der wie Friedrich Nietzsche erst posthum Weltruf genießen sollte, hatte es nicht leicht mit sich und der Welt, an der er litt, weil sie eben nicht so vollkommen wie die gelobte Antike war, weil sie so sehr im Gewöhnlichen und Unmenschlichen, in Knechtesgeist und Unfreiheit siedelte, voller Ungerechtigkeiten und fern der unendlichen Idee des Humanums. Nie sollte er glücklich sein durch Liebe in dieser Welt der „Götterferne“. Der Dualismus der Welt machte ihn krank, trieb ihn zu Spinozas Pantheismus und Friedrich Schillers großartiger sittlicher Ästhetik. Der revolutionäre Denker des Sturm und Dranges, der feinsinnige Marbacher Dichter, Geschichtsphilosoph und der Verfasser der „ästhetischen Briefe“, dem Ästhetik zur Bürgerpflicht und eine Ästhetisierung der Gesellschaft als Ideal vorschwebte, der nicht allein aus der Pflicht die Menschheit zu verbessern suchte, sondern mit der Schaubühne als moralischer Anstalt, Ethik und Ästhetik feinsinnig miteinander zu synthetisieren suchte. Ihm war Hölderlin innig verbunden.

Schiller du Hölderlin – Liebe und Ambivalenz

Schiller, der Hölderlin oft „das ist mein liebster Schwabe“ nannte, galt als Idol der Freiheit im pietistischen Schwaben und stellte zugleich den Gegenentwurf zum absoluten Monarchismus des württembergischen Regenten dar. Hölderlin wird ihm hier folgen, wenn auch er sich inbrünstig zu den Idealen der Französischen Revolution bekennt. Hölderlin, der gemäßigte Jakobiner und Republikaner, wird aber dann von Schiller weichen, wenn dieser die Moderne als das bestimmen wird, das nicht mehr ins Arkadische zurück kann. Doch gerade dieses Elysium der Götter Griechenlands wird der Lauffener wieder beschwören, sei es durch Dionysios, den rasenden, baccantischen Gott, der 100 Jahre vor Nietzsches Dionysioskult bei Hölderlin als der Gott des Werdens gilt, der ins Offene treibt.

Der neue Schlachtruf Hen kai Pan

Und Hölderlin will sie wiedererrichten, die alte Welt, die ins Unendliche greift, sei es in Gott, in der Natur oder in der Poesie als Weltentwurf. Und er sucht die Verbindung von Endlichkeit und Unendlichkeit, er dichtet sie neu, um den Dualismus, das Zerrissene und Getrennte in einer qualitativ neuen Einfalt zu finden, im Hen kai Pan (Eins und Alles) der Antike, die ihm aber immer wieder in den Händen zerbrechen wird. Der Schlachtruf gilt dem alten Griechenland, dem Elysium am Peloponnes.

Das Ich ist mehr als das von Fichte

Raus aus der philosophischen Isoliertheit des Ich, weg von Fichtes absoluten Ich als Prinzip aller Philosophie – darum geht es Hölderlin, der mit seiner Alleinheitslehre Spinoza, mit seinem Naturbegriff Rousseaus folgen wird. Statt sich setzender Ich-Philosophie, die für Hölderlin auf der anderen Seite im Nichts kulminiert, wird er den Begriff der intellektuellen Anschauung stellen, der Unmittelbarkeit, der intensivsten, moralisch-erotischen und erkenntnistheoretischen Einheit des Subjektiven und des Objektiven. Die intellektuelle Anschauung ist das unmittelbare Wissen in seiner absoluten Reinheit, die aber nur die eine Facette von Welterkenntnis sein kann, deren andere die permanente Überschreitung des subjektiven Bewusstseins sein soll. Nicht das Ich wird so zum Prinzip der Philosophie, sondern das „Ich“, das per Poesie eine bessere Welt errichtet, ein Himmelreich auf Erden stiftet, erweitert um die natürliche Religion und den Volksgeist.

Die Suche nach dem absoluten Seyn

Dieses Absolute, für Hölderlin bleibt es unbestimmt, aber er nennt es Gott, das intiutive Empfinden der Natur und die Unendlichkeit gilt es aufzurichten, allein durch die poetische Kraft der Worte. Das Wort und Hölderlins moderne Sprache stiften Realität und was bleibt, stiftet nicht der Denker, sondern der Dichter, der die Welt erschafft, indem er die Sprache denkt oder dichtend die Welt erfindet. Die universale Einbildungskraft, die poetische Empfindung wird ihm jenseits von jedweden „Urtheil“ zur sinngebenden Kraft des bergenden Seins. Und dieses absolute Seyn wird nicht durch den spaltenden Verstand geschieden, der zu Trennung und Vereinsamung führt, sondern allein durch die poetische Intuition wird die Wirklichkeit erfasst, denn wo Subjekt und Objekt vereinigt sind, ist Seyn in absoluter Vollendung. „Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mussten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Hen kai Pan der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unseres Strebens. “

Jenseits von aller Trennung muss Einheit sein

Und nach diesem greift Hölderlin in allen Phasen seines Lebens mit zaghafter und dennoch bestimmender Hand. Einheit, Versöhnung und Harmonie werden die Ingredienzien eines Denkens, dem es um Objektivität geht, der das Göttliche im Menschen sucht und das Menschliche im Göttlichen. Wo sich Unendliches und Endliches berühren, da verliert das Zweifeln seine tragische Kraft, zeigt sich die höchste zu erbringende Einfalt, die durch die Negativitäten des Daseins sich hindurch manövriert hat und in der sich die höchste Stufe freiheitlicher Vollendung zum Ausdruck bringt. Doch nur jenseits der Zeit vermag sich dieses Ereignis zu manifestieren, aber dieses immer wieder – jenseits der Trennung von Natur und Kultur – an-zudichten, höchstes anzustrebendes Ziel.

Freiheit als spontaner Akt der Poesie

Ein Reich der Freiheit, der innerlichen wie der republikanischen zugleich zu errichten, eine „unsichtbare Kirche“, wie sie sich die Tübinger Freunde Schelling, Hegel und Hölderlin erträumten, wollte er errichten, eine wo die Kerze der Freiheit das Licht entzündet und Freiheit zum A und O aller Kunst wird.

Freiheit als spontaner Akt des Schöpferischen wird für Hölderlin aber eben nicht philosophisch erdacht, sondern poetisch vollzogen, denn es bleibt die Poesie, die die Wirklichkeit stiftet. Poesie, und so will sie Hölderlin dichten, ist nicht Welt abbildend, sondern Welt erschaffend. Und was der Philosophie nicht gelingt, vermag wie im Hyperion die Poesie, denn sie allein vermag die Trennung des Daseins zu überwinden und die Seynsverbundenheit erreichen. Oder anders formuliert: Das Seyn, das Hölderlin meint, ist das Reich der Schönheit und im künstlerischen Schaffen vereinigt sich Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Durch dieses freie Spiel der Kräfte im Menschen, im freien Spiel, eröffnet sich die Möglichkeit der Schönheit und der Künstler überwindet die Kluft zwischen „Urtheil“ und „Seyn“ und erfährt sich in inniger Seinsverbundenheit als Akteur, der die Wirklichkeit gestaltend verändert, der „tätig“ die Welt verändert, wie es schon in Goethes „Faust“ hieß.

In der Ästhetik, in der Kunst des Schönen verbinden sich Politik, Religion und Philosophie. Die Kunst wird idealisch. Doch diese Kunst treibt ewig ins Offene, in die Weite und Zukunft, sie bleibt ein Sehnsuchtsort mythologisch-poetischer Erfindung, sie zu stiften, bleibt Aufgabe der Dichter.

Dem Ende entgegen

Ein „Himmelreich“ auf Erden gibt es für Hölderlin ebenso wenig wie später für Heinrich Heine, denn das Dasein ist und bleibt der Ort der Differenz, dieses zu ertragen, Schicksal. Dieses Nich-bei-sich-Selbst-Sein ist es, was Hölderlin nicht erträgt und wo er höchst selbst daran scheitern wird, er, der 1801-02 in der höchsten Blüte der Vollendung stand. Am 15. September 1806 bricht Hölderlin zusammen, wie später Nietzsche in Turin. Die Autenriethischen Kliniken in Tübingen werden ihm Heimat, später der berühmte Dichterturm am Neckar, wo er nach 37 Jahren – wach, sich selbst entfremdet, ichlos seinerseits, in hybrider Selbststeigerung andererseits am 7. Juni 1843 stirbt.

Jenseits der Subordination

Das Wagnis des Lebens, die hohe Sensibilität hat Hölderlin, der nie Priester der Orthodoxie, der Subordination und der Theologie werden wollte, besteht in der An- und Abwesenheit der Götter, im Sich-Verbergen und Ent-Bergen, doch diese Differenz sucht nach Synthese, die sich entweder im Augenblick oder in der Zukunft, in der Offenheit ereignet. Hölderlin wollte sich mit der Entzauberung der Welt nicht abfinden, ist aber an ihren Differenzen gescheitert.

Wie modern ist Hölderlin?

Insofern ist Hölderlin modern, weil er im Selbstbewusstsein einen Abgrund sieht, ein Nichts, das sich nach neuen rettenden Ufern umsieht; weil er Differenz als etwas höchst existentielles begreift, die das Leben herausfordert, vorantreibt und als Wesenszug der Moderne ewig in die Gräben des Schicksals greift; weil er das Ich als Spur eines Höheren – politisch gar als Nation – begreift, an dem es sich abarbeitet und sich womöglich verliert; weil er Kunst als eine Tat begreift, die nicht um ihretwillen geschieht, sondern den Menschen im Dienste der Freiheit zu Sittlichkeit erzieht.

Liberaler Weltentwurf

Hölderlins Vision bleibt eine freie Menschheit, wo Individuum und Gesellschaft, wie einst bei Schiller, ineinander spielen, wo Kunst als Imperativ der Freiheit den neuen Menschen hervorbringt, der den Idealen der Französischen Revolution und des liberalen Weltentwurfs – und heute dem Grundgesetz und der Charta der Vereinten Nationen –  als freier Mensch auf freier Erde steht und der die Schöpfung zu wahren sucht, insbesondere die Natur, die er nicht auf bloße Materialität verkürzen will, sondern als unendliche und nicht zu vernutzende herausstellt, die zu umhegen und zu pflegen sei.

Damit wäre Hölderlin heute einerseits ein „Grüner“, aber andererseits auch ein Konservativer, weil er Bewahren will, ohne dogmatisch zu sein, einer, der aus der Geschichte heraus in die Zukunft greift, ohne zu belehren, sondern mittels der poetischen Einbildungskraft den Menschen anzustiften, das Bessere zu tun, praktisch tätig zu werden.

Durch Poesie aus der Zerissenheit des Daseins I.

Stefan Groß-Lobkowicz2.01.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Zu Lebzeiten verkannt, der „Hyperion“ floppte, doch Hölderlin kämpfte. Er kämpfte gegen die Zerrissenheit der Welt, gegen den Dualismus und die Knechtschaft der Unfreiheit. Er träumte von einem neuen Götterhimmel und einem Universalreich der Poesie, das die Welt in einen ewigen Frühling führt. Dieser Hölderlin, der vor 250 Jahren geboren wurde, ist durchaus eine moderne Existenz. Hin- und hergetrieben auf der Suche nach dem eigenen Selbst, dieses genauso überwindend wie setzend – darin bleibt er Ästhetiker, dem die Poesie alles werden sollte: genialischer Sinnentwurf und poetische Überwindung der Wirklichkeit.

Jede Zeit hat Höhen und Tiefen, in denen sie manchmal mit Intellekt spart und die Ebenen mit Grausamkeiten und Blut überzieht, in denen sie aber manchmal geradezu Geist gnädig verschenkt. Eine komprimierte Zeit der Intellektuellen war das Deutschland von Aufklärung, Klassik und Romantik mit ihren Zentren in Tübingen, Heidelberg, Weimar und Jena. Geistesgeschichte pur, Zeit “vollendeten Wissens”.

Die Veränderung der Welt

Während einst in der Antike geistige Superstars wie Sokrates, Platon oder Aristoteles einer zweitausendjährigen Geschichte ihr Siegel aufdrückten, die die kommende Weltgeschichte quasi in einer Fußnote behandelte, wie Alfred North Whitehead schrieb, so war das Jahr 1770 ein ganz besonderes für den Geist der Philosophie und der Ästhetik. Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel werden es sein, die die Zeit, Welt und Geschichte verändern.

Kant weiterdenken

Es war ein großartiges Jahrhundert – durchaus ebenbürtig der Antike, der Renaissance und dem Mittelalter samt seinen Scholien und Kommentaren. Lessing hatte für mehr Toleranz unter den Religionen geworben, Immanuel Kant die Fackel der Aufklärung von David Hume und John Locke endgültig entzündet und Johann Gottlieb Fichte das absolute Ich zum Ausgangspunkt aller Philosophie gemacht. Der Königsberger Kant war Markstein, Quelle und Überbietungsanspruch zugleich, denn mit seinem wohlbekannten „Ding an sich“, der immanenten Unerkennbarkeit der Welt oder Gottes, wollte man sich nicht zufriedengeben. Kant und Fichte galt es gleichermaßen zu überbieten – und dazu hatten sich die Tübinger Jugendfreunde Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel eingeschworen. Ihre gemeinsame Schrift war Programmansage. „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ist nichts anderes als der Entwurf kantischer Überbietung. Eine „unsichtbare Kirche“ wollten sie gründen, eine der Liebe gegen die kategorische Macht des Imperativs der Pflicht stellen. Ein Pendant zu Kants negativer Naturphilosophie galt es zu finden – und selbst das Absolute oder Göttliche sollte nicht als ein „Also ob“ wieder Einzug finden im Geist der deutschen Idealisten. Eine Revolution der Denkungsart sollte es sein – und Hölderlin schickte sich an, dieses Projekt eigenständig zu verwirklichen.

Eine fast romantische Existenz

Genial, begabt, später anmutig von äußerer Gestalt, ein Adonis gleichermaßen, erblickte der Dichter der Einsamkeit, der Natur und des Göttlichen, vor 250 Jahren in Lauffen am Neckar das Licht der Welt. Von Selbstermächtigung einerseits, von tiefen Selbstzweifeln andererseits angetrieben, war Hölderlin ein Temperament, das zwischen Euphorie und tiefer Leidseligkeit, Weltanklage litt und schwankte. Eine fast typische romantische Existenz könnte man meinen, wenn er im Augenblick Glückseligkeit atmete und dann, wenn er in den Wirren der inneren Existenz zum Philosophieren neigte. Doch Romantiker war Hölderlin nie, Kunst war für ihn nie bloßes „Ereignis“, Happening, und „Universalpoesie“ wie einst für Friedrich Schlegel nie die bloß heitere Geselligkeit. Kunst wird für ihn zum Existential, wie es Martin Heidegger später denken wird.

Als Mensch ein Einsamer

Als Mensch bleibt Hölderlin ein Einsamer, ein Steppenwolf, der die Tiefe des Geistes in sich auslotete, der aber genauso lebensbegierig und trinkfest wie die übrigen Tübinger Stiftler sein konnte, durchaus gesellig, doch dies alles auf Zeit, auf begrenzte Dauer. Zeit war in erster Linie Lebensinnenzeit, die Durchmessung der Seele in ihren Tiefen und Höhen, in ihrem kurzweiligen Glücksrausch und erlauchten Liebesgefühlen, die aber in ihrer Dialektik immer wieder ins Gegenteil verfiel. Euphorie, gesteigertes Glückgefühl einerseits, die beide aber nur im Augenblick zu haben waren, wechselten mit der größten erdenklichen Schwermut andererseits. Eine brüchige Existenz war Hölderlins Wesen – und damit durchaus modern.

Hölderlin – Mit Friedrich Schiller über Johann Gottlieb Fichte hinweg II.

Stefan Groß-Lobkowicz6.01.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Raus aus der philosophischen Isoliertheit des Ich, weg von Fichtes absoluten Ich als Prinzip aller Philosophie – darum geht es Hölderlin, der mit seiner Alleinheitslehre Spinoza, mit seinem Naturbegriff Rousseaus folgen wird.

Die Idee der Humanität

Hölderlin, der Dichter der Schwaben, der wie Friedrich Nietzsche erst posthum Weltruf genießen sollte, hatte es nicht leicht mit sich und der Welt, an der er litt, weil sie eben nicht so vollkommen wie die gelobte Antike war, weil sie so sehr im Gewöhnlichen und Unmenschlichen, in Knechtesgeist und Unfreiheit siedelte, voller Ungerechtigkeiten und fern der unendlichen Idee des Humanums. Nie sollte er glücklich sein durch Liebe in dieser Welt der „Götterferne“. Der Dualismus der Welt machte ihn krank, trieb ihn zu Spinozas Pantheismus und Friedrich Schillers großartiger sittlicher Ästhetik. Der revolutionäre Denker des Sturm und Dranges, der feinsinnige Marbacher Dichter, Geschichtsphilosoph und der Verfasser der „ästhetischen Briefe“, dem Ästhetik zur Bürgerpflicht und eine Ästhetisierung der Gesellschaft als Ideal vorschwebte, der nicht allein aus der Pflicht die Menschheit zu verbessern suchte, sondern mit der Schaubühne als moralischer Anstalt, Ethik und Ästhetik feinsinnig miteinander zu synthetisieren suchte. Ihm war Hölderlin innig verbunden.

Schiller und Hölderlin – Vorbild und Kritik

Schiller, der Hölderlin oft „das ist mein liebster Schwabe“ nannte, galt als Idol der Freiheit im pietistischen Schwaben und stellte zugleich den Gegenentwurf zum absoluten Monarchismus des württembergischen Regenten dar. Hölderlin wird ihm hier folgen, wenn auch er sich inbrünstig zu den Idealen der Französischen Revolution bekennt. Hölderlin, der gemäßigte Jakobiner und Republikaner, wird aber dann von Schiller weichen, wenn dieser die Moderne als das bestimmen wird, das nicht mehr ins Arkadische zurück kann. Doch gerade dieses Elysium der Götter Griechenlands wird der Lauffener wieder beschwören, sei es durch Dionysios, den rasenden, baccantischen Gott, der 100 Jahre vor Nietzsches Dionysioskult bei Hölderlin als der Gott des Werdens gilt, der ins Offene treibt.

Der neue Schlachtruf Hen kai Pan

Und Hölderlin will sie wiedererrichten, die alte Welt, die ins Unendliche greift, sei es in Gott, in der Natur oder in der Poesie als Weltentwurf. Und er sucht die Verbindung von Endlichkeit und Unendlichkeit, er dichtet sie neu, um den Dualismus, das Zerrissene und Getrennte in einer qualitativ neuen Einfalt zu finden, im Hen kai Pan (Eins und Alles) der Antike, die ihm aber immer wieder in den Händen zerbrechen wird. Der Schlachtruf gilt dem alten Griechenland, dem Elysium am Peloponnes.

Das Ich ist mehr als das von Fichte

Raus aus der philosophischen Isoliertheit des Ich, weg von Fichtes absoluten Ich als Prinzip aller Philosophie – darum geht es Hölderlin, der mit seiner Alleinheitslehre Spinoza, mit seinem Naturbegriff Rousseaus folgen wird. Statt sich setzender Ich-Philosophie, die für Hölderlin auf der anderen Seite im Nichts kulminiert, wird er den Begriff der intellektuellen Anschauung stellen, der Unmittelbarkeit, der intensivsten, moralisch-erotischen und erkenntnistheoretischen Einheit des Subjektiven und des Objektiven. Die intellektuelle Anschauung ist das unmittelbare Wissen in seiner absoluten Reinheit, die aber nur die eine Facette von Welterkenntnis sein kann, deren andere die permanente Überschreitung des subjektiven Bewusstseins sein soll. Nicht das Ich wird so zum Prinzip der Philosophie, sondern das „Ich“, das per Poesie eine bessere Welt errichtet, ein Himmelreich auf Erden stiftet, erweitert um die natürliche Religion und den Volksgeist.

Zu Teil 1 kommen Sie hier: Durch Poesie aus der Zerissenheit des Daseins I.

Friedrich Hölderlin – Der Dichter des Seyns III.

Stefan Groß-Lobkowicz13.01.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Hölderlin ist modern, weil er im Selbstbewusstsein einen Abgrund sieht, ein Nichts, das sich nach neuen rettenden Ufern umsieht; weil er Differenz als etwas höchst Existentielles begreift, die das Leben herausfordert, vorantreibt und als Wesenszug der Moderne ewig in die Gräben des Schicksals greift.

Dieses Absolute, für Hölderlin bleibt es unbestimmt, aber er nennt es Gott, das intiutive Empfinden der Natur und die Unendlichkeit gilt es aufzurichten, allein durch die poetische Kraft der Worte. Das Wort und Hölderlins moderne Sprache stiften Realität und was bleibt, stiftet nicht der Denker, sondern der Dichter, der die Welt erschafft, indem er die Sprache denkt oder dichtend die Welt erfindet. Die universale Einbildungskraft, die poetische Empfindung wird ihm jenseits von jedweden „Urtheil“ zur sinngebenden Kraft des bergenden Seins. Und dieses absolute Seyn wird nicht durch den spaltenden Verstand geschieden, der zu Trennung und Vereinsamung führt, sondern allein durch die poetische Intuition wird die Wirklichkeit erfasst, denn wo Subjekt und Objekt vereinigt sind, ist Seyn in absoluter Vollendung. „Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mussten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Hen kai Pan der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unseres Strebens. “

Jenseits von aller Trennung muss Einheit sein

Und nach diesem greift Hölderlin in allen Phasen seines Lebens mit zaghafter und dennoch bestimmender Hand. Einheit, Versöhnung und Harmonie werden die Ingredienzien eines Denkens, dem es um Objektivität geht, der das Göttliche im Menschen sucht und das Menschliche im Göttlichen. Wo sich Unendliches und Endliches berühren, da verliert das Zweifeln seine tragische Kraft, zeigt sich die höchste zu erbringende Einfalt, die durch die Negativitäten des Daseins sich hindurch manövriert hat und in der sich die höchste Stufe freiheitlicher Vollendung zum Ausdruck bringt. Doch nur jenseits der Zeit vermag sich dieses Ereignis zu manifestieren, aber dieses immer wieder – jenseits der Trennung von Natur und Kultur – an-zudichten, höchstes anzustrebendes Ziel.

Freiheit als spontaner Akt der Poesie

Ein Reich der Freiheit, der innerlichen wie der republikanischen zugleich zu errichten, eine „unsichtbare Kirche“, wie sie sich die Tübinger Freunde Schelling, Hegel und Hölderlin erträumten, wollte er errichten, eine wo die Kerze der Freiheit das Licht entzündet und Freiheit zum A und O aller Kunst wird.

Freiheit als spontaner Akt des Schöpferischen wird für Hölderlin aber eben nicht philosophisch erdacht, sondern poetisch vollzogen, denn es bleibt die Poesie, die die Wirklichkeit stiftet. Poesie, und so will sie Hölderlin dichten, ist nicht Welt abbildend, sondern Welt erschaffend. Und was der Philosophie nicht gelingt, vermag wie im Hyperion die Poesie, denn sie allein vermag die Trennung des Daseins zu überwinden und die Seynsverbundenheit erreichen. Oder anders formuliert: Das Seyn, das Hölderlin meint, ist das Reich der Schönheit und im künstlerischen Schaffen vereinigt sich Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Durch dieses freie Spiel der Kräfte im Menschen, im freien Spiel, eröffnet sich die Möglichkeit der Schönheit und der Künstler überwindet die Kluft zwischen „Urtheil“ und „Seyn“ und erfährt sich in inniger Seinsverbundenheit als Akteur, der die Wirklichkeit gestaltend verändert, der „tätig“ die Welt verändert, wie es schon in Goethes „Faust“ hieß.

In der Ästhetik, in der Kunst des Schönen verbinden sich Politik, Religion und Philosophie. Die Kunst wird idealisch. Doch diese Kunst treibt ewig ins Offene, in die Weite und Zukunft, sie bleibt ein Sehnsuchtsort mythologisch-poetischer Erfindung, sie zu stiften, bleibt Aufgabe der Dichter.

Dem Ende entgegen

Ein „Himmelreich“ auf Erden gibt es für Hölderlin ebenso wenig wie später für Heinrich Heine, denn das Dasein ist und bleibt der Ort der Differenz, dieses zu ertragen, Schicksal. Dieses Nich-bei-sich-Selbst-Sein ist es, was Hölderlin nicht erträgt und wo er höchst selbst daran scheitern wird, er, der 1801-02 in der höchsten Blüte der Vollendung stand. Am 15. September 1806 bricht Hölderlin zusammen, wie später Nietzsche in Turin. Die Autenriethischen Kliniken in Tübingen werden ihm Heimat, später der berühmte Dichterturm am Neckar, wo er nach 37 Jahren – wach, sich selbst entfremdet, ichlos seinerseits, in hybrider Selbststeigerung andererseits am 7. Juni 1843 stirbt.

Jenseits der Subordination

Das Wagnis des Lebens, die hohe Sensibilität hat Hölderlin, der nie Priester der Orthodoxie, der Subordination und der Theologie werden wollte, besteht in der An- und Abwesenheit der Götter, im Sich-Verbergen und Ent-Bergen, doch diese Differenz sucht nach Synthese, die sich entweder im Augenblick oder in der Zukunft, in der Offenheit ereignet. Hölderlin wollte sich mit der Entzauberung der Welt nicht abfinden, ist aber an ihren Differenzen gescheitert.

Wie modern ist Hölderlin?

Insofern ist Hölderlin modern, weil er im Selbstbewusstsein einen Abgrund sieht, ein Nichts, das sich nach neuen rettenden Ufern umsieht; weil er Differenz als etwas höchst Existentielles begreift, die das Leben herausfordert, vorantreibt und als Wesenszug der Moderne ewig in die Gräben des Schicksals greift; weil er das Ich als Spur eines Höheren – politisch gar als Nation – begreift, an dem es sich abarbeitet und sich womöglich verliert; weil er Kunst als eine Tat begreift, die nicht um ihretwillen geschieht, sondern den Menschen im Dienste der Freiheit zu Sittlichkeit erzieht.

Liberaler Weltentwurf

Hölderlins Vision bleibt eine freie Menschheit, wo Individuum und Gesellschaft, wie einst bei Schiller, ineinander spielen, wo Kunst als Imperativ der Freiheit den neuen Menschen hervorbringt, der den Idealen der Französischen Revolution und des liberalen Weltentwurfs – und heute dem Grundgesetz und der Charta der Vereinten Nationen –  als freier Mensch auf freier Erde steht und der die Schöpfung zu wahren sucht, insbesondere die Natur, die er nicht auf bloße Materialität verkürzen will, sondern als unendliche und nicht zu vernutzende herausstellt, die zu umhegen und zu pflegen sei.

Damit wäre Hölderlin heute einerseits ein „Grüner“, aber andererseits auch ein Konservativer, weil er Bewahren will, ohne dogmatisch zu sein, einer, der aus der Geschichte heraus in die Zukunft greift, ohne zu belehren, sondern mittels der poetischen Einbildungskraft den Menschen anzustiften, das Bessere zu tun, praktisch tätig zu werden.

zu Teil I kommen Sie hier: Durch Poesie aus der Zerissenheit des Daseins I.

zu Teil II. kommen Sie hier: Hölderlin – Mit Friedrich Schiller über Johann Gottlieb Fichte hinweg II.

Der Populismus in Deutschland ist schlimmer als der von Donald Trump

Stefan Groß-Lobkowicz27.12.2019Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

„Die Medien sind bellende Wachhunde der Demokratie, und die Demokratie ist bekanntlich das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann,“ schrieb einst Ephraim Kishon. Und wie recht er damit hat, zeigt ein Blick auf die Debattenkultur in Deutschland. Sie entfaltet sich immer mehr an ihren Rändern, dies insonderheit auf der Seite der Blauen und der Grünen. Entweder gibt es linken oder eben rechten Haltungsjournalismus – dazwischen herrscht die graue Mitte von Wohlfühlpropaganda und Mainstream-Opportunismus à la „taz“ und „Süddeutscher Zeitung“.

 

Während in der Mitte Langeweile und Phrasendrescherei herrschen, entflammen die Ränder zum kosmischen Streit. Den Siegeszug im Gezänk um die Deutungshoheit trägt derzeit der Rechtspopulismus. Denn in dem Grad, in dem die Meinungshoheit sich auf den linken Mainstream kapriziert, gewinnt der Rechtspopulismus graduell hinzu.  Anders gesagt: Wenn Medien nur einseitig informieren, wächst die Sehnsucht nach anderen Quellen, die als authentischer wahrgenommen werden. Dieser Trend zeichnet sich insonderheit bei konservativen bzw. neurechten Blogs ab. Diese verzeichnen seit Jahren Hochkonjunktur. Dabei geht es oft nicht um Inhalte und Argumente, sondern um ein bloßes Bashing der etablierten Politik. Und es pielt es keine Rolle, ob Fake News oder Realität obsiegen, ob pure Banalitäten oder doch berechtigte Kritik verkündet werden. Es wird provoziert und gezündelt – Hauptsache Krawall.

Seit einigen Jahren hat sich so in der Bundesrepublik eine Diskussionskultur manifestiert, die als reines Entweder-Oder eine Zweifreifrontenlinie neben der hochoffiziellen Berichterstattung etablierte. Dort jagt eine Propagandawelle die andere, sei es von links oder von rechts. Anstatt einer Diskurskultur, die die junge Bundesrepublik einst prägte, und die intellektuell und produktiv in ihrer Verschiedenheit war, geht es heute nur noch um Kampflinien. Der gigantische Popularisierungsschub frisst alle Argumente und erweist sich als Kriegsschauplatz, dem der ethische Diskurs und Anstand völlig abhandengekommen ist. Eine derartige monolithische Hetzkultur gegen Andersdenkende jedweder Couleur gab es nicht mal zu DDR-Zeiten, wo selbst das Sprachrohr des Kommunismus, Karl Eduard von Schnitzler, ein Westimport, maßvollere Töne anschlug.

Ein Stück weit DDR wohnt dem medialen Diskurs auch nach 30 Jahren inne. Die „Tagesschau“ gleicht allzu oft einer „Aktuellen Kamera“ 2.0. Gezeigt wird, was parteipolitisch gefällt, was linientreu ist. Und allein das, was auf der Argumentationslinie von Staatsfunk und „Agitprop“ liegt, schafft den Sprung in die Qualitätspresse, die letztendlich einer von oben verordneten thematischen Gleichschaltung der etablieren Parteien gleichkommt.

Während also auf der einen Seite die politische Korrektheit zum Maß aller Dinge verklärt wird, wo die Gleichschaltung zum medialen Komplex wird, entzündet sich auf der anderen Seite eine Art olympischer Zirkus, wo der die Medaillen nach Hause trägt, der nicht um Ausgewogenheit bemüht ist, sondern mit dem Hammer journalisiert. Als Faszinosum aber bleibt, dass genau die, die populistisch agieren, derzeit in den politischen Umfragen deutlich an Kraft gewinnen, während die Mitte immer weiter, aber kontinulierlich verwelkt und sich in ein buntes Allerlei kleidet.

AfD

Der Rechtsjournalismus der AfD ist Populärjournalismus. Täglich rollt er wie eine allgewaltige Lawine durch die Sozialen Medien, die einzigen Kanäle, die ihm virale Verbreitung garantierten, weil die Öffentlich-Rechtlichen umgekehrt nur den linken Mainstream verbreiten und sich einer Diskurskultur gegenüber ignorant und borniert verhalten. Ob Alice Weidel, Jörg Hubert Meuthen oder Rechtsaußen Björn Höcke, der für eine nationale Diktatur 2.0 plädiert und der, so das Verwaltungsgericht Meiningen, als „Faschist“ bezeichnet werden darf – die Krawallmaschinerie läuft wie ein Trommelfeuer und schießt eine Kanonensalve nach der andern ab. Kaum ein Ereignis, das nicht medial kommuniziert, kommentiert und ausgeschlachtet wird. Waren es früher Asyltourismus und Migration, schießen die Blauen jetzt ihre Tiraden auf das Klima. Hart, derb, mit kontinuierlicher Inbrunst und verbal aufgemischter Aggression versehen.

Derartiger „AfD-Journalismus“, der für nichts anderes als eben für eine neue Krawallkultur“ steht, ermüdet und zeigt, dass nicht nur diese Politik, sondern auch mit ihr derartig gestrickter Journalismus zu einer Agitpropmaschine gerät, der die alten Werte der journalistischen Schreibe samt Tiefgang, Recherche und Intellekt in den Orkus der Geschichte wirft. Was nicht zählt, ist der qualitative Inhalt, sondern allein die Message als Massage, die doktrinierte Massage des Lesers, als Instrument der politischen Vernunft, die dann keine andere als eine instrumentelle mehr ist. Diese Funktionsentkleidung derartigen Journalismus von rechts macht diesen nur noch zur Magd von Interessen und Ideologien und nimmt ihm damit das Fundament als existentielle vierte Gewalt.

Die Grünen

Nicht viel besser als bei der Propagandamaschinerie der AfD steht es bei den Grünen. Sie werden zwar nicht als grünpopulistisch von den Mainstream-Medien beäugt, sondern wie die neuen Heilsbringer geradezu medial in Szene gesetzt. Doch ihr Populismus, sei es Genderwahn, Multi-Kulti, der Hass auf Dieselfahrer, ihr verbitterter Abschiebestopp gegenüber kriminellen Ausländern, ihr krampfhaftes Unisex-Toiletten-Programm und der Ausverkauf abendländischer Werte zugunsten von Diversität und angepriesener Migrationskultur, ist in seiner Bissigkeit nichts anderes als die Stimmungsmache, die ihr Gegenüber, die AfD, entzündet, wenn sie ständig zündelt.

Verbotskultur, Fleischverzicht, Veggieday, Ökodiktatur, Flugverbote hier, staatszersetzende Agitation dort. Und auch hier wird deutlich: Argumente waren mal, was zählt – und da nehmen sich Grüne und AfD nichts, selbst wenn dies Grüne rigoros von sich weisen würden, ist blanke Meinungsmache.

Was bei all diesen Stimmungslagen bleibt ist eine ewige Wiederkehr des Gleichen. Leider! Die Kampfeszone hat sich ausgebreitet und spaltet das Land noch tiefer. Die Debattenkultur in Deutschland ist damit also zu einer nichts bringenden Streitkultur geworden, die nicht im Geist der Versöhnung agiert, wo das bessere Argument obsiegen sollte, sondern sich den politischen Grabenkampf in seiner Einseitigkeit und seinem inkludierten Extremismus auf die politische Agenda geschrieben hat. Statt Diskurskultur à la Jürgen Habermas regiert eine Nichtkultur des politischen Diskurses, die in ihrer Radikalität und Aggressivität nicht weit entfernt von Donald Trumps bescheidener Twitterkunst liegt. Der Witz dabei nur: außer der AfD, die sich zu Trump bekennt, kommuniziert der Rest der deutschen Parteienlandschaft im gleichen dumpfen Ton wie der US -Präsident, der eigentlich die Persona non grata der linksgerichteten Propaganda war und ist.

Doch nüchtern betrachtet, langweilt ein derartiger Propaganda-Journalismus. Das ganze rechts – linke Sich-selbst-Stilisieren um die politische Wahrheit gerät zu einem ermüdenden Lamento. Hinter den einseitigen Parolen verblasst nicht nur der Einzelne samt seinen Sorgen und Nöten, sondern durchaus das, was positiv in diesem Land läuft.

Mit propagandistischen Planspielen, mit dem permanenten Entzünden von Nebelkerzen von links und rechts, kommt man nicht weiter. Die Welt ist bunter als schwarz-weiß. Das ist umso besorgniserregender, insofern die Dialektik der Aufklärung, wie einst Theodor W. Adorno und Max Horkheimer befürchteten, dann in Mythos, blinde Emotionalität, Verklärung und Anti-Rationalismus umschlägt. Doch das können Demokraten nicht wollen. Vielleicht hilft es da einmal, als Beispiel sei an den “Zentralen Runden Tisch” in der Wendezeit erinnert, dass sich Regierung und Opposition, jenseits aller Eitelkeiten und jenseits politscher Machtgelüste und Egomanie,  mit dem politischen Gegner an einen Tisch zu setzen und miteinander zu reden, anstatt sich a priori wechselseitig zu verdammen. Und vielleicht dabei auch einmal darüber zu reflektieren, was der Souverän, das Volk, eigentlich will. „Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen, hatte Martin Luther King einst geschrieben.  Und Demokratie, so bemerkte zuvor schon Winston Churchill, „ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen“.

Umweltschutz ist für Fürst Albert II. von Monaco ein kategorischer Imperativ

Stefan Groß-Lobkowicz19.12.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Albert II. ist kein Fürst spektakulärer Auftritte. Doch eine Ausnahme macht er beim Klimaschutz.

Der 61-jährige Regent des Fürstentums Monaco, Ehrendoktor und Honorarprofessor für International Studies am Tarrant County College, hat eine Passion: Er will das Bewusstsein der Menschen für die Umwelt schärfen. Ob bei seinen Reisen zum Nord- oder Südpol – sein Credo lautet immer: „Erhaltung der Schöpfung“. Wie ernst es der Regent damit meint und wie sehr er selbst Klimavisionär und Klimapragmatiker zeigt sich nicht nur an einer unüberschaubaren Fülle von Projekten, sondern an seiner Entschlossenheit, dem menschengemachten Klimawandel entschieden den Kampf anzusagen. Diese Vision ist Albert II. zur Lebensmaxime geworden, denn „Monaco ist sicherlich nicht das größte Land der Erde, doch ich bin entschlossen den Beweis anzutreten, dass es in Umweltangelegenheiten durchaus mit zu den erneuerungsfreudigsten zählt“. Wie entschlossen er ist, zeigt, dass das kleine Fürstentum bereits 2006 das Kyoto-Protokoll ratifizierte, sich seit über 15 Jahren für die Reduzierung von CO2-Emissionen einsetzt und sich das Thema der Erneuerbaren Energien als Primärziel auf die Agenda geschrieben hat. Mit seiner „Fondation Prince Albert II de Monaco“, einem internationalen Netzwerk, dem renommierte Wissenschaftler, Adlige und Entrepreneurs gleichermaßen angehören, unterstützt er den Bau nachhaltiger Entsalzungsanlagen, fördert die Erforschung neuer Pflanzen zur Gewinnung von Biogas sowie den Erhalt der Artenvielfalt im Bereich der europäischen Vogelwelt. Als Schirmherr der „Billion Tree Campaign” der UNEP setzt sich Fürst Albert II. für die Wiederaufforstung ein und engagiert sich für das energieeffiziente Bauen.

Verantwortung verpflichtet, das weiß keiner besser als der Sohn von Hollywoodlegende und Grace Kelly und von Fürst Rainier III. Schon der Vater galt als Klimaaktivist und Vorreiter in Sachen Umweltschutz, gründete zum Schutz der französisch-italienischen Mittelmeerküste eine Umweltzone und war einer der ersten, der sich für eine Regelung des Walfangs aussprach. Fürst Albert II. ist in diese Fußstapfen getreten, führt das große Erbe fort und setzt eigene, neue Akzente. Sei es beim Ausbau der E-Mobilität und anderer alternativer Antriebsmethoden im Fürstentum oder dem Bio-Monitoring-Programm, das die Qualität des Meereswassers und die Auswirkung auf die Organismen untersucht. Schon 2009 plädierte Fürst Albert für ein Handelsverbot des vom Aussterben bedrohten Roten Thunfisches. Nachhaltige Fischerei einerseits sowie der Kampf gegen die Versteppung und die Aufforstung andererseits stehen ebenfalls im Fokus des Umweltaktivisten Albert II. In der neuen Klimabewegung „Fridays of Future“ sowie beim Klimaplädoyer der Schwedin Greta Thunberg sieht er daher eine Sternstunde eines neues Umweltbewusstsein, das auch seine Ideen einem breiten Publikum vermittelt und das er mit daher mit Nachdruck unterstützt. Der Monegasse weiß, und darauf hat er jüngst hingewiesen. Der Klimawandel lässt sich nur gemeinsam verwirklichen und bedarf eines globalen Engagements aller: „Überall sehen wir Bürger und Jugendliche, die sich für den Kampf gegen den Klimawandel zusammenschließen“, sagte der Fürst im Dezember in Potsdam. Und „niemand kann behaupten, dass er nur für sich handelt.“ So fordert Albert II. von Monaco auch ein Umdenken hin zur „Clean Mobility“. Denn „die Klimasituation verlangt jetzt von uns, dass wir die Art und Weise, wie wir reisen, arbeiten, konsumieren und uns ernähren, ändern. Wir wissen mit Sicherheit, dass sich unser Klima in einer sehr beschleunigten Weise ändert“.

Der Mahner aus dem Fürstentum Monaco weiß, was auf dem Spiel steht. Es geht um nichts Geringeres als um die Bewahrung unserer Erde. Das Prinzip Verantwortung, wie es der große Philosoph Hans Jonas einst einforderte, ist auch dem Fürsten eine Pflicht zum Dienst an der Natur und an den künftigen Generationen. Es geht um nichts weniger, als die Erde zu retten, damit sie in ihrer Schönheit, Artenvielfalt und Einmaligkeit bewahrt bleibe. Dafür steht der Name Albert II. von Monaco, dafür steht seine Stiftung mit ihren Forschungsstipendien und Millionen von Forschungsgeldern –  dafür steht letztlich heute das Haus Grimaldi und an seiner Spitze ein Fürst, der an die Welt appelliert: „Ich zähle auf uns alle, um das zu verwirklichen.“

Für sein Engagement erhält Fürst Albert II. von Monaco am 17. Januar 2020 den Freiheitspreis der Medien”, dazu heisst es:

“Der „Freiheitspreis der Medien“ geht 2020 an Fürst Albert II. von Monaco. Der Fürst erhält den renommierten Preis, der in den vergangenen Jahren an Michael Gorbatschow, Reinhard Kardinal Marx, Christian Lindner, Jens Weidmann und an Jean-Claude Juncker verliehen wurde, für ein couragiertes Engagement für den Naturschutz. In der Begründung der Jury heißt es: „Wie kaum ein anderer Staatsmann hat sich der Politiker in den vergangenen Jahren für die Bewahrung der Schöpfung eingesetzt. Bereits seit der Jahrtausendwende weist der studierte Politikwissenschaftler auf die Gefahren des Klimawandels hin und ist aktiv für den Naturschutz tätig. Fürst Albert II. von Monaco kämpft nicht nur gegen die weltweite Verschmutzung der Meere, gegen die Klimaerwärmung durch industrielle Schadstoffemissionen und das globale Abschmelzen der Pole, sondern lenkt den Fokus immer wieder auf den Schutz der Artenvielfalt, fördert Erneuerbare Energien und plädiert für eine globale Wasserversorgung. Die von ihm im Jahr 2006 gegründete Stiftung „Fondation Prince Albert II de Monaco” gilt weltweit als Leuchtturmprojekt für den Umweltschutz. Prinz Albert II. von Monaco erhält den „Freiheitspreis der Medien“ für seinen unermüdlichen Dienst zum Schutz der Umwelt, für seinen Kampf um eine saubere Umwelt und für sein engagiertes Eintreten als Umweltbotschafter, der unermüdlich vor dem Klimakollaps warnt. Er steht für einen nachhaltigen Freiheitsbegriff des 21. Jahrhunderts, er kämpft für das Ziel der qualitativen Freiheit. Ihm gilt nicht „je mehr, desto besser“, sondern umgekehrt „je besser, desto mehr“.”

Europäischer Wirtschaftssenat e. V. (EWS) wählt Ingo Friedrich einstimmig zum Präsidenten

  1. Dezember 2019 Stefan Groß-Lobkowicz Finanzen 0

Foto: Stefan Groß

München, 15. Dezember 2019. Renommierte Persönlichkeiten aus Industrie, Wirtschaft und Politik trafen sich am 13. Dezember zur Mitgliederversammlung des Europäischen Wirtschaftssenates e. V. im Münchner Hotel Sheraton. Mit einstimmiger Mehrheit wurde Dr. Ingo Friedrich, Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments, erneut zum Präsidenten von den Senatorinnen und Senatoren gewählt. Die Mitglieder eines der führenden europäischen Wirtschaftsclubs würdigten damit die Leistungen des Europapolitikers und bestätigten diesen für die nächsten fünf Jahre im Amt. Der neu gewählte Präsident nahm die Wahl an und kommentierte: „Für mich ist diese Arbeit keine unter anderen, sondern die Nummer eins in meinen Leben.“

Der Europäische Wirtschaftssenat e. V., von Professor Friedmann 1993 gegründet, hat bereits in der dritten Periode mit Ingo Friedrich eine Persönlichkeit an der Spitze, der wie kaum ein anderer Politiker in Europa als Brückenbauer und Netzwerker arbeitet. Mit Friedrich, einem Europäer der ersten Stunde, verdankt der EWS seine breitere Außenwirkung, nicht nur in die Medien hinein, sondern auch in das Parlament und in die Europäische Kommission. So heißt es in der Begründung des Aufsichtsratsvorsitzenden und Präsidenten des Bundes der Steuerzahler in Bayern, Rolf von Hohenau: „Ingo Friedrich hat den Senat vor 10 Jahren übernommen und ihn auf solide, wirtschaftliche Beine gestellt. Dank der Leidenschaft des EU-Politikers Friedrich, der das Amt mit Fleiß und großem Engagement, Herz und Seele, ausfüllt, gelang es in den letzten Jahren hochklassige Speaker, prominente Politgrößen und führende Unternehmerpersönlichkeiten zu gewinnen.“

Doch Ingo Friedrich hat sich selbst und seinem Club noch weitere große Ziele gesteckt. So will er den Wirtschaftssenat noch intensiver an die internationale Politik anbinden, die Zahl engagierter Unternehmer erweitern und den Senat noch breiter in die mittelständische Wirtschaft einbinden. Friedrich ist sich dessen voll bewusst, das der Mittelstand auch in Zukunft das Fundament nationalen sowie internationalen Wirtschaftens bleibt. Darum will er den Senat künftig noch dynamischer und attraktiver für die Senatorinnen und Senatoren machen.

Das seine Idee zündet, war am vergangenen Freitag deutlich spürbar. Mit drei neuen Mitgliedern startet der Senat in die nächste Periode.

Seit seiner Gründung im Jahr 2003 vernetzt der Europäische Wirtschaftssenat e. V. Politik und Wirtschaft eng miteinander, diskutiert über die großen Themen der Zeit und fungiert so als Impulsgeber aus dem Herz des Unternehmertums heraus. Masse statt Klasse, so die Maxime des EWS, der mit einer Vielzahl renommierter Unternehmer zu einem der erfolgreichsten und einflussreichsten Wirtschaftsclubs Europas gehört.

Der Europäische Wirtschaftssenat versteht sich als Gremium europäischer Unternehmer und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Seine Maxime lautet: Erfahrungswissen, Praxisnähe, progressive Gestaltungsfähigkeit nicht nur von seinen Mitgliedern als Unternehmer zu erwarten, sondern dieses kompetente Fachwissen den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft zu vermitteln. Es ist der Gestaltungswille, die Welt ein Stück weit zu verändern, der im Zentrum der vom EWS veranstalteten Wirtschaftsgespräche steht, die sich das Thema „Wirtschaftskompetenz für Europa“ auf die Fahnen geschrieben haben. Diese Arbeit an und für Europa ist weder interessengesteuert, setzt weder auf Eigennutz noch persönlichen Vorteil, sondern ist ganz klassisch dem guten Geist des ehrbaren Kaufmanns verpflichtet. Dieser ethische Leitfaden steht immer im Mittelpunkt gemeinsamer Treffen, Veranstaltungsreihen, den berühmten EWS-Wirtschaftsgesprächen, und gemeinsamen Reisen zu nationalen sowie internationalen Partnern.

Der EWS spiegelt so den Geist Europas als Einheit in der Vielfalt. Europa zu vereinen, die europäische Identität mit Leben füllen, den Geist von Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Helmut Kohl und François Mitterrand beständig zu erneuern – dafür steht der EWS, wenn er die großen Themen der Zeit immer wieder in den Fokus seiner Veranstaltungen und Diskussionsrunden stellt.

So standen am vergangenen Freitag die Gespräche ganz im Zeichen der Mobilität und Energieversorgung: „Europa 2030 – Alles unter Strom? – Wie sieht die Zukunft aus? Innovationsmotor Wissenschaft und Wirtschaft“ lautete das Arbeitsthema. Dass der EWS bei dieser Thematik wiederum volle Verantwortung zeigt, spiegelte sich an der hohen Teilnehmerzahl und der Exklusivität der eingeladenen Referenten und Panelteilnehmer. Auch mit dieser Veranstaltung unterstrich der Europäische Wirtschaftssenat e. V. wie notwendig der politische Diskurs für die politische Zukunftsperspektive bleibt. Denn so wichtig es ist, dass die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt, es sind letztendlich immer Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, die Lösungen für die Probleme der Gesellschaft entwickeln und am Markt anbieten. Hier konkrete Lösungen vorzustellen, diese real und pragmatisch in Zukunft umzusetzen sind, auch das versteht der EWS als eine seiner Kernkompetenzen und korrigiert, wenn nötig, auch politische Entscheidungen. Ganz konkret zeigte sich dies beim Thema Energiewende. Es braucht, so forderte der Bundestagsabgeordnete Bernhard Loos in seinem Statement, keine Co2-Bepreisung, sondern einen Emissionshandel für Wärmeverkehr. Und wer bei der Automobilwirtschaft allein auf die E-Mobilität setzt, bringt tausende Arbeitsplätze in Gefahr. Dies kann aber nicht die Lösung sein, wenn die Maximen von ehrbaren Kaufmann und Sozialer Marktwirtschaft die wirtschaftlichen Richtlinien der Gesellschaft sein sollen.

Was ist eigentlich der Europäische Wirtschaftssenat e. V.? Ein Gespräch mit dem neuen Präsidenten Ingo Friedrich

  1. Dezember 2019 Stefan Groß-Lobkowicz EUROPA 0

Dr. Ingo Friedrich, Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats e. V., Foto: Stefan Groß

Herr Dr. Friedrich, Sie haben die vergangenen 10 Jahre als Präsident des Europäischen Wirtschaftssenat e. V. Ihren Senat in gute Fahrwasser gefahren. Nun wurden Sie im Dezember 2019 erneut für fünf Jahre gewählt. Glückwunsch dazu! Was macht ein europäischer Politiker, Vizepräsident des Europäischen Parlamentes und Ehrenpräsident beim EWS?

Die Aufgabe des EWS-Präsidenten bietet eine perfekte Möglichkeit die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Entscheidungen unmittelbar an der „Unternehmerfront“ zu spüren und zu überprüfen. Der intensive und permanente Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der Wirtschaft ermöglicht es andererseits Ideen und Themen aus der Wirtschaft in die Politik einzubringen. In den kommenden fünf Jahren möchte ich den EWS noch schlagfertiger machen und seinen Einfluss weiter stärken.

Ein Anliegen des Wirtschaftssenates ist die Vernetzung von Unternehmen primär in Europa. Sie haben als Mitglieder nur exklusive Senatorinnen und Senatoren? Ist der Wirtschaftsclub nicht zu exklusiv?

Die Mitglieder des EWS kommen zu einer Hälfte aus Deutschland und zur anderen aus den europäischen Staaten. Insofern ist eine internationale Vernetzung naturgemäß vorhanden. Um von vornherein eine hochqualifizierte Diskussion und Beschlussfassung zu gewährleisten gibt es im EWS strikte Beitrittskriterien, die aber auch mit den Aspekten des so bezeichneten „ehrbaren Kaufmann“ zusammen hängen. Dies alles führt nicht zu einem elitären oder exklusiven Club sondern zu einer besonders interessanten und attraktiven europäisch orientierten Zusammenarbeit führender Unternehmen. So sind wir beispielsweise sehr glücklich, dass unser neuestes Senatsmitglied aus der Weinbranche kommt und das berühmte Weingut Wirsching repräsentiert.

Was sind die konkreten Aufgaben des Wirtschaftssenates, wo treffen die Entscheider auf die Politik und wie kann der Senat die Politik beeinflussen?

Unser Schwerpunkt liegt in der Vertretung der sozialen Marktwirtschaft mit der Zielsetzung des Abbaus unnötiger Bürokratie sowie in der Hilfe bei der Durchsetzung neuer Ideen und Technologien. So unterstützen wir gerade einen Startup Unternehmer, der zur weiteren Sicherung des Straßenverkehrs gerade im Hinblick auf selbstfahrende Autos die geniale Idee einer vorderen Bremsleuchte verfolgt. Mit unseren Senatsmitgliedern führen wir regelmäßig intensive Gespräche mit Repräsentanten der Politik und der Wissenschaft durch und begleiten Unternehmen bei schwierigen Ungestaltungsprozessen.

Mit welchen Themen beschäftigt sich der Wirtschaftssenat im Jahr 2020?

In 2020 wird insbesondere die Entwicklung und der Austausch mit China im Mittelpunkt stehen. So planen wir im März eine Delegationsreise nach China. Des weiteren werden wir unseren langjährigen Senator Eduard Kastner dabei unterstützen, seine grundlegenden Ideen zur Reduzierung des CO 2 Ausstoßes weltweit zu realisieren. Viele Kontakte mit Brüssel und Berlin werden auch durch die aktuell anfallenden Themen bestimmt und dabei wird sicher die differenzierte Diskussion über Energie, E-Mobilität und Standortqualität eine wichtige Rolle spielen. Nicht zuletzt wird uns der Brexit auch im kommenden Jahr immer wieder beschäftigen.

Fragen: Stefan Groß

Greta Thunberg: Die Klimakaiserin ist eigentlich nackt

Boyan Slat ist die bessere Greta Thunberg

Stefan Groß-Lobkowicz2.12.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Die Schwedin Greta Thunberg gilt als Klimaikone. Aber bei genauer Betrachtung ist die Klimakaiserin nackt! Der smarte Niederländer Boyan Slat hingegen ist weniger bekannt, aber Greta gegenüber mit seinem Klimapragmatismus weit voraus. Aber wer ist der junge Mann aus Delft? Und viel wichtiger: Warum brauchen wir Greta nicht!

 

Kaum dachte man, der Hokuspokus um Klima-Ikone Greta Thunberg ist vorbei, meldete sich diese wieder per Twitter zurück: „Es stellt sich heraus, dass ich um die halbe Welt gereist bin, in die falsche Richtung“ twitterte sie am 1. November. Grund dafür: Der Klimagipfel wurde von Chile nach Madrid verlagert. Nun wartet man in Spanien, dem Land, das wie kaum ein anderes die abendländische Zivilisation prägte, gebannt auf neue Visionen des modernen delphischen Orakels.

Greta erobert sich Europa als sei es ein Wunschkonzert

Europa ist in Euphorie. Endlich kommt Greta wieder zurück und mit ihr der flächendeckende Hass auf alle Klimaleugner. Ja, Greta ist eine Medienikone, ein medialer Glücksfall. Sie lässt sich teleaktiv und viral ausschlachten, mit ihr allein lassen sich Millionen machen. Blöd nur die Tatsache, dass der mediale Hype selbst der größte Klimafresser ist. Allein die virale Greta ist so äußerst schlecht für die Klimabilanz des Planeten, da die gigantischen Rechenmaschinen so viel CO2 wie der gesamte Luftverkehr ausstoßen.

Nicht sie, sondern die Kinder im Kongo haben ihre Kindheit verloren

Doch Greta kann in Europa einiges vorzeigen. Sie hat „Fridays for Future“ gegründet und tausende Schüler zum Streik motiviert, getreu der Maxime: Wer streikt schon in seiner Freizeit, wenn er das auch in der Schulzeit tun darf und moralisch geradezu dazu verpflichtet wird.

Wie kaum einem anderen Menschen gelang es der vor einem Jahr noch nahezu unbekannten Schwedin alle bedeuteten Geister, Regenten und Politiker auf sich und ihre Klimarettung einzuschwören. 2019 verneigten sich alle andächtig vor Greta, ob der Papst, Barack Obama oder gar Muskelikone Arnold Schwarzenegger. Allen las sie gleichermaßen die Leviten. Und die UNO klagte sie unisono an, ihr ihre Kindheit geraubt zu haben. Aber sie hat, wie Friedrich Merz unlängst betonte, eben nicht ihre Kindheit verloren, sondern jene Kinder die täglich im Kobaltabbau im Kongo für die Gewinnung dreckiger Batterien in unwürdiger Kinderarbeit ihr kümmerliches Dasein fristen.

Die Huldigung der Pharisäerin

Auch das Europäische Parlament kassierte eine Generalanklage von Greta. Doch anstatt sich die gewählten Volksvertreter über eine derartige kindliche Impertinenz beschwerten, verneigten sich die Parlamentarier in aller Unterwürfigkeit und Demut gegenüber der Ökokaiserin, die bei Nähe betrachtet nackt ist. Denn sie hat nichts anderes vorzuweisen als ihr grollendes und donnerndes „How dare you?“, das sie mit derartiger Überzeugung und gekünsteltem Pathos vorträgt, dass dem Betrachter das Grausen überkommt. Und eigentlich kann das Mädchen aus dem hohen Norden nur eins, ungeschminkten Hass samt Negativbotschaften vom Untergang der Welt verbreiten. Sie ist eine Untergangsprophetin, die mit dem Begriff Angst wie mit einem Schneeball spielt und Angst so über alle Ländergrenzen hinweg transzendiert.

Der Friedensnobelpreis wäre völlig absurd – dann doch lieber Mutti Merkel

Und Fast hätte sie es damit gar zur Heiligen geschafft. Sie wäre nahtlos, ginge es zumindest nach der linksgrünen Presse, in die Kette von Jesus, Buddha, Mohammed und Gandhi eingereiht worden. Selbst der Friedensnobelpreis winkte ihr bereits. Und Greta hätte diesen genauso unverdient bekommen wie einst der Erzschurke und skurrile Diktator Muammar al-Gaddafi oder der kaum sich im Amt beweisende Greta-Schmeichler Barack Obama.

Der Niederländer Boyan Slat, der Pragmatiker

Während es Greta mittlerweile zu 176 Millionen Google-Ergebnissen gebracht hat, bringt es ein junger Erfinder gerade mal bei 270.000. Der Niederländer Boyan Slat ist ganz anders als Greta. Hier Optimismus, dort Pessimismus. Hier Optimismus, Kreativität und Pragmatismus, dort pure Anklage und Angstmacherei. Im Gegensatz zu Greta ist der neun Jahre ältere Boyan einer, der tatsächlich etwas bewegt. Studiert hat Slat Raumfahrttechnik im ländlichen Delft.

Der 24-Jährige mit den wuscheligen Haaren und dem Dreitagebart hat seit seinen Kindertagen eine Vision, seit er beim Tauchen vor der griechischen Küste mehr Müll als Fische erblickte: Das Meer von Plastik zu befreien. Und dafür legt sich der bekennende Elon Musk-Fan mächtig ins Zeug. Selbst wenn sein gigantisches Auffangsystem für Plastikmüll, 001 genannt, nicht so spektakulär wie Musks roter Tesla ist, so wird es aber mindestens so effektiv sein, wenn es einmal den Praxistext besteht.

Wie das Vorbild Elon Musk, aber eben doch ganz anders

In Boyan stecken Musks Gene. Wie sein Vorbild kann er Millionen-Sponsoren von seinem Traum überzeugen, indem er den Investoren Gewinne verspricht. Aber anders als Musk ist Slat jung, freundlich und vor allem bodenständig. Seine gemeinnützige Organisation „The Ocean Cleanup“, die er zusammen 100 Wissenschaftlern gründete, strebt nicht wie Musks SpaceX oder Tesla nach Milliardengewinnen. Boyan Slat geht es tatsächlich um die Rettung der Welt, so die Idee, die hinter seinem passiven System zum Auffangen des in den Meeresströmungen treibenden Plastikmülls steht. „Dieses erste Reinigungssystem wird nicht nur zu saubereren Gewässern und Küsten beitragen, sondern ist gleichzeitig auch ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zum Abbau des riesigen Kunststoffabfallteppichs im Pazifik. Die Inbetriebnahme wird uns ermöglichen, die Effizienz und Lebensdauer des Systems langfristig zu untersuchen,“ verkündete der Erfinder damals. Seitdem hagelte es Preise, so der „Best Technical Design“ der Technischen Universität Delft und der Preis „Champion of the Earth“ des Umweltprogramms der Vereinten Nationen.

Der Klima-Chefretter?

Und ganz anders als Greta hat Slat mit seiner Erfindung des größten Müllteppich der Welt, ein gigantisches Müll-Aufsammelbecken, das Plastik umgreift und einfängt, eine bemerkenswerte Pragmatik entwickelt, von der die Ikone der Angst nur träumen kann. „So ist das eben“, sagt Slat, „wer zaudert, löst keine Probleme …“ Vielleicht rettet er so tatsächlich mal die Welt – zu wünschen wäre es ihm.

Kein Mensch braucht Greta Thunberg oder Greta Thunfisch – die Atlantiküberquererin mit dem bösen Blick

Wir brauchen keine quasi durch Emotionalisierung aufgeladene religiöse Prophetin des Unheils wie Greta Thunberg, die dieses als grüne Ersatzreligion zelebriert, keine Apokalyptikerin, die mit der Angst der Menschen spielt, keine Ökonomie einer apokalyptischen Drohgebärde, keine Indoktrination von Schuldgefühlen, keine abendländische Ersatzreligion, keine neue grüne Zivilreligion, die Gott gegen die Umwelt tauscht, wir benötigen keinen Entrüstungspessimismus und keine Angstrhetorik und wir brauchen keine neue Ideologie der Heilserlösung durch Kinderhand – denn all dies sind erbitterte Feinde der Aufklärung und der Rationalität. Sondern wir benötigen Menschen wie Boyan Slat, die anstelle von Ökoreligion und Klimagottesdienst ihren gesunden Menschenverstand, ihren Pragmatismus und das Prinzip Hoffnung stellen. Statt Weltuntergangsszenarien und Weltrettungsweisheit lieber die rettende Hand, denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Bouffier macht sich für Philipp Reis stark

Stefan Groß-Lobkowicz28.11.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Wer hat das Telefon erfunden? Der Amerikaner Graham Bell oder der Deutsche Philipp Reis? Jetzt erscheint die erste große Monografie zum Erfinder des Telefons. Das Buch kommt zu einer klaren Antwort: Philipp Reis war es. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier erklärt: „In Amerika existiert die grobe Fehlvorstellung, dass Graham Bell das Telefon erfunden habe. Dagegen wollen wir mit diesem Buch ankämpfen.“

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Deutsche Erfinder haben vom Buchdruck bis zum Auto, vom Röntgenstrahl bis zum Kaffeefilter viele Erfolge zu verzeichnen. Doch was ist mit dem Telefon? Amerika beansprucht mit Graham Bell die Ehre für sich. Ein neues Buch des Historikers und Verlegers Wolfram Weimer liefert nun eine andere, eindeutige Analyse: Es war der hessische Lehrer Philipp Reis, der das erste Fernsprechgerät tatsächlich erfunden hat – und das Wort „Telefon“ gleich dazu. Das Buch „Der vergessene Erfinder“ ist die erste umfassende Monografie zu Philipp Reis und ist im CH.GOETZ-Verlag erschienen.

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat die Monografie in Wiesbaden präsentiert und erklärt: „Seine Erfindung war revolutionär. Reis hat Geschichte geschrieben – auch wenn er teilweise vergessen wurde. Das wollen wir ändern.“ Philipp Reis sei ein genialer Tüftler gewesen, und wegen seiner unbändigen Neugier ein Vorbild für heute: „Wir brauchen wieder Menschen, die neugierig sind, die innovativ sind. Innovation ist ein Schlüssel für eine bessere Zukunft. Da ziehe ich die Linie zu Philipp Reis. Wir leben von Menschen, die uns nach vorne bringen“

Bestseller-Autor Wolfram Weimer erzählt mit dem Buch minutiös die tragische Geschichte eines Tüftler-Genies aus Hessen, dem bis heute der Ruhm für seine Erfindung versagt geblieben ist. „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ – so lautet der erste Satz, der jemals über ein Telefon gesprochen worden ist. Am 26. Oktober 1861 führte Philipp Reis seine Erfindung den Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt vor. Der Apparat bestand aus einer Geige, einer Stricknadel und der Blase eines Hasen. Obwohl die Konstruktion funktionierte, die Öffentlichkeit staunte, belächelten damalige Wissenschaftler den genialen, kreativen Amateur aus Hessen und sein vermeintliches Musik-Spielzeug. Er starb früh und erlebte den Weltruhm seines Geniestreichs nicht mehr. Dafür übernahm der clevere Geschäftsmann Alexander Graham Bell in den USA die Idee, ließ sie zwei Jahre nach dem Tod von Philipp Reis patentieren und machte mit den neuartigen Telefonen Millionen. Amerika feierte Bell seither als den Vater des Telefons. Deutschland hat den wahren Vater hingegen fast vergessen.

Ministerpräsident Volker Bouffier bei der Buchvorstellung “Der vergessene Erfinder” von Wolfram Weimer, Foto: Stefan Groß

Die neue Monografie spürt dem Leben und Wirken von Philipp Reis nach. Weimer erzählt die Lebens- und Erfindungsgeschichte detailliert quellentreu und doch lebendig. Zahlreiche Archivfundstücke und wichtige Quellendokumente werden erstmals zusammen publiziert. Das reich illustrierte Buch gibt vor allem Antworten. Antworten auf die Fragen: Wie kann der nicht-studierte Waisenjunge das schaffen? Wer ist dieser Jahrhundert-Erfinder wirklich? Wieso wird „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ der erste Satz, der je durch ein Telefon gesprochen wird? Warum kann Graham Bell das Telefon nach dem Tod von Philipp Reis für sich patentieren lassen? Und wieso ist Reis in Vergessenheit geraten?

Bei der Schlüsselfrage, wer denn nun das Telefon tatsächlich erfunden hat, referiert das Buch die langjährige Wissenschaftsdebatte und ihre Argumente. Dabei wird klar, dass Bell das Telefon technisch entscheidend weiterentwickelt und vor allem erfolgreich vermarktet hat. Das Buch arbeitet interessante Details heraus, so dass Bell in seinem britischen Patentantrag gar nicht den Anspruch erhebt, der Erfinder, sondern nur der Verbesserer des Telefons zu sein. Der genaue Titel seines Patents lautet daher „Verbesserungen in der elektrischen Telefonie (Übertragung oder Erzeugung von Tönen zum Zweck tele- grafischer Nachrichten) und an telefonischen Apparaten“.

Allerdings ist Bell tatsächlich der erste Patentinhaber des Telefons. Dieser Umstand wird von Bell-Verehrern und der amerikanischen Historiographie als entscheidender Beweis gewertet, dass er und nicht Reis als Erfinder angesehen werden müsste. Weimer argumentiert dagegen: „Philipp Reis konnte ein rechtlich einwandfreies Patent gar nicht anmelden, denn das deutsche Patentgesetz wird erst am 25. Mai 1877 beschlossen und tritt am am 1. Juli 1877 in Kraft. Da ist Reis schon drei Jahre tot. Die USA hingegen haben ein geschlossenes Patentrecht schon länger. Das Patent-Argument ist freilich ahistorisch und legalistisch. Denn die meisten Erfindungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sind nicht durch moderne Patente kodifiziert worden – vom Buchdruck bis zur Dampfmaschine – und trotzdem erkennt man ihre geistigen Väter eindeutig als Erfinder an.“

Die Monografie soll – so Weimer – „einem großartigen Mann, dem es das Leben schwer machte, den Respekt und die Sichtbarkeit geben, den er verdient hat.“ Denn so das Fazit: Der Erfinder des Telefons heißt nicht Graham Bell, er heißt Philipp Reis.

 

Es war Reis, nicht Bell!

Stefan Groß-Lobkowicz22.11.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Wer hat das Telefon erfunden? Graham Bell, verbreitet Amerika. Stimmt aber nicht. Es war ein mittelloser Amateur aus Hessen. Jetzt erscheint die erste große Monografie zu Philipp Reis. Eine Pflichtlektüre für die deutsche Wissenschaftsgeschichte.

Es war eine lächerliche Konstruktion! Aus einer Geige, einer Stricknadel und der Blase eines Hasen bastelt Philipp Reis 1861 das erste Fernsprechgerät der Welt. Eine Jahrtausenderfindung in einer hessischen Scheune – ganz ohne Forschungsgelder oder Venture Capital, ohne Universität oder Institut, nicht einmal einen Gönner hat er.

Philipp Reis ist ein Waisenkind, dem es das Leben bitter schwer macht. Studieren darf er nicht, doch mit unbändiger Neugier-Intelligenz erkämpft er sich einen Lehrerberuf und tüftelt leidenschaftlich herum. Dabei erfindet er unter grotesken Umständen das Telefon, auch der Name stammt von ihm. Die Öffentlichkeit staunt, doch die Wissenschaft und die Machthaber belächeln den genialen, kreativen Amateur aus Hessen und sein vermeintliches Spielzeug. Er stirbt früh und erlebt den Weltruhm seines Geniestreichs nicht mehr. Dafür übernimmt der clevere Geschäftsmann Alexander Graham Bell in den USA die Idee, lässt sie zwei Jahre nach dem Tod von Philipp Reis patentieren und macht mit den neuartigen Telefonen Millionen. Amerika feiert Bell seither als den Vater des Telefons. Deutschland hat den wahren Vater hingegen fast vergessen.

Dieses reich illustrierte Buch gibt Antworten.

Nun spürt erstmals eine große Monografie das Leben und Wirken von Philipp Reis nach. Der Historiker und Verleger Wolfram Weimer erzählt die Lebens- und Erfindungsgeschichte minutiös und doch lebendig. Zahlreiche Archivfundstücke und wichtige Quellendokumente werden erstmals zusammen publiziert. Das reich illustrierte Buch gibt vor allem Antworten. Antworten auf die Fragen: Wie kann der nicht-studierte Waisenjunge das schaffen? Wer ist dieser Jahrhundert-Erfinder wirklich? Wieso wird „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ der erste Satz, der je durch ein Telefon gesprochen wird? Warum kann Graham Bell das Telefon nach dem Tod von Philipp Reis für sich patentieren lassen? Und wieso ist Reis in Vergessenheit geraten?

Bei der Schlüsselfrage, wer denn nun das Telefon tatsächlich erfunden hat, referiert das Buch die langjährige Wissenschaftsdebatte und ihre Argumente. Dabei wird klar, dass Bell das Telefon technisch entscheidend weiterentwickelt und vor allem erfolgreich vermarktet hat. Das Buch arbeitet interessante Details heraus, so dass Bell in seinem britischen Patentantrag gar nicht den Anspruch erhebt, der Erfinder, sondern nur der Verbesserer des Telefons zu sein. Der genaue Titel seines Patents lautet daher „Verbesserungen in der elektrischen Telefonie (Übertragung oder Erzeugung von Tönen zum Zweck tele- grafischer Nachrichten) und an telefonischen Apparaten“.

Allerdings ist Bell tatsächlich der erste Patentinhaber des Telefons. Dieser Umstand wird von Bell-Verehrern und der amerikanischen Historiographie als entscheidender Beweis gewertet, dass er und nicht Reis als Erfinder angesehen werden müsste. Weimer argumentiert dagegen: „Philipp Reis konnte ein rechtlich einwandfreies Patent gar nicht anmelden, denn das deutsche Patentgesetz wird erst am 25. Mai 1877 beschlossen und tritt am am 1. Juli 1877 in Kraft. Da ist Reis schon drei Jahre tot. Die USA hingegen haben ein geschlossenes Patentrecht schon länger. Das Patent-Argument ist freilich ahistorisch und legalistisch. Denn die meisten Erfindungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sind nicht durch moderne Patente kodifiziert worden – vom Buchdruck bis zur Dampfmaschine – und trotzdem erkennt man ihre geistigen Väter eindeutig als Erfinder an.“

Die Monografie soll „einem großartigen Mann, dem es das Leben schwer machte, den Respekt und die Sichtbarkeit geben, den er verdient hat.“ Denn so das Fazit: Der Erfinder des Telefons heißt nicht Graham Bell, er heißt Philipp Reis.

Wolfram Weimer, Der vergessene Erfinder, Hardcover 146 Seiten, CH. GOETZ-VERLAG,  ISBN: 978-3-947140-04-6, Preis: 20 Euro

Was den Maestro da Vinci mit dem Weimarer Olympier Goethe verbindet

Stefan Groß-Lobkowicz18.11.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Zwei Geister, zwei Welten, zwei Universalgenies: Der eine feierte seinen Siegeszug in der Renaissance, der andere in Zeiten von Aufklärung und Klassik. Während sich Johann Wolfgang Goethe mit seinem „Werther“ früh verewigt, war es Leonardo da Vinci, der vor 500 Jahren verstarb, mit seiner „Mona Lisa“, die ihn zur Legende werden ließ und Weltruhm einbrachte. Verzückt lächelt sie über die Jahrhunderte hinweg und bleibt doch das Geheimnis ihres Schöpfers.

Suche nach dem Prinzip der Kunst

Gleichwohl der Weimarer Olympier Johann Wolfgang Goethe und das Universalgenie Leonardo da Vinci verschiedenen Epochen entstammen, verbindet doch vieles den ehemaligen Staatsminister, Naturforscher und Italienreisenden Goethe mit dem Genie der milden Schönheit – da Vinci. Die Dinge an sich zu betrachten, zum Wesenskern vorzustoßen, die induktive Methode der deduktiven Rekonstruktion vorzuziehen – dafür standen beide gleichermaßen. Maximen der Kunst galt es zu finden – sie herauszufiltern, Sinn und Ziel ästhetischer Reflexion.

Nun waren weder Goethe und da Vinci derart gottesfürchtige Menschen, die mit dem Letzten, das alles begründet, das Göttliche Absolute allein vermeinten finden zu müssen, was die beiden hingegen vielmehr verband, war das allgemeine Gesetz in allen aufzusuchen, das Quasi-Muster, das in aller Kontingenz bestehen bleibt. Oder anders formuliert: Zur Imago Dei trat die Natur als etwas Objektives hinzu. Und Kunst war die Synthese – zum Himmel verweisend und zur Erde sich neigend. Kunst erwies sich so für beide als Abbild einer Regel, als Ausdruck von Ordnung und letztendlich rückführbar auf die Gesetze der Natur.

Der Geist der Naturforscher

Goethe war begeisterter Naturforscher und Philosophien nicht abgeneigt, die sich empirisch den Phänomen näherten, und da Vinci ein glorreicher Vertreter der Renaissance, der nicht zu Ficino und dem Neuplatonismus samt metaphysischer Supraspekulation und Negativer Theologie à la Pseudo Dionysios Areopagita oder Plotin zurückwollte, sondern zur Natur und der in ihr lebendigen Gesetze. Ganz dem Geist der Renaissance verpflichtet, galt es die Natur zu adeln, nicht zuletzt als Abbild göttlicher Harmonie und Ordnung, aber sie letztendlich auch in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und damit als autonome Kraft zu durchdringen.

Diese Gesetze freizulegen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, die Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit zu entdecken, dieser Arbeit hatte sich Leonardo da Vinci wie später Goethe hingegeben – der eine in der Literatur und Malerei, der mit Meyer nach Rubriken und Schemen suchte, um Regularien für die Kunst aufzustellen, der andere anhand tausender von Skizzen, Zeichnungen und Gewandstudien. Da Vinci war ein minutiöser Chronist seiner Ideen, ein Selbstreflektierer und Zweifler, stets und ständig in Aktion alles Faktische zu sammeln, zu skizzieren. Ein Aktionist, wenn es um die alltäglichen Dinge ging.

Diese „tägliche […] Buchführung mit sich selbst“ war auch für Goethe von großer Bedeutung, wie er 1827 gegenüber Kanzler Friedrich von Müller formulierte. Immer hatte er einen Skizzenblock zur Hand. Selbst nachts stand er auf und notierte seine Ideen, dokumentierte alles gleichwohl für die Literatur sowie die Wissenschaft.

Erfinder par excellence

Goethe entdeckte den Zwischenkieferknochen, entwickelte gegen alle Widerstände, selbst gegen Newton, seine Farbenlehre. Zeitlebens blieb er zweifelnder Neptunist, Sammler und Botaniker. Da Vinci hingegen war leidenschaftlicher Anatom, sezierte Leichname, war ein versiert-innovativer Konstrukteur von Kriegsgeräten, Vermesser der Welt und detailgetreuer Chronist der sich wandelnden Natur. Legendär seine Erfindungen wie die Taucherglocke, der Fallschirm, die Druckpumpe, die Drehbank, der Brennspiegel sowie seine Stadtentwürfe nach der verheerenden Pestepidemie von 1484/85.

Dem Leben galt es für da Vinci die Geheimnisse abzulauschen, in die Brunnenstuben hinabzusteigen. Und dies bedeutete, gemäß da Vincis Maxime von Trial and Error, induktiv zu verfahren, denn nur so vermag es der Künstler, Kunst nicht à la Aristoteles abzubilden, sondern Kunst auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen, das der Natur dann nicht nur die Geheimnisse ablauscht, sondern die Struktur der Natur selbst abbildet.

Kunst als Wissenschaft

Da Vinci penibel aufgezeichnete Tagebücher, „die Codici“, geben Auskunft über seine analytische Methode, die sich von mittelalterlicher Dogmatik und Darstellungskunst radikal verabschiedete und statt ihrer die von der Physik durchdrungene Natur nicht als Landschaftsidylle, sondern als wahrhaft durchdachte in den Hintergrund vieler seiner Bilder, so auch der „Mona Lisa“ stellte. Ein Zurück zur Antike wollte da Vinci ebenso wenig wie Goethe. Die Pracht der antiken Kunst durch Imitation von Modellen wiederzubeleben, davon hielt auch er wenig.

Imitation ist gar keine Kunst, so wird es später Goethe formulieren, wenn er dafür plädiert, dass wahrhafte Kunst lediglich eine sein kann, der die Kategorie der Erfindung, eine zweite Natur quasi, zugrunde liegt. Dies gilt um so mehr dann auch für da Vinci, denn Kunst versteht er als etwas, in der sich die Idee samt physikalischen Gesetz materialisiert hat, und die als empirische zugleich auf das Unendliche als Endliche hinausweist.

Der Publizist und Philosoph Günter Zehm ist tot

  1. November 2019 Stefan Groß-Lobkowicz Gesellschaft 0

Günter Albrecht Zehm

Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der „Die Welt“, Autor und Philosophieprofessor Günter Zehm ist im Alter von 86 Jahren in Bonn am 1. November 2019 gestorben. Zehm wurde am 12. Oktober 1933 im sächsischen Crimmitschau geboren.

Die Welt ist nicht weiß und nicht schwarz, sie hat Grau- und Zwischentöne, ein Vexier- und Farbenspiel, für das jedes Individuum in seiner Einmaligkeit und Vergänglichkeit steht. Günter Zehm spiegelte diese Ambivalenz, die Weite des Lebens in all seinen Schattierungen und Weltblicken – von ganz links bis in sein Konservativsein hinein. Aber Zehm war vor allem eins: Ein wacher, aufgeklärter Geist, der bis ins hohe Alter die Freude am Entdecken für sich bewahrte, ein Widerständler, ein Protestierer, dem es um Tatsachen und Fakten ging, der die Welt in die Tiefe hinein kritisch hinterfragte, ein hoffnungsvoller, energischer und kämpferischer Pessimist, der an das Wahre und Gute glaubte – und den Preis oft mit Stillgeschwiegenwerden bezahlen musste. Günter Zehm ließ sich nie verbiegen, war immer er selbst und seine philosophische Methodik dem Trial and Error verbunden. Abstrakte Ideengebilde à la Deutscher Idealismus waren für ihn Systeme der Realitätsverweigerung. Der lebens- und schicksalsgeschulte Zehm, der bei Ernst Bloch Assistent, später bei Adorno mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre promoviert wurde, setzte auf die Kraft des Gesunden Menschenverstandes. Leben und Philosophie, Praxis und Theorie sind in all seinen Werken nahtlos ineinander geflossen, haben sich wechselseitig durchdrungen und mit plastischer Klarheit und intellektuellem Anspruch zu wahren kleinen Kunstwerken verbunden.

Zehm war nicht nur der gelehrte Schreiber, der über ein derart breit angelegtes Wissen verfügte, das selbst seine Kritiker immer erblassen ließ. Er galt als Brockhaus auf zwei Beinen, ein lebendiges Lexikon, das buchstäblich zu jeder Thematik abrufbar war. Dieses Wissen eines Allrounders, das sich in alle Fachgebiete des Lebens hin erschöpfte, haben wir, die damaligen Studenten der Jenaer Universität, dankbar und ehrfürchtig aufgesogen. Zehm, der kurz nach der Wende Honorarprofessor an der Universität Jena wurde, eine Professur wegen erlittenem Unrecht in der DDR, war einer, der mit Leidenschaft philosophierte und der mit seinen Vorlesungsnachschriften, die in neun Büchern erschienen, sich selbst, seinem Denken und seiner Philosophie ein Denkmal gesetzt hat. Einfach und verständlich Hochkomplexes in Worte zu fassen – das war und ist eine Kunst, die Günter Zehm in Personalunion in sich vereinte.

Zehm hatte alle Widerstände des Lebens am eigenen Leib gebrochen. Als Assistent von Ernst Bloch ging er für seine offene Kritik am DDR-Staat in den Knast, wurde zu 4 Jahren Gefängnis in Waldheim und Torgau verurteilt. Verraten und verkauft von ehemaligen Freunden wegen „Boykotthetze“ im härtesten Gefängnis der Zone. Das hat ihn tief geprägt und sein Leben lang wehmütig begleitet. Es war ein Splitter in seiner Existenz, eine Kränkung und eine Demütigung eines stolzen Mannes, mit der er gekämpft, und die er kraftvoll in ein fast unüberschaubares Lebenswerk gekleidet hat. Hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel viel geschrieben – Zehm hat weit mehr an Schrifttum hinterlassen. Gut vierzig Bände könnte sein Nachlass umfassen.

Für die journalistische Welt war er eine Ikone, ganze Generationen von Schülern hatte er in die Geheimnisse des Schreibens hinein begleitet, viele von ihnen haben durch ihn Karriere gemacht – Martina Fietz, die er eingestellt hatte, hat es sogar bis zur Regierungssprecherin von Angela Merkel gebracht.

Zehm, der Ziehsohn Axel Springers – wie er zuvor Ziehsohn von Ernst Bloch gewesen ist, war so etwas wie eine Enzyklopädie des Kalten Krieges. Fast täglich publizierte er aus der Springerzentrale, schrieb Rezensionen, Leitartikel und die berühmte Pankrazkolumne seit 1975. Er ließ sich nicht von links einschüchtern, plädierte für die Deutsche Einheit, war Patriot und Universalist.

Wer ihn in eine Schublade einzusortieren suchte, wie man es nur allzu gern pflegte, wurde seinem Denken nicht gerecht. Zehm ließ sich geistig wie körperlich nicht einsperren – dafür war er geistig einfach zu überlegen, zu gebildet. Doch versucht hatte man es spätestens dann, als er zur rechtskonservativen „Jungen Freiheit“ wechselte. Jetzt galt der Denker der Freiheit als persona non grata. Darunter hatte er immer gelitten – und seine Antwort darauf: Sich-nicht-Einschüchtern-Lassen, schreiben bis zum letzten wachen Atemzug. Und dieser Devise ist er sich treu geblieben, er der Unbeugsame und Unbequeme einerseits, der warmherzige, großzügige und offene Mensch andererseits.

Doch insgeheim las man ihn, insgeheim bewunderte man ihn für seinen Mut, wie er gegen den Zeitgeist rebellierte, gegen die politische Korrektheit antrozte. Was Zehm unter dem Ladentisch schrieb, landete kurzerhand später in den Leitmedien. Immer ist Zehm, der bis zu seinem Tod zu Allerheiligen 2019 der dienstälteste und langjährigste Kolumnist Deutschlands war, am Puls der Zeit geblieben, unermüdlich und leidenschaftlich hatte er sich dem Journalismus und viele Jahre seines Lebens als Professor der Philosophie in Jena verschrieben. Ja Schreiben war seine Existenz, war das Elixier, das ihn wach und am Leben hielt, ob in der „Die Welt“, wo er Feuilleton-Redakteur und von 1977 bis 1989 stellvertretender Chefredakteur war, im „Rheinischen Merkur“ und zuletzt in der „Jungen Freiheit“.

Eine Autobiographie eines bewegten Lebens voller Unrast und Wagemut wollte er noch schreiben – auch als Hommage an seine Mutter, die nach dem Krieg die vier Kinder allein groß gezogen hat. Nun hat Günter Zehm nach einer kurzen Leidenszeit die Augen geschlossen, doch sein Vermächtnis, das er in tausenden Kolumnen und Aufsätzen der Nachwelt hinterlassen hat, bleibt lebendig – es zu bündeln, um einem großen Gelehrten, Denker und Chronisten der deutschen Teilung bis hin zu ihrem Zusammenwachsen ein Denkmal zu setzen – eine gebotene Aufgabe an die Nachfahren.

Der Seelendoktor und ambivalente politische Revoluzzer

Stefan Groß-Lobkowicz1.11.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Theodor Fontane (* 30. Dezember 1819 in Neuruppin; † 20. September 1898 in Berlin) war einer der großen deutschen Landschaftspoeten. Er ist aber auch der Anwalt der Frauen gewesen, die Emanzipation verdankt dem Neuruppiner Apotheker viel. Aber wie dachte er politisch und was ist von seiner Ambivalenz zu halten?

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Das Genie kennt keine Niederungen, das Genie spielt sie in die Universalität. Theodor Fontane, der Apotheker aus Neuruppin, dem wir einige der schönsten Erzählungen, Novellen und Romane der Weltliteratur verdanken, war vor allem eins: ein detailgetreuer Chronist seiner Zeit, einer, der die Welt mit Argusaugen in seinen Werken spiegelte, einer der in die Abgründe der Seele tief hinabblickte, einer, der an allen Fronten der Gesellschaft kämpfte, sei es als konservativer Geist, sei es als progressiver Denker , sei es als Autor, auf den der Begriff des Realismus wie kaum einen zweiten passt.

Während Kurt Tucholsky Fontane vor hundert Jahren schon für tot erklärte und als einen markierte, der aus der Zeit gefallen sei, „leicht angestaubt“, als einen altbackenen, wo „unsere Zähne nicht mehr recht beißen wollen“, hat ihn Thomas Mann wieder geadelt. Insonderheit, ja als prägende Lichtgestalt gefeiert, hatte Mann den alten Fontane und „eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkt man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ,Effi Briest‘ nicht vermissen lassen“, heißt es beim Nobelpreisträger aus Lübeck, der die nordische Welt wie einst Theodor Storm in sich aufsog, dem die Charaktere Fontanes letztendlich die Vertrautheit der Scholle bedeuteten, die so viel Stoff für die “Buddenbrooks“ boten.

Seelendoktor

Und in der Tat gibt Fontane sie, die tiefen Einblicke, die Schilderungen von Landschaften als Spiegelbilder der Seele sowie umgekehrt der Seelen als Spiegelbilder der Landschaften. Sie stehen bei ihm für poetisch-kritische gezeichnete Stimmungsbilder, die nicht wie bei Lorrain und Poussin verklären, sondern die Rauheit, die Härte, die Ungerechtigkeit des Lebens in allen seinen Schattierungen nachzeichnen. Ob „Effi Briest“ oder „Irrungen und Wirrungen“, stets bleibt es das persönliche Schicksal, das über sich auf die Missstände der Gesellschaft seine Schatten wirft, stets geht der Gang vom Kleinen in die Weite.

Der Seismograph

Fontane ist der Seismograph der Seele, er kennt ihre Banalitäten, die Unruhestände, die Schicksalslagen und erzählt sie in epischer Breite. Und gerade durch dieses Allzupersönliche gewinnt er den Leser, der sich darin auch nach 150 Jahren wie in einem bunten Garten verfängt, weil er etwas Beständiges, Ewiges, darin entdeckt, etwas das gleichbleibt – die Suche nach dem Sinn von Sein, die Wechselbäder der Emotionen, die gesellschaftlichen Bande samt ihren Fallstricken.

Die Zeiten haben sich seit Fontane verändert, aber die Stimmungslagen sind geblieben – und das macht ihn eben unsterblich, weil sich der Einzelne darin findet; sowohl in seinen Ängsten, in seinen Konventionen und im Allzumenschlichen, da seine Schriften in ihrer Fülle für das Menschsein in seiner ganzen Ambivalenz stehen.

Fontane entwirft so eine Physiognomie der Seele, der Rahmen dazu die Herbe des Nordens, die unendlichen Weiten der Mark Brandenburg, „ein weites Feld“ eben, das Fontane Schritt für Schritt durchwanderte, vor dessen Größe und geschichtlicher Bedeutung er sich in seinen „Wanderungen durch Mark Brandenburg“ tief verneigte und der brachen Landschaft so ein Stück weit Unendlichkeit schenkte. Die Mark, so Fontane, spiegelt Weltgeschichte, diese pointiert und minutiös herauszuarbeiten – eine gepflegte Leidenschaft des Vielschreibens, der erst im Alter den Glanz der Literatur ganz für sich entdeckte. Und „scheint es nicht, daß er alt, sehr alt werden mußte, um ganz er selbst zu werden?,“ schrieb Thomas Mann in seiner Hommage „Der alte Fontane“, der nur noch von Goethes „Wahlverwandten“ übertroffen werden sollte.

Nicht nur ein Reisedichter

Lange galten die „Wanderungen“ als das Œuvre schlechthin, Reiseberichte hatten während des 17., 18. und 19. Jahrhunderts Konjunktur. Und Fontane erlebte diese Renaissance noch einmal nach der Wende 1990,, er, der sich selbst als alter Briest im gleichnamigen Roman ein eindrucksvolles, weises, aber auch weites Charakterbild gezeichnet hat, als viele aus Ost und West ihren Fontane als Brevier im Gepäck den Norden Berlins durchstreiften

Doch Fontane ist mehr als ein Reisebegleiter: geblieben ist sein „weites Feld“, das  von Günter Grass 1997 als Roman vorlegte und als Fontane-Hommage verstanden wissen wollte. Das „weite Feld“ ist zum geflügelten Wort geworden und hat selbst Literaturgeschichte geschrieben.

Zwiespältiger politischer Geist

Fontane war „der Wanderer, wie er im Buche steht.“ Nicht nur die Mark hatte er durchschritten, sondern sein ganzes Leben steht für eine Wanderschaft. Während aber seine märkischen Stimmungsbilder für leidenschaftliche Kontinuität stehen, die die Liebe zur Heimat sowie die tiefe Verbundenheit mit der Kreatur in all ihren Facetten zum Ausdruck bringen, zeigt sich Fontane als Chronist des Politischen in all seiner Zwiespältigkeit.

Thomas Mann attestierte ihm einst „verantwortungsvolle Ungebundenheit“ und nannte ihn einen „unsicheren Kantonisten“. In seinem Gemüt wußte er sich nicht nur unabhängig von den „etabblierten Mächten“, sondern hielt es für thöricht, mit der Menschheit überhaupt, mit Beifall, Zustimmung, Ehren zu rechnen, als ob damit Etwas getan wäre“ heißt es im „Der alte Fontane“.

Tatsächlich war der Literat des „Der Stechlin“ in seiner Brust mehr gespalten als Thomas Mann es ihm attestiert hat. Ursprünglich Demokrat und Republikaner, 1848er-Revolutionär war er doch auch Preußen-Nostalgiker, später Konservativer, der auch kritisch auf die Judenfrage blickte.

Das traditionelle Preußen hatte er einst mit seinen „Acht Preußenliedern“ besungen und sein Herz erwärmte sich für die Märzrevolution. Drei Jahre vor seinem Tod 1898 heißt es in einem Brief an Georg Friedlaender: „Mein Hass gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen begriffen. Und die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, dass dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht voraufgehen muss, kann mich nicht abhalten, diesen Sieg des Neuen zu wünschen. […] Preußen war eine Lüge, das Licht der Wahrheit bricht an […].“

Die Ambivalenz des Theodor Fontane

Die Spannweite des Politischen hatte Fontane in ihrer ganzen Weite durchschritten. Das Revolutionäre wie das Konservative sind Facetten eines Mannes geblieben, für den es die Wahrheit zumindest im Politischen nicht gab. Er brannte sowohl für die Revolution, wie er später für die Konservativen Partei ergreifen wird. Von der liberalen „Dresdner Zeitung“ wechselte er als Mitarbeiter zum Literarischen Cabinet, das später in die „Centralstelle für Preßangelegenheiten“ umbenannt wurde. Nun stand der Revoluzzer von einst sogar auf dem Lohnzettel des Ministeriums und schrieb unter Pseudonym sowohl liberale wie konservative Artikel. Fontane wurde so zum Erfolgsgehilfen und konspirativen Drahtzieher des Staates dem er wenige Jahre zuvor noch den Krieg erklärte –  ein weites Feld eben. Ab 1861 hatte er als Journalist der stockreaktionären „Preußischen Kreuzzeitung“ dem Preußischen Staat in die Hände gearbeitet, war statt Revolutionär Stimmrohr von Adel, Thron und König, ja, wie Edgar Bauer berichtete „Agent der Preußischen Regierung.“ Patriot aber ist Fontane immer geblieben, sein politisches Changieren mag auch an die Vita Richard Wagners erinnern – vom Revolutionär und Königsfreund.

 Lausedichter

Georg Lukács nannte es „Widersprüchlichkeit“ und meinte „die untrennbare Verschlungenheit von äußerster Skepsis und naivster Leichtgläubigkeit in den Fragen des öffentlichen Lebens“. Fontane hat diese Ambivalenz des Politischen nicht geleugnet, dergestalt etwa, dass man alles in einem: für und wider Preußen, für und wider Bismarck, Junker, Bourgeois und Arbeiter zugleich sein kann. Vielmehr war er sich selbst dessen vollauf bewusst. So schrieb er an seinen Freund Bernhard von Lepel: „Man hat vor den gewöhnlichen Lumpenhunden nur das voraus, daß man wie der wittenbergische Hamlet sich über seine Lumpenschaft vollkommen klar ist.“

Politisch ist Fontane eine lokale Rumpelkammer“ geblieben. In einem Brief an seine Frau vom 8. August 1883 erklärt er dann auch seine Neigung, sich „mit den so genannten Hauptsachen immer schnell abzufinden, um bei den Nebensachen liebevoll, vielleicht zu liebevoll, verweilen zu können […] Ich bin danach Lausedichter, zum Teil sogar aus Passion; aber doch auch wegen Abwesenheit des Löwen.“

Fontane ist aktueller denn je

Nun könnte man diese Ambivalenz als widersprüchlichen Wesenszug Fontanes stehen lassen, eine Ambivalenz für die sein Leben steht – „ weites Feld eben“. Doch Resignation davon abzuleiten, da hat Fontane selbst doch so seine „Zweifel. Das mit der Kreatur, damit hat’s doch seine eigene Bewandtnis, und was da das Richtige ist, darüber sind die Akten noch nicht geschlossen, heißt es in „Effi Briest.“ Und selbst wenn es heißt: „Es ist so schwer, was man tun und lassen soll,“ der Literat Fontane hat denen – wie einst Charles Dickens mit seinem Oliver Twist – eine Stimme gegeben, die keine hatten, den Frauen, den Entrechteten und den Underdogs. Er zeichnet ihre Charaktere in aller Bescheidenheit, aber eben auch in stiller Größe und macht sie damit für die Literatur unsterblich, während sie es für die Gesellschaft noch lange nicht waren. Hier war Theodor Fontane seiner Zeit weit voraus, ein Revolutionär der Seelenlandschaft eben, der Gleichwertigkeit der Menschen, der Ungerechtigkeiten geißelte und anprangerte. Allein dies reicht schon aus, um ihn als Gesellschaftsrevolutionär zu adeln, selbst wenn er als politischer Charakter ein Wanderer auf jedwedem Terrain blieb.

Wenn die CSU 2019 über die Frauenquote streitet, so war es Fontane, der vor 150 Jahren die Rebellion der Emanzipation entfachte. Seine Liebe zu den Junkern der Mark, die er in vielen seiner Schriften verklärte, stellte er andererseits sein Gerechtigkeitsempfinden einem Frauenbild gegenüber, das entmündigt als Objekt der Männerwelt Untertan war. Die Stellung der Frau hat Fontane deutlich aufwertet, er hat sie aus dem Nischendasein in den Vordergrund gestellt und mit „Effi Briest“ ein modernes Frauenbild gezeichnet, das an den Ketten der Konventionen immer wieder scheitert. Der Drang zur Freiheit führt nicht in die Unabhängigkeit, sondern – im Fall Effis – zur sozialen Ächtung und Ausgrenzung.

Was bleibt, aber stiftet der Dichter

Und sein „ein weites Feld“ bleibt sozial und ethisch gesehen ein offener Diskurs mit sich selbst, mit der Umwelt, mit der Politik. Es steht letztendlich für die Offenheit des Denkens, für seine Brüche und Widersprüche – für etwas, das auch unsere Moderne angeht, weil auch wir gespalten, polarisiert sind. Weil wir oft doktrinär argumentieren und doch das Neue herbeiwünschen, weil wir wie Fontane beides sind: dem Traditionellen verhaftet, aber auch dem Neuen gegenüber offen, weil wir in die Zukunft blicken und doch dem Alten anhängen, weil wir ambivalent wie der alte Dichter sind – und all das macht uns Fontane zu einem Geist, dessen 200. Geburtstag wir zwar feiern, der aber an Aktualität nicht zu unterbieten ist.

 

Populismus ist nicht zuletzt eine Antwort auf den Erfolg des Liberalismus.“

von Stefan Groß-Lobkowicz20.10.2019Gesellschaft & Kultur, Innenpolitik, Medien

Ein Gespenst geht in Deutschland um – die AfD. Binnen kürzester Zeit hat es die Partei von Alexander Gauland und Alice Weidel geschafft, sich den Osten der Republik zu erobern. In einer Woche sind Landtagswahlen in Thüringen. Dort steht die AfD an zweiter Stelle hinter der Linkspartei und vor der Volkspartei CDU. Aber warum ist die Partei in den neuen Bundesländern so stark?

Der Aufstieg der AfD im Osten

Wenn im Jahr 2019 über 20 Prozent der Ostdeutschen die AfD wählen und damit der CDU und den übrigen Altparteien einen gewaltigen Schlag ins Rückenmark versetzen, mag das sicherlich seinen Grund nicht darin haben, dass das Gros der Ostdeutschen rechts ist oder rechtsradikal denkt, sondern zeigt, das der Ostler eben nicht das Establishment wählt. Von diesem hat er die Nase gestrichen voll. 40 Jahre Zwangskollektivierung und Bevormundung passen nicht zu einem neuen Freiheitsbewusstsein, das die Rebellion quasi für sich in Anspruch nimmt. Und dieser Hang zu Rebellieren, zum offenen Aufstand, hat in den letzten 30 Jahren mehr an Geltungs- und Gestaltungskraft gewonnen als verloren.

Die frühe Hoffnung auf die CDU

Die ersten demokratischen Wahlen im Osten nach dem Aufbruch ins Ungeahnte, die der friedlichen Revolution der Kerzen folgte, hatten der CDU unter Altkanzler Helmut Kohl noch einen triumphalen Sieg beschert. Die maroden Fassaden, die desolate Infrastruktur, der Kohlegeruch als Brandzeichen eines sich verrauchenden Kommunismus waren verflogen. 1990 blühte das repressive Land auf, atmete den Odem der Freiheit – zum ersten Mal nach 1933 und 1949. Die bürgerliche Opposition, die lange Zeit ein Nischendasein im leisen Kampf gegen Diktatur und Unrecht führte, erwachte. Das Land, verdammt zum jahrelang verordneten Stillschweigen, entdeckte den politischen Geist, den Mut der Veränderung, die Kraft zum Neubeginn.

Wider den grünen Zeitgeist

Parteien mit Alternativen standen plötzlich zur Disposition. Die einstigen Blockflötenparteien mit pseudodemokratischem Anstrich versanken in der Bedeutungslosigkeit. Einzig die CDU ist im Bewusstsein geblieben, stand sie doch für Wohlstand und blühende Landschaften. Charismatisch waren Politiker wie Bernhard Vogel oder Kurt Biedenkopf. Aber auch die ehemalige Blockflötenpartei SPD feierte mit Matthias Platzeck Konjunktur, während der grüne Ordnungs- und Verbotsgeist die Ostdeutschen von Beginn an lähmte. Zu viele Repressionen, Bevormundungen waren gerade denen suspekt, die sich davon emanzipieren wollten –Freiheit statt Verbotskultur grassierte damals durch die Gassen. Wie vor 30 Jahren stehen auch heute noch die Grünen für das, was man abgewählt hatte, für Maulkorb und Besserwisserei. Und selbst die Liberalen, der Neoliberalismus samt Laissez faire-Politik, rangierten nicht auf der Beliebtheitsskala im Osten im vorderen Segment, denn auch zu viel Freiheit führt, ganz wie Sören Kierkegaard einst schrieb, zu Angst. Joachim Gauck hatte dieses Phänomen jüngst auf den Punkt gebracht: „Populismus ist nicht zuletzt eine Antwort auf den Erfolg des Liberalismus.“

Anywhers versus Somewheres

Im Unterschied zu den westdeutschen „Anywhers“, den liberalen Weltbürgern, wie der Publizist David Goodhard sie nennt, verstehen sich der Ostdeutschen wohl eher als Sesshafte, als Somewheres, die sich mit Heimat und Scholle mehr als mit Globalisierung, Diversität und migrantischen Communitys identifizieren. Und darum birgt eine offene Gesellschaft auch die Gefahr in die Depression und Repression zu fallen. Denn: „Jene offene, multikulturelle Welt, die den einen die Demokratie attraktiv erscheinen ließ und lässt, hat bei anderen Ängste und das Gefühl der Bedrohung ausgelöst.“ Wenn die Progressiven „zu weit vorauseilen, erst recht, wenn sie die Interessen relevanter Mehrheiten gering schätzen, aktivieren sie die Reaktion. Demokratie aber lebt aber von der Verständigung und der Toleranz unter den Verschiedenen. Wenn die Demokratie ihr Spielfeld nicht den Verschiedenen öffnet, beginnen die Unbeachteten oder Ausgeschlossenen die Spieler von der Zuschautribüne aus zu attackieren, oder sie verlassen sogar die Bühne“, schrieb Alt-Bundespräsident Gauck jüngst.

Der Ostdeutsche als Zuschauer

Der Ostdeutsche ist, wie es einst Hans Blumenberg mit einer Metapher beschrieb, der Zuschauer, der Weite und Unbekanntes fürchtete, dem dass Zuhausein Hort von Behaglichkeit und – wie beim Griechen Hesiod – Glückseligkeit bedeutete. Während der Ostdeutsche den Schiffbruch fürchtet, lieber aus der Gemütlichkeitsecke das Drama verfolgt, riskiert der Westdeutsche mehr die Existenz, um durch den Verlust des Gewohnten eine qualitativ neue Freiheitserfahrung zu machen.

Diese verschiedenartige Sicht auf die Welt von Ost und West, von Anywhers und Someweheres, erklärte einst auch den politischen Drive zur LINKS-Partei im Osten. Paradoxerweise erlebte dabei genau die Partei, die SED-Nachfolgepartei PDS nun LINKE, eigentlich der Erzfeind genau jener, die ihren totalitären Staat selbst abgeschafft hatten, Hochkonjunktur. Sie stand jahrzehntelang für Repressalien, Überwachung, Gefängnis und Todesstrafe, für einen Überwachungsstaat, der mit perfiden Foltermethoden agierte, der Freiheit versprach, indem er die Freiheitlichen einsperrte. Für einen Staat, der ideologisierte, um mit erpresster Versöhnung dem Systemsozialismus Durchschlagskraft zu eben. Genau genommen war das System des Sozialismus nichts anderes als ein Gängelstaat, der die Freiheit einzelner zugunsten des Systemgedankens relativierte.

Der lange Weg gen Links

Nach der Einheit vor 30 Jahren drehte sich der Wind von der konservativen Kohl-Ära aber immer weiter gen links und die ehemaligen DDR-Bürger, die 1990 noch die Einheit samt Banane wollten, drifteten zur PDS. Denn diese galt als kritisches Bollwerk gegen das System von Neoliberalismus und Finanzkapitalismus, wo man die Verzweckung des Menschen nunmehr nicht mehr an die marxistisch-leninistische Ideologie gebunden sah, die Auflösung ins namenlose Kollektiv, sondern den emotionalen Ausverkauf an das Kapital witterte. Viele, die Arbeit und geistige Heimat verloren glaubten, goutierten nunmehr eine Politik, die sich Heimat, Gerechtigkeit und sozialen Frieden auf die Agenda schrieb – und die damit zum Sammelbecken für all die Abghängten und Wendeverlierer wurde.

Gerade weil die PDS und ab 2007 dann DIE LINKE für Solidarität, Mitmenschlichkeit, soziale Gerechtigkeit und sozialen Frieden standen, und weil sie sich die Partei als Anwälte des armen Mannes stilisierte, der sich durch die Irrungen und Wirrungen von Massenarbeitslosigkeit, neuer westdeutscher Bevormundung und Besserwisserei kämpfen musste, war es geradezu zwingend, dass man Gysi und Co im Osten wählte. Denn etwas hatten die Ostdeutschen begriffen: Systeme bleiben anfällig für Gleichschaltung, mediale Vormundschaft und präferieren letztendlich nicht den einzelnen Menschen in seinem Hier- und Sosein, sondern fördern nur den Lobbyismus der Mächtigen. Dass galt eben auch für die CDU, die in der Wahrnehmung vieler Ostdeutschen nichts anderes als der fortgeführte Wille zur Macht mit anderen Inhalten war und ist.

Ostdeutsche Identitätsfindung?

Dass die Ostler im Jahr 2019 in ihrer blanken Opposition nun die AfD wählen, obgleich diese letztendlich eine Partei bleibt, die insgeheim die Reichen fördert, keineswegs so sozial ist oder das Soziale fördert, mag zur Schizophrenie ostdeutscher Identitätsfindung einerseits gehören, zeigt aber andererseits auch, dass das Vertrauen in die LINKE gesunken ist. „Wir sind jetzt Teil dessen, was die AfD als Altparteien bezeichnet“ und „Den Ausgegrenzten-Nimbus hat uns die AfD einfach weggenommen,“ so der kritische Befund von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Die neue LINKE ist anders

Der moderne Linke repräsentiert nicht mehr den wertkonservativen Ossi, der einen kritisch-besorgten Blick nach Brüssel und auf die Migrationsfrage wirft, der heimatstolz und auf Werterhalt setzt, sondern der neue Linke ist der bürgerlich-gut situierte Großstädter samt Ökodenken, Bionade und dem Wunsch nach multikultureller Diversität. 400.000 Wähler hat die LINKE bundesweit an die AfD verloren. Und der Aufstieg der AfD hatte genau in dem Moment begonnen, in welchen die LINKE den Osten erst aufgegeben und dann nicht mehr verstanden hat. Solange sich die Parteispitze aus konservativen Ex-DDR-Funktionären speiste, passte die Linke zu ihren Wählern. Nun da Kipping und Co auf Coolness, Weltrettung und Antifa setzen, hat sich die LINKE im Osten, wie Gregor Gysi einst bemerkte, zu Tode gesiegt. Für Viele ist die AfD einfach die bessere Linke, nicht weil sie links ist, aber auf brennende Sozialthemen setzt, die Migration verteufelt und dem Schein nach Gerechtigkeit predigt und damit das nationalkonservative Mobilisierungspotenzial im Osten bedient.

Die Richtungsverschiebung hin zur AfD erlebt selbst die Linke-Vorzeige-Ikone Gregor Gysi hautnah, der jüngst bekannte: „ Früher habe ich im Westen oft den Spruch gehört: Sie persönlich finden wir ja ganz in Ordnung, Sie sind nur in der falschen Partei!“ „Heute höre ich den Spruch auch im Osten.“

Fünf Gründe warum die Linkspartei an Geltungskraft verliert

von Stefan Groß-Lobkowicz6.10.2019Gesellschaft & Kultur, Innenpolitik, Medien

Einst regierte die LINKE den Osten unisono und war als Kümmererpartei allgegenwärtig. Der deutsche Osten der Puls und die Partei seine Herzkammer. Doch die Windrichtung hat sich geändert, die Herzen auch: Die LINKE ist im Abschwung und verliert an Atem, ihr droht der Infarkt, wenn nicht gleich der Kollaps und die Versenkung in der Bedeutungslosigkeit. Denn wer im Osten Denkzettel verteilen will macht das schon längst nicht mehr im Links, sondern mit der AfD.

Während der letzten 20 Jahre hat die LINKE im Osten einen ewigen Sommer gefeiert, denn die SED-Nachfolgepartei trotzte nur so vor Kraft wie ein Superathlet voller Testosteron. Nun haben die Erben von Honecker und Co, die sich den hehren Sozialismus auf die Banner der Agitation geschrieben haben, den politischen Herbst eingeläutet. Nicht nur in Sachsen und Brandenburg, sondern auch in Thüringen schrumpft die einstige Volkspartei des Ostens, verkümmert wie ein welkes Blatt im heraufziehenden Herbststurm der AfD. Die Erfolgsgeschichte endete im Fiasko und die Linkspartei kämpft wie die im Herbstlaub rauschende SPD um die Zweistelligkeit. Aber warum ist das eigentlich so? Fünf Gründe für den Niedergang der LINKE.

1. Die neue LINKE ist farblos

Die LINKE lebte einst von charismatischen Persönlichkeiten alten Schlages. Die neue LINKE kleidet sich mehr denn je in Farblosigkeit und personellen Mittelglanz, versinkt im müden Strohfeuer ihrer eigenen Ideenlosigkeit. Als dieses Chamäleon hat sie den Ursprungswähler längst vergessen bzw. im Farbenwechsel haben diese die Übersichtlichkeit verloren und die scheinbar blaue neue hinzugewonnen.

Gregor Gysi und Oskar Lafontaine standen einst für eine politische Streitkultur, die nicht nur intellektuell faszinierte, die auch kampferprobt den Klassenkampf ins Zentrum stellte und sich als Anwälte der kleinen Leute geschickt zu inszenieren wussten. Die neue Linke hingegen samt ihren Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger mag zwar engagiert und couragiert sein, aber Debatte im klassischen Sinne der alten Bundesrepublik können sie nicht. Sie sind eher so eine Art Weichspülprogramm des Sozialismus, den man ihnen aber auch irgendwie nicht abnimmt. Was fehlt ist die existentielle Leidenschaft, wie sie sich einst in der Vorzeigefrau der Linkspartei, in Sahra Wagenknecht manifestierte. Die LINKE im Bundestag wirkt derzeit wie ein Auffangbecken für Karrieristen, die darüberhinaus blasse Rhetoriker sind und die Idee des Sozialismus wie einen Selbstbedienungsladen vor sich hertragen, dem man eigentlich kein Vertrauen mehr schenkt – weichgespülter Sozialismus ohne Charisma eben. Das Ganze gleicht vielmehr einer implodierenden Mischung zwischen Gebrauchtwagenverkäufer und sich selbst inszenierender Kindergartenkultur.

2. Der Gang in den Westen hat nichts genützt

Bodo Ramelow, der einzig amtierende Ministerpräsident der LINKEN, hat das Hauptproblem seiner Partei einmal als demographisches beschrieben. Das Urklientel ist im Zeitalter der Vergreisung angekommen und die alten Klassenkämpfer von einst sind längst in Rente. Der Wahlkampf hat sich quasi von der Straße ins Altenheim verschoben.

Diese Generationswende war und ist für die LINKE das größte Problem, denn das Klientel, auf das sie einst setzte, stirbt wie einst die Dinosaurier aus, was nachfolgt, wählt zumindest grün oder AfD. Der Gang in den Westen war vor Jahren die einzige denkbare Lösung des Generationenproblems – quasi das Notbeatmungszelt samt Frischzellenkur. Doch so sehr die LINKE diesen Spagat vollzogen hat, um so mehr hat sie an Wirk- und Gestaltungskraft verloren, hat ihr Ursprungsklientel abgehängt und glänzt mit einem modernisierten Sozialismus, der aber was anderes meint, als man im Osten zumindest darunter verstanden hat. Im Westen bleibt man, was linke Ideologien betrifft, so wie so immun. Als gesamtdeutsche Partei dümpelt die LINKE im Westen vor sich hin und verliert im Osten zunehmend an Boden. Sachsen und Brandenburg sind nur erste Gradmesser für einen politischen Niedergang, der mit der Thüringenwahl letztendlich den LINKEN die Rote Karte zeigen könnte.

3. Der Ursprungswähler hat die Farbe gewechselt

Die Arbeiter, sofern es von dieser Spezies noch welche im Osten nach erfolgreicher Treuhand-Sanierung gibt, haben mittlerweile die Fronten gewechselt. Denn die LINKS-Partei vertritt nicht mehr die Ränder, sondern ist selbst zum Establishment geworden, zu einem Sammelsurium von Plattitüden und fungiert als Staubsauger von Anbiederung und politischen Opportunismus. Von den Arbeitern hat sich die LINKE spätestens mit ihrer Willkommens à la Merkel verabschiedet. Denn Bleiberecht für straffällige Flüchtlinge, Genderdebatten und Fahrverbote sind in der Kernklientel verpönt. Das wusste Sahra Wagenknecht bereits vor drei Jahren als sie formulierte: „Leider verbinden heute viele mit ‚links’ etwa die Befürwortung von möglichst viel Zuwanderung oder abgehobene Gender-Diskurse, die mit dem Kampf um echte Gleichstellung wenig zu tun haben.“ Wer über das Volk hinwegdebattiert, das mussten die Kommunisten bereits vor 30 Jahren als bittere Enttäuschung wahrnehmen, verliert es.

Während die Grünen mit ihrer populistischen Verbotskultur zum Höhenflug ansetzen, weil es in der repressiv-romantischen Natur des Deutschen liegt, sich gängeln zu lassen, will die LINKE im Kampf um Deutungshoheit krampfhaft mitspielen. Und das Krampfhafte zermürbt die Partei von innen wie eine Made den faulen Apfel. Anstatt aufs Maul des Volks zu schauen, wird merkelisch adaptiert, wird der Korb der Inhalte in aller Beliebigkeit mit Aktualität gefüllt.

Was dabei herauskommt, ist ein Einheitsbrei der Austauschbarkeiten. À la Merkel werden grüne Themen wie Versatzstücke ins Rollen gebracht, ob Abschiebestopp, Gender und Fahrverbote – die Linken machen alles, um den Staus quo zu halten. Doch was sie dabei übersehen, ist, dass sie damit nicht auf der Überholspur, sondern am Standstreifen fahren. Abgeklatschtes mag zwar in der Politik immer ziehen und der Ideenklau steht ja auf der Agenda von ganz oben. Doch bei der LINKE mag das nicht verfangen. Und so ziehen die Grünen nun zwar ohne Luftballons auf ihrem elektrischen Tretroller, dem Klimakiller schlechthin, oder dem Fahrrad an der Linken vorbei, die zwar den Trabi gegen den Kleinwagen getauscht haben, aber bald wie die anderen auch kein Benzin mehr dafür finden düften, weil sie das Benzin in den Orkus der Geschichte werfen.

4. Die Personalie ist wichtiger als das Programm

Linker Parteikampf scheint nicht mehr über Inhalte, sondern nur noch über Personen zu funktionieren. Dies ist zumindest in Thüringen der Fall, wo Ministerpräsident Bodo Ramelow die Früchte von Bernhard Vogel und Co erntet. Ramelow, der derzeit einen Wahlkampf aus der Defensive macht, hat das Land geordnet und genießt Ansehen im Wahlvolk – selbst bei den stoßweise eingewanderten Wessis. Er gilt als kluger Landesvater mit dem man sich arrangiert hat. Wenn die LINKE also in Thüringen bei der Landtagswahl im Oktober mehr Stimmen als in Brandenburg und Sachsen einfährt mag das mehr an der Personalie Ramelow als am Parteiprogramm der LINKEN selbst liegen. Ramelow, der assimilierte Ossi, weiß wie das Land tickt, er ist allgegenwärtig und macht den Kümmerer. Das kommt an. Doch ob die Personalie Ramelow den Niedergang der LINKEN langfristig zu stoppen vermag, sei dahingestellt.

5. Mehr Sahra Wagenknecht

Das einzige ostdeutsche Original neben Katja Kipping ist Sahra Wagenknecht. Die einstige Philosophiestudentin aus dem thüringischen Osten, die Noch-Fraktionsvorsitzende, stand und steht für einen Neuaufbruch der Partei, weil sie sensibel die Karten mischte, die Bedürfnisse der kleinen Leute analysierte und damit den Nerv traf. Doch Wagenknecht gilt intern als Unliebsame, als Populistin, die im Mitte-Kurs der LINKE eher stört. Lieber schickt man sie in die Bedeutungslosigkeit als ihre Stimme als Gewissen Ostdeutschlands zu hören. Während unter Katja Kipping die LINKE zum Leipziger Allerei wird, hatte Wagenknecht immer den objektiveren Blick auf die Stimmungslage im Osten. Mit Wagenknecht verliert die Partei womöglich ihren rettenden Anker, der ihr zum Wiederaufstieg zur Volkspartei im Osten verhelfen könnte. Der Wagenknecht-Seismograph hatte in den vergangenen Jahren immer vor dem Bedeutungsverlust ihrer Partei gewarnt, nur hören wollte das keiner. Schade für die LINKE, die wie die SPD nun in den Keller ihrer Existenz einläuft. Es sei denn man findet wieder Persönlichkeiten im Stile von Sahra Wagenknecht.

Wir sind gut für die Energiewende aufgestellt – Interview mit Reimund Gotzel

von Reimund Gotzel29.09.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

“The European” traf den Vorstandsvorsitzenden der Bayernwerk AG, Reimund Gotzel, zum Gespräch und sprach mit ihm über den Klimawandel und die Zukunft der Elektromobilität.

Was einst die industrielle Revolution war, ist heute durch den Klimawandel veranlasst. Der Umstieg auf erneuerbare Energien. Wie stellt sich die Bayernwerk AG auf die Energiewende ein, was sind die großen Herausforderungen?

Sie haben das Stichwort genannt: Klimawandel. Das ist das große Thema. Und es ist wohl bereits fünf vor zwölf. Insgesamt kann man festhalten, dass die Menschen das erkannt haben und dass die drohenden Klimaveränderungen definitiv Angst machen. Wir sind alle gefordert, etwas zu ändern. Was das Bayernwerk angeht, lässt sich sagen: Wir können das. Gerade jetzt können wir mittels der Digitalisierung und durch die neuen Technologien Zukunft klimageschützt gestalten.

Die Energieversorgung aus klimaverträglichen Stromquellen und der daraus resultierende Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein wesentlicher Bestandteil der Energiewende. Zudem plädieren Sie für eine dezentrale Energieversorgung z.B. durch Photovoltaikanlagen auf Hausdächern oder Strom durch Biogaserzeugung. Geht es also in erster Linie um eine Stromwende?

Erneuerbare Energien sind natürlich ein wesentlicher Bestandteil, aber eben auch nur ein Teil der gesamten Entwicklung. Bislang lag der Fokus der Energiewende auf dem wachsenden Anteil der Erneuerbaren Energien. Damit haben wir leider nur eine Stromwende. Wir brauchen aber eine Strom-, Wärme- und eine Mobilitätswende und das vor allem möglichst nah bei unseren Kunden. Die Energiezukunft bauen die Menschen. Und die bauen sie dort, wo sie ihr Engagement selbst am stärksten spüren können. Dazu, da sind wir überzeugt, braucht es Gemeinschaft und gegenseitigen Ansporn. Deshalb sehen wir die Energiezukunft vor allem in den ländlichen Regionen in lokalen Energiekreisläufen, sogenannten lokalen Märkten. Energie wird vor Ort erzeugt, gespeichert und verbraucht, alles so nah wie möglich.

Die Vorgaben aus Brüssel zur Verringerung der CO2 Emissionen sind ja hochgesteckt. Man will ja gerade in der Automobilindustrie den CO2 Ausstoß um 37 % bis 2030 reduzieren. Wie bringen sie diese hohen Vorgaben auf die Straße?

Unsere ganze Arbeit zielt auf Klimaschutz: Moderne Netze, mit denen wir die Einspeisung aus Erneuerbarer Energie ermöglichen, unser Entwicklungsziel lokaler Energiekreisläufe, unsere Produkte zur Energieeffizienz, unser Energie Monitor als Kompass für den kommunalen Weg in die Energiezukunft, unser Fokus auf E-Mobilität oder unsere LED-Technologie in der Straßenbeleuchtung. All das spart letztlich CO2. Die Umrüstung auf LED bringt bei uns, im Vergleich zum Jahr 2010, 30.000 Tonnen CO2 Emissionseinsparung jährlich.

 „Wir machen Bayern mobil“, heißt ein Slogan der Bayernwerk AG. Die Zahl der zugelassenen E-Autos steigt, wenngleich nicht so rasant wie gewünscht, aber die Infrastruktur für diese Energierevolution ist noch nicht vorhanden. Was tut die Bayern AG hier?

Deutschland schlägt derzeit einen klaren Kurs Richtung E-Mobilität ein. Die Autoindustrie konzentriert sich auf diese Antriebstechnologie. Und auch wir sagen „Ja“ zur E-Mobilität. Das ist aus heutiger Sicht der schnellste Weg, um Alternativen zum Verbrennungsmotor zu schaffen. Was den Ausbau der Infrastruktur betrifft, planen wir bei der Erneuerung unserer Netze die zusätzliche Leistung für die E-Mobilität mit ein. Für das Bayernwerk-Netz zeigt uns eine Studie, dass wir mit kontinuierlichem Ausbau in 2045 soweit sind, unser gesamtes Netzgebiet für 100 Prozent E-Mobilität bereit zu machen. So könnten die rund drei Millionen konventionellen Pkw, die heute im Bayernwerk-Netzgebiet gemeldet sind, dann allesamt rein elektrisch fahren. Diese Studie setzt natürlich voraus, dass sich E-Mobilität wie wir sie heute kennen gänzlich durchsetzt. Ob das so kommt, wissen wir nicht. Auf jeden Fall macht uns der weitere Ausbau im Bereich der Netze hinsichtlich der grundsätzlichen Versorgungsfähigkeit der gesamten Lade-Infrastruktur im Bayernwerk-Netz keine Sorgen.

Diese Infrastrukturveränderung von der wir gerade gesprochen haben, betreffen ja nicht nur Ladestationen, die installiert werden müssen, sondern auch Hausanschlüsse. Man hört oft, dass strukturschwache Regionen nicht über die Kapazitäten verfügen, um ein Elektroauto zuhause zu laden, weil dann das Stromnetz des Hauses zusammenbricht. Welche Konzepte liegen hier vor, wie kann man den Stromfluss stabil halten?

90 Prozent aller in Deutschland angeschlossenen Erneuerbaren Energien sind am regionalen Verteilernetz angeschlossen – also in den ländlichen Strukturen und nicht in den städtischen. Der dadurch notwendige Ausbau und die Verstärkung der Netze haben natürlich geholfen, so dass die grundsätzliche Versorgungslage mit Ladekapazitäten im ländlichen Raum besser geworden ist. Darüber hinaus haben sie natürlich Recht, wenn man an ein Einkaufszentrum oder eine Ladestation an einer Autobahn denkt, dass das planerisch einfacher zu gestalten ist, als vielzählige Anschlüsse in der Fläche. Das ist sicher ein höherer Planungsaufwand. Andererseits muss man sehen, dass wir jedes Jahr 50.000 bis 60.000 Hausanschlüsse fertigstellen, also in Summe eine Kleinstadt ans Netz bringen. Die Planung von Ressourcen ist somit auch unser Tagesgeschäft. Bei Ladestationen muss man die Frage stellen, ob jeder immer eine Ladestation braucht, oder ob es nicht besser ist, in einem entsprechenden halböffentlichen Raum Ladestationen intelligent durch mehrere Nutzer nutzen zu lassen. Das entspannt die Kapazitätssituation deutlich. Wir sind aktuell mit der Automobilindustrie in zwei Projekten unterwegs, in denen es darum geht, dem Kunden die Freiheit über sein Ladeverhalten zu lassen, ihm aber ein Angebot zu machen, das die optimale Ausnutzung der Ladestruktur und damit auch der Netzstruktur gewährleistet.

Kommt tatsächlich die Mobilitätswende, müssen vor allem in den Städten wahnsinnig viele Ladestationen gebaut werden. Gibt es da ein architektonisches Konzept, wird das der Stadt überlassen oder spielen da die Bayernwerke bei diesem Ausbau eine wesentliche Rolle mit?

Wir versuchen auf jeden Fall, mit einem guten Beispiel voranzugehen. Die Tiefgarage unserer Unternehmensleitung haben wir so umgerüstet, dass eine Vielzahl von intelligent vernetzten Lademöglichkeiten für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorhanden ist und die Netzkapazität des Gebäudeanschlusses immer optimal genutzt werden kann. Wenn ein Mitarbeiter acht Stunden Zeit hat, dass die Batterie aufladen kann, dann können wir hier die Lastverschiebung vornehmen und tun das auch. Dieses Konzept kann man übertragen. Wir gehen davon aus, dass zum Beispiel Parkhäuser durchaus diejenigen sein können, die Ladeinfrastruktur beherbergen. Aus Kundenperspektive lautet die Frage: Wo sind die Kunden, wie mache ich es ihnen leicht, welche einfache Lösung kann ich anbieten. Eine effiziente Infrastruktur würde sich gerade in Parkhaussituationen anbieten.

Nun gibt es ja viele Kritiker der E-Mobilität, welche sich andere Alternativen wünschen würden, Wasserstoff zum Beispiel. China und andere Länder gehen weg von der E-Mobilität, da die CO2 Bilanz der Batterien sehr schlecht ist. Also von Elektroautos mit schmutzigem Strom, aus Atomkraft und Kohle aufgeladen – was macht die Bayernwerk AG anders?

Wenn wir eine Ladeinfrastruktur errichten, dann wird sie von uns zu 100 Prozent aus Ökostrom beliefert. Zugegebenermaßen ist das eine bilanzielle Situation. Andererseits bieten wir heute im Bayernwerk-Netz auch real im Durchschnitt über 60 Prozent Erneuerbare Energie.  Die in unserem Netz transportierten Energien sind schon grün. Sie stammen aus Wasserkraft, aus Photovoltaik, aus Windkraft, aus Biogasanlagen und werden durch unsere Kunden in das Netz eingespeist. Bei sehr guten Wetterlagen, guter Sonneneinstrahlung, haben wir regelmäßig Überschüsse, die wir im Moment weitergeben. Hätten wir mehr Speicher vor Ort, könnten wir das noch besser in unserem Netz und unserer Region verwenden. Auch physikalisch gesehen werden wir daher in Zukunft immer mehr grüne Energie in unserem Netz haben. Und so macht Elektromobilität Sinn. Gleichwohl bin ich niemand, der sagt, es gibt nur eine Technologie. Das ist im Moment die Technologie, die wir sehen können und die wir auch in bestimmten Einsatzbereichen in der Zukunft definitiv sehen werden.  Kurzstreckenverkehr, insbesondere auch Personenverkehr, ist für mein Empfinden an eine unveränderte batterieausgerichtete Mobilitätssituation gekoppelt. Beim Schwerlastverkehr ist das definitiv schwieriger. Hier glaube ich, ist es richtig, nicht nur eine Technologie einseitig auszubauen, sondern offen zu sein. Wasserstoff ist mit Sicherheit auch eine Entwicklungsrichtung, die wir im Mobilitätsbereich sehen werden, die wir aktuell noch nicht so intensiv begleiten, da auch die Hersteller sich auf Batteriefahrzeuge ausrichten. In unserem Fuhrpark gibt es schon seit Jahrzehnten Erdgasfahrzeuge. Aber um die CO2-Emmissionen weiter zu senken, stellen wir immer weiter auf batteriebetriebene Elektrofahrzeuge um. Im Jahr 2025 wollen wir unseren Fuhrpark mit 1.300 PkW gänzlich auf reine E-Fahrzeuge umgestellt haben.

Fragen: Stefan Groß

Wir brauchen keine Angst vor der Künstlichen Intelligenz haben

von Chris Boos28.09.2019Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

“The European” traf den Unternehmer und KI-Forscher Chris Boos und sprach mit ihm über die Künstliche Intelligenz, über Ängste und Zukunftsvisionen. Letztendlich sind, so Boos, Roboter nichts anderes als Toaster, die uns das Leben erleichtern.

Stefan Groß: Die Künstliche Intelligenz kann Menschen viel Arbeit abnehmen, denken wir im Haushalt an „Alexa“ oder in der Medizin an Pflegeroboter. Sie betonten einmal, das mit dem Einzug von KI 80% der traditionellen Arbeitsplätze wegfallen. Aber was passiert dann mit dem Menschen, der sich da über diese definiert, weil sie Sinn in seinem Leben stiftet?

Chris Boos: Nein nein, das ist viel schöner. Also wenn wir uns die Arbeit der Menschen beispielsweise in Frankfurts Büro-Außenstadt Eschborn-Süd ansehen, was sehen wir dann? Da spuckt die S-Bahn morgens früh um sieben 600 Leute aus und die gehen dann mit so einer Fresse in irgend so ein Büroraumhaus. Man kann sich dabei kaum vorstellen, dass sie glücklich sind und mit dieser Einstellung letztendlich mehr Glück oder womöglich einen noch größeren Schaden verbreiten. Ich glaube, das Schlimmste ist, dass so wenig Zufriedenheit in der Arbeit steckt, die wir verrichten. Es gibt ein paar Leute wie mich, die total in ihrer Arbeit aufgehen, aber das ist nicht die große Mehrheit. Und das liegt auch daran, weil viele nicht die Anerkennung verdienen, die sie mit ihrer Arbeit hervorbringen. Ich glaube, dass wir viel bedeutsamere Arbeit machen könnten, wenn die Maschinen erledigen, was wir jetzt selbst mühevoll und schlecht gelaunt erledigen.

Natürlich kommt sofort die Frage: Was kommt denn jetzt für die Arbeit? Das weiß keiner. Und da hat man dann eine schwierige Situation, weil wir die Zukunft nicht voraussagen können. Und dann kommt die Angst ins Spiel. Aber ich plädiere für einen Perspektivwechsel: Wenn wir all die Dinge betrachten, die wir nicht machen, Umweltschutz beispielsweise, Hilfe gegenüber Bedürftigen und Kranken, und selbst dabei nur schrittweise uns mit uns selbst beschäftigen, so sind das Dinge, die wir vielleicht in Zukunft besser ausfüllen können. Es gibt viele Dinge, die noch zu tun sind. Die ganze Angst, die geschürt wird, dass uns die Arbeit ausgeht, geht aber tatsächlich erst dann auf, wenn es tatsächlich nichts mehr zu tun gibt. Aber davon sind wir weit entfernt. Wer also heute behauptet, und ich habe noch keinen getroffen, der derart auf Drogen ist, dass die Maschinen die Zukunft übernehmen und uns damit der Arbeit entfremden, so ändert sich die Wirtschaft nicht. Menschen werden weiter, eben für andere Tätigkeiten bezahlt – und tun letztendlich Dinge, die ihnen Spaß machen. Aber jetzt erst kommen wir zum eigentlich spannenden Teil – und das hat auch etwas mit Pragmatismus zu tun: Der eigentlich spannendere Teil ist der Zukunftsteil. Ich nenne das Transitionsphase. Also wie kommt man zum nächsten Schritt? Wie kommt man von „Es sind alle Bauern“ zu „Die Menschen arbeiten in Fabriken.“ Wie kommt man zu „Die Menschen arbeiten in Fabriken“ zu „Die Menschen arbeiten in Büros.“ Die Transition ist das Spannende, weil sie das ist, was uns weh tut. Normalerweise werden zuerst alle gefeuert, irgendein paar wenige nehmen die Kohle vom Tisch und irgendwann später geben sie das Geld wieder aus und reinvestieren. Das dauert normalerweise so ein bis zwei Generationen. Diese Transitionsphasen sind meistens nicht angenehm. Also wenn man einen bösen Spruch machen möchte: Nach der industriellen Revolution haben wir zwei Weltwirtschaftskrisen und zwei Weltkriege gebraucht bis wir wieder ein stabiles System hatten. Dann kam das Wirtschaftswunder und alle hatten Arbeit. Wir sind jetzt in einer derartigen Situation, aber nicht wegen KI. KI gibt uns die Möglichkeit, quasi in diese nächste Stufe zu springen. Deshalb reden ja viele von der nächsten industriellen Revolution, ob das jetzt die vierte oder die fünfte ist, dies ist total egal. Die Frage, die dahinter steht ist: Warum sollte diesmal die Transitionsphase anders ausschauen als beim letzten Mal? Und ich glaube die Antwort hier ist relativ einfach: Weil es diese Plattform-Unternehmen gibt. Wir brauchen KI auch, um uns gegen die großen Plattform-Unternehmen zu wehren, die heute schon jedes einzelne andere Unternehmen angreifen können. Und wir müssen es, weil sie auch dem Wachstums-Diktat unterliegen. Warum macht Google selbstfahrende Autos? Weil sie in eine andere Industrie reinwachsen müssen. Warum ist Google da besser positioniert als jede andere Automobilfirma? Weil sie auch Fehlschläge ertragen können. Wenn das Auto von Google Auto nicht fährt, dann sagt der Verbraucher, na ja gut, es ist halt keine Autofirma. Wenn das Auto von BMW nicht fährt, dann lachen alle. Die haben viel bessere Chancen und die finanziellen Mittel das so oft zu machen bis es geht. Wenn wir also in dieser Welt KI vernachlässigen, dann gehören beispielsweise die nächsten Kraftwerkspatente nicht Siemens, sondern Google. Es gibt acht Plattform-Firmen in dieser Welt . Und wenn man nur drei von großen zusammennimmt, sieht man, das diese drei Firmen mehr wert  sind als alle Firmen in den Daxwerten. Also Dax, M-Dax, S-Dax zusammen. Nur drei Firmen. Das heißt, das Kapital hat seine Wette schon lange gemacht. In diesen drei Firmen steckt mehr Zukunft als in der ganzen deutschen Industrie. Und deswegen kann man es sich, wenn diese Industrie jetzt mit KI anfängt, gar nicht leisten, alle Leute vor die Tür zu setzen, sondern die einzelnen Industrien sind jetzt schon im Überlebenskampf mit den Plattformen. Die müssen das menschliche Kapital einsetzen, weil sich nur die Menschen um die Zukunft kümmern können. Maschinen kümmern sich immer nur um Status quo. Und machen den vielleicht noch ein bisschen besser, aber sie werden nie die Zukunft entwerfen.

Stefan Groß: In Sachen KI geschieht in Amerika und China sehr viel, in Deutschland nicht. Ist das eine Mentalitätsfrage?

Chris Boos: Weil wir es nicht gemacht haben. Es gibt sehr wenig Risikobereitschaft in unseren Unternehmen. Auch im Kapital gibt es wenig Risikobereitschaft. Bei uns gibt es zu wenig Gründungen. Denn man muss immer bedenken was es kostet in die Zukunft zu investieren. Das ist nicht unser Investitionsstil. Noch nicht. Aber ich glaube, das muss kommen. Und wir versuchen ja auch, so langsam aus diesem persönlichen Verantwortungsmodell zu kommen. Entscheidungen werden im Komitee getroffen. Und wir müssen uns alle einigen. Und wenn es eine schlechte Entscheidung war, muss man nicht das Ergebnis verbessern, sondern tritt, wenn man Fehler gemacht hat, einfach zurück. Diejenigen, die Fehler gemacht haben, sollten diese auch ausbaden. Aber auch hier werden wir lernen müssen, Verantwortung zu tragen und Pioniergeist wieder zu entwickeln. Deutschland war das Land mit den innovativsten Geistern, Entdeckern, Ingenieuren, weil diese Menschen Mut hatten, ihre Ideen voranzutreiben und Risiken eingegangen sind. So beispielsweise Robert Koch, der absolute Medizin-Star heute. Den würden wie heute sofort verhaften müssen.

Stefan Groß: Was macht einen KI-Pionier eigentlich aus?

Chris Boos: Am Ende des Tages ist KI ein High-Tech-Feld. Da beschäftigt man sich mit Informatik, mit Mathematik, mit Physik. Und man muss zu Lösungen kommen. Also ich verbringe noch einen sehr großen Teil meiner Zeit tatsächlich mit Algorithmen, Design und diesen Dingen. Und ich glaube, das ist auch richtig. Die Frage wäre wahrscheinlich interessanter gewesen: warum sitzt ein Mensch, der schon lange KI macht in Deutschland noch nicht im Silicon Valley? Das ist die spannendere Frage. Und ich war ja grade auf den Forschungsgipfeln, da gab es offensichtlich ein Managermagazin-Interview mit einem Gründer, der aus Deutschland nach den USA gegangen ist. Und der sagte, ich komme garantiert nicht zurück. Dort hat er einfach bessere Bedingungen. Man bekommt hier in Deutschland keine Anerkennung für sein Risiko, die Einwände sind immer „ja aber“ und dann kommt irgendwas, warum man es nicht machen kann. Es gibt sie nicht, die Freiheit tatsächlich voranzumarschieren. Auf der anderen Seite muss man sich auch überlegen, dass es hier besonders schön ist. Kinder gehen auf eine normale Schule ohne Millionäre. Wir haben hier eine unglaubliche Diversität und sind mobil schnell überall in der Welt. Es ist noch nicht alles komplett durchstandardisiert. Also das ist doch ein unglaublicher Wert, den wir haben. Und wir leben diesen nie aus und wir erzählen ihn auch niemandem.

Stefan Groß: Für die KI wird immer wieder eine Ethik gefordert. Sehen Sie das genauso oder anders gefragt: Müssen wir Roboter als ein menschliches Gegenüber anerkennen?

Chris Boos: Sie sind Philosoph oder? Würden Sie sagen, dass etwas, was keinen Willen hat, Ethik und Moral haben kann?

Stefan Groß: Naja die Frage ist doch: Wenn ich Maschinen entwickelt, die selbständig Entscheidungen treffen, dann stellt sich doch die Frage nach der Verantwortung, wenn es schief geht, wenn ein selbstfahrendes Auto beispielsweise jemanden tötet. Wer ist da verantwortlich – die Maschine?

Chris Boos: Der Hersteller ist doch klar, das finde ich ist völlig unstrittig. Aber wirklich ethisch moralisches Verhalten kann man doch von solchen Kisten gar nicht erwarten. Die machen das, was die Gesellschaft vorgibt. Ein Beispiel – das autonome Fahren. Da wird man immer gefragt: Wenn das Auto tötet, soll es lieber das Kind oder die Oma umfahren? Gehen wir zwei Schritte bei der Beantwortung der Frage zurück: Erstens, was würdest du machen, wenn du im Auto sitzt? Also dann haben die Leute die Ausrede, dass sie sagen, so schnell kann ich gar nicht reagieren. Und was man wirklich macht ist das, und dies ist vergleichbar mit einem Affengehirn, dass das schon seit tausenden von Jahren macht, was am unschädlichsten für einen selbst ist. Das ist nicht notwendigerweise richtig, aber so etwas wie ein antrainierter Instinkt. Aber interessanter wird die Frage, wen das Auto überfährt. HIer gibt es vor dem Hintergrund der Kultur betrachtet ganz  verschiedene Antworten, die für uns in Europa merkwürdig klingen, aber in anderen Kulturen völlig normal sind. Nehmen wir mal an, wir kommen aus Indien. Da ist die Entscheidung sehr einfach, da fährt man das Kind platt. Weil das Alter die Erfahrung hat und man immer genug Kinder hatte. Und das wird philosophisch dadurch begründet, dass man das Alter wertschätzt. Anders verhält es sich in Brasilien. Da fährt man die Oma platt. Warum? Weil man eine Philosophie der Nomaden hat und die Alten den Stamm behindern. Die Alten sind hinderlich, die müssen gehen und sie treten freiwillig ab. Und jetzt zu Europa. Hier dürfen wir diese Entscheidung gar nicht treffen, weil alles Leben gleich viel wert ist. Hilft nur noch eins, Immanuel Kant: Es gibt Zufall. Also wenn man das wirklich einmal durchdenkt, dann ist die korrekte westliche Moralvorstellung von einem selbstfahren Auto, was eine Entscheidung treffen muss, zufällig. Das wäre das einzig richtige. Wollen wir das aber, wenn der Zufall auch den Insassen treffen kann? Das ist eine andere Sache und das ist nicht etwas, das Maschinen entscheiden dürfen. Wir sind es, die die Entscheidung treffen.

Die Diskussion über Ethik und Moral ist hoch wichtig. Aber der Versuch, diese an ein paar Programmierer abzudrücken ist nicht legitim. Wir haben heute andere große Probleme: Fremdenhass, Umweltprobleme, eine Doppelmoral, die einerseits fremdenfeindlich ist, andererseits aber Mitleid empfindet, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Da tauchen wirklich moralische Fragen auf. Das können Maschinen nicht lösen. Maschinen haben keine Ziele. Die setzen um, was wir wollen. Und wenn wir wollen, dass sie alte Leute wie Meterware behandeln, dann machen die das auch. Ich persönlich bin kein Freund von Pflegerobotern. Das werden sie auch so nicht in Europa finden, weil wir Menschlichkeit mit Alter verbinden. In Japan zum Beispiel gibt es viele Freunde von Pflegerobotern, weil die Philosophie in Japan eine andere ist. Dort wollen die alten Leute den Jüngeren nicht zur Last fallen. Die finden Roboter ok. Übrigens ist es für die Pflege ganz interessant: Roboter erzeugen viel weniger Daten, die man mit Sinnesorganen aufnehmen kann als Menschen. Das heißt Leute, die geistige Schwierigkeiten haben, also bei Alzheimer oder Demenz, die wollen und können sich nicht überfordern lassen. Roboter machen sie nicht so aggressiv wie das Pflegepersonal, denn das Auge liefert mit gleicher Bandbreite, aber das Gehirn kann es nicht mehr verarbeiten. Sie haben lieber mit Robotern zu tun, weil die sie nicht so sehr überfordern. Aber in Wirklichkeit sind diese Roboter nichts anderes als Toaster.

Fragen: Stefan Groß

Der Alt-Bundespräsident als Rebell und Verfassungspatriot

von Stefan Groß-Lobkowicz22.09.2019Gesellschaft & Kultur, Innenpolitik, Medien

Vom Theologen im Betonkommunismus, vom politischen Underdog und Außenseiter zum ersten Repräsentanten der Republik – eine Bilderbuchkarriere für eine ostdeutsche Biographie. Und dennoch war dies eine die keinesfalls stromlinienförmig verlief, die Ecken und Kanten hatte. Denn immer gab es gravierende Einschnitte: Stasibespitzelung, Verhaftung und Verschleppung des Vaters in russische GuLags. Gauck hatte in der DDR Opposition buchstäblich gelernt und wurde dennoch nicht zum Grabenkämpfer des Politischen, nicht zum Ignoranten, nicht zum Zyniker und Intoleranten.

Die Liebe zur Freiheit

Gauck, der gebürtige Rostocker, dem die heimatliche Scholle, die rauen Winde und die langen Weiten der Ostsee, jene herbe Frische gegeben haben, die Norddeutschen eigen ist, war im repressiven Osten ein gemäßigter Oppositioneller und als Bundespräsident einer, der scharfzüngig und klar brillierte, der gegen den Mainstream schwimmen kann und konnte, weil er es gelernt hat – all die Jahre in der DDR. Und Gauck ist darüber nicht verbittert geworden, sondern offenen Geistes geblieben, er hat den Mut der Worte, der Verbindlichkeit stiftet; er hat den Geist der Kritik verinnerlicht, der bei Unrecht die Rebellion anzündet; er trägt den Widerspruch als etwas Positives in sich, der nicht ausschließt, sondern versöhnen will; ein Politiker also der das Menschliche – wie einst Protagoras – zum Maß aller Dinge erklärt, gerade dort, an den Rändern, wo es in Abgründe zu kippen droht.

Gauck ist Aufklärer und Humanist zugleich, feiert die Aufklärung als kopernikanische Wende, die zu Freiheit und mehr Toleranz führte und den Liberalismus zum Blühen brachte. Ob John Milton, Johan-Stuart Mill, Voltaire, Montesquieu, Montaigne, Johannes Reuchlin, Sebastian Franck, Pierre Bayle, John Locke und Immanuel Kant – alle sie sind für ihn Lichtbilder, Gestirne bei der Eroberung der Freiheit. Nichts ist dem Patrioten Gauck wichtiger als dieses Bekenntnis zur Freiheit, der Geist der Toleranz letztendlich nur von der Eroberung der Freiheit her denkbar.

Toleranz qua Freiheit bleibt das Credo, seine Reichweite aber hat Grenzen, spätestens dann, wenn es um die Intoleranten geht. Hier legt Gauck sein Veto sein, denn wer nicht zur Diskurskultur fähig ist, wer den Imperativ der politischen Freiheit und Meinungspluralität diskreditiert, hat verspielt, gehört zumindest nicht in die Demokratie deren geistesgeschichtlicher Kern nun einmal die Freiheit ist. Denn Freiheit des Denken, des Meinens und des Wollens lassen sich als die Erfolgsgeheimnisse des Abendlandes beschreiben, die sich allesamt durch die Mühen der Ebenen, durch Dogmatismus und Despotismus hindurch manövriert haben und die Fackel der Demokratie entzündeten.

Der Geist Lessings

Gerade im Laizismus, in der Trennung von Kirche und Staat, sieht der evangelische Theologe Gauck dann auch die größte Leistung der Neuzeit, die der fundamentalistische Islam überhaupt noch nicht eingeatmet hat und damit in der Voraufklärung samt Scharia hängen bleibt. So feiert Gauck in Lessings Ringparabel nicht nur die religiöse Toleranz, die wechselseitige Achtung und Anerkennung gebietet, eine Toleranz die Zumutung und zivilisatorischer Prozess zugleich ist, sondern die darüber hinaus in aller Deutlichkeit den Respekt des Religiösen vor dem Staat einfordert, der als oberste Instanz religiöse Vielschichtigkeit und weltanschauliche Neutralität letztendlich und einzig garantiert. Die Geschichte abendländischer Zivilisation begreift der Theologe damit als prozessuale Entwicklung an deren Ende Freiheit und Toleranz stehen. Ob die Bill of Rights, die Französische Unabhängigkeitserklärung, die Frankfurter Nationalversammlung 1848, die Charta der Vereinten Nationen von 1945 sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 und die Deutsche Verfassung von 1949 – sie sind Fundamente der Zivilisation, an ihnen zu rütteln, kommt einer Selbstpreisgabe gleicht. Gauck ist und bleibt ein Verfassungspatriot. Der Verfassungspatriotismus ist nicht für ihn keinesfalls nur ein Theorem, sondern Lebenswirklichkeit, „wo Menschen diese Geneigtheit gegenüber der Demokratie empfinden. Sie widerlegt all jene, die den Verfassungspatriotismus für ein blasses, blutleeres Konstrukt halten, einen Notbehelf aus den Zeiten der geteilten und moralisch diskreditieren Nation.“

Links, liberal, konservativ

Sich selbst nennt Gauck einen „linken, liberalen Konservativen“, einen „aufgeklärten Patrioten“, für den Freiheit nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine Liebhaberei ist, etwas, das angeht, das tief geht, das erstritten, erkämpft werden muss. Sein Freiheitsbegriff orientiert sich binnenlogisch dann auch am Dichter und Politiker Václav Havel sowie am Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ des Sozialpsychologen Erich Fromm. „Freiheit muss erst im Kampf gegen die Hindernisse und Bedingungen, denen der Mensch ständig ausgesetzt ist, gewonnen werden,“ so zumindest versteht Fromm diese Existentialie und Gauck kann ihm hier folgen.

Kein Zeitgeist-Palaver

Dass Gauck nicht im Palaver des Zeitgeistes versinkt, Plattitüden zu einem orchestrierenden Feuerwerk aus Knallkörpern mit Schall und viel Rauch zusammenschmiedet, den populistischen Strohfeuern und radikalen Einseitigkeiten von links, rechts oder der Mitte sich opfert, zeigt auch seine klare Kante gegen Christian Wulffs geflügeltes Wort, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Diesen Satz, so Gauck, könne er nicht hinnehmen und er modifiziert diesen dann auch: „Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland. Ich habe in meiner Antrittsrede von der Gemeinsamkeit der Verschiedenen gesprochen. Dahinter steckt eine Vorstellung von Beheimatung nicht durch Geburt, sondern der Bejahung des Ortes und der Normen, die an diesem Ort gelten. Jeder, der hierher gekommen ist und nicht nur Steuern bezahlt, sondern auch hier gerne ist, auch weil er hier Rechte und Freiheiten hat, die er dort, wo er herkommt, nicht hat, der gehört zu uns, solange er diese Grundlagen nicht negiert. Deshalb sind Ein-Satz-Formulierungen über Zugehörigkeit immer problematisch, erst recht, wenn es um so heikle Dinge geht wie Religion“, betonte er in einem „Zeit-Interview“.

Der Geist der Revolte

Gegen die politische Realsatire der Berliner Republik, gegen die Sprache der politischen Korrektheit, der er vorwirft, den Menschen nicht abzuholen, sondern diesen nur sprachlich einzulullen, stellt er den wachen-kritischen Geist, die Re-flektion, das kritische denkerische Korrektiv, den Geist der Aufklärung eben. Der „Geist hat seine ewigen Rechte, er lässt sich nicht eindämmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengeläute“, so schrieb es einst Heinrich Heine in seinen „Reisebildern“ und der Protestant von der Ostsee kann das durch seine Vita mit Blut unterschreiben.

Gauck ist wie der Revolutionär des Vormärz ein Geist in der Revolte, die er aber nicht destruktiv, sondern positiv denkt, pragmatisch eben. Und diese Sensibilität für die Wahrheit, für das, was der Fall ist, hat Gaucks Pragmatismus auch dann wieder auf den Spielplan treten lassen, als es um einen kritischen Blick auf die Flüchtlingsproblematik im Jahr 2015 ging. Humanität bleibt ihm dabei ein Credo, doch die brennende Sorge um die Überforderung der Zukunft ebenfalls. „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich“, wie er im September 2015 betonte.

Multi-Kulti ist nicht alternativlos

Das daran gebundene Zauberwort heißt für ihn dann auch Integration, die Gauck dahingehend interpretiert, das diese – ganz im Gegensatz zum grünen Multi-Kulti – Andersartigkeit und Diversität eben nicht per se als kulturelle Bereicherung begreift, die mit ihrer Zentrifugalkraft das abendländische Weltbild, den Wertekanon, die Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit der Geschlechter wie leere Flaschen über Bord wirft, weil im Neuen der Zauber des Anfangs innewohne, sondern das hier der prüfende gesunde Menschenverstand auf den Plan treten müsse. Statt gefühlsduseliger Emotionalität und Empathie und Mitgefühl eben wieder die korrigierende Hand der Ratio: „Wenn wir Probleme benennen und Schwierigkeiten aufzählen, so soll das nicht unser Mitgefühl – unser Herz – schwächen. Es soll vielmehr unseren Verstand, unsere politische Ratio aktivieren […] So werden wir bleiben, was wir geworden sind: Ein Land der Zuversicht.“ Und dabei dürfe es „keine falsche Rücksichtnahme geben.“

Denn „Demokratie ist kein politisches Versandhaus“, sie ist „Mitgestaltung am eigenen Schicksal und sie ist Selbstermächtigung. „Ich denke“, so hieß es in seiner letzten Rede als Bundespräsident am 18. Januar 2017, „wir müssen eine Kommunikation wagen, die deutlich stärker als bisher die Vielen einbezieht und nicht nur die, die regelmäßig am politischen Diskurs teilnehmen. Austausch und Diskussion sind der Sauerstoff der offenen Gesellschaft, Streit ist ihr belebendes Element.“

Für eine „robuste Zivilität“

Gauck entkleidet die Wohlfühlrhetorik und die Flüchtlingsromantik, verteidigt Traditionelles ganz im Sinne von Odo Marquards Maxime „keine Zukunft ohne Herkunft“, die sich dieser einst auf die politischen Fahnen geschrieben hat. Die Wahrheit sei ohnehin nur die halbe, aber diese gilt es mit den Mitteln des Verstandes zu verteidigen. Und Gauck will in unsicheren Zeiten, wo die Demokratie nicht nur in Europa und Deutschland auf dem Spiel steht, das Haus wetterfest machen, was aber nur – im Anschluss an Timothy Garton Ash – gelingt, wenn wir eine „robuste Zivilität“ für die Diskussionskultur einfordern, die dem offenen Diskurs in seiner Regelogik verpflichtet ist. Von dieser Argumentationslinie aus ist Toleranz als Gebot der Stunde in alle Richtungen möglich. Allerdings sei eine Grenze dort zu ziehen, „wenn Menschen diskriminiert werden oder Recht und Gesetz missachten“.

Von der heilsamen Gabe des Gespräches

Anstelle von dogmatischer Deutungshoheit, Besserwisserei und Paternalismus fordert Gauck vielmehr ein dialektisches Miteinander von Freiheit und Rechtsstaat, einen liberalen Staat, der Sicherheit garantiert, ohne die individuellen Freiheiten einzuschränken. Streitbare und wertebasierte Demokratie, eine „unverbrüchliche, geschützte Grundlage für unsere Demokratie und einen offenen Raum, in dem Pluralität leben soll, schließen sich nicht aus, die entscheidende Trennlinie verläuft vielmehr zwischen Demokraten und Nichtdemokraten.

Doch bevor es zur Verhärtung zwischen diesen Fronten kommt, bleibt das Gespräch das Zaubermittel der offenen Gesellschaft. Dieses gilt es umso mehr in Zeiten von Populismus und Fake News als Heilmittel aufzurichten.

Das System Alexander von Humboldt

Universalgenies sind selten wie Tansanite. Doch Alexander von Humboldt, der vor 250 Jahren geboren wurde, gehörte zu dieser seltenen Spezies. Er war das komprimierte Naturwissen seiner Zeit, Förderer der Wissenschaften, ein begnadeter Zeichner, Rhetoriker und Schriftsteller. Eine Spurensuche auf einer großen Fährte, die er uns hinterlassen hat.

Allrounder wie Gottfried Wilhelm Leibnitz werden nicht so oft geboren. Und so hatte auch Alexander von Humboldt es sich verbeten, dass seine Büste bereits zu Lebzeiten neben der von Leibniz in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgestellt werde. Erst nach seinem Tod, am 6. Mai 1859, sollte es dazu kommen. Mit Alexander von Humboldt hat eine Geistesgröße vor 250 Jahren, am 14. September 1769, die Welt betreten, die seitdem von seinem Glanz zehrt. Humboldt war alles in einem: Entdecker, Abenteurer, ein hochgeschätzter Wissenschaftler und ein Mann mit Etikette.

Daniel Kehlmann hatte dem Kosmopoliten, Freigeist, Menschenrechtler in seinem Buch „Die Vermessung der Welt“ 2005 erneut in das kulturelle Bewusstsein der Deutschen geboren. Aber während der Mathematiker Carl Friedrich Gauß die Welt tatsächlich vermessen hatte, hat sie Humboldt beschrieben und in Sprache gekleidet. Sein Primärziel war keineswegs die Reduktion des Kosmos auf ein abstraktes Zahlenspiel, sondern die Welt in all ihrer Vielfalt und Farbigkeit erstrahlen zu lassen, sie gleichsam zu „erzählen“, da die Natur, so seine feste Überzeugung, gefühlt werden muss. Später ist daraus der „Humboldt-Code“ als Universalschlüssel empirischer und interdisziplinärer Forschung geworden.

Interdisziplinärer Denker

„Jeder Mann hat die Pflicht, in seinem Leben den Platz zu suchen, von dem aus er seiner Generation am besten dienen kann“, heißt es in einem Schreiben Humboldts an den französischen Astronomen Delambre. Und diese Pflicht hat sich der Berliner Sohn einer wohlhabenden preußisch-hugenottischen Familie zur Lebensmaxime gemacht. Von Berlin Tegel aus, finanziell pompös ausgestattet, eroberte er sich aus eigener Geldtasche die Welt, den Amazonas, Russland und Europa. Berlin blieb ihm eine „moralische Sandwüste, geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder“, doch Paris, London oder Madrid bedeuteten ihm alles, waren Lebenselixier eines Menschen, der den Namen Kosmopolit wie kaum ein anderer für sich in Anspruch nehmen kann. Kant erschrieb sich die Welt, ohne Königsberg je zu verlassen, Humboldt eroberte sich diese, vermaß sie als Pionier. Aus dem „kleinen Apotheker“, der seit Kindesbeinen die tiefe Neigung an die Natur verinnerlichte, der Insekten, Steine und Pflanzen um sich wie Kinder heute Legosteine versammelte, ist der wirkliche Vermesser der Welt geworden, ein Brückenbauer der Wissenschaften, ein interdisziplinärer Geist, der Kulturen und Sprachen geradezu existentiell in sich aufsog. Geblieben sind 50 Bücher, 800 Aufsätze und Essays – ein großes Vermächtnis eines begnadeten Gelehrten.

Wenn Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336 mit Recht zu den wichtigsten Texten der Renaissance zählt, die einem neuen Natur- und Weltbewusstsein das Fundament legte und als Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit gelten darf, so spannen Humboldts Reisen den Bogen zwischen Aufklärung und Moderne. Exakte Wissenschaft, Experiment, Induktion und Empirie waren die Quellen jenes Aufklärer, der nicht wie Kant und Schiller die Welt von oben deduzierte, sondern wie Johann Wolfgang Goethe vom Phänomen ausging, um zum Ganzen zu gelangen. Nicht die platonische Einheit stand am Anfang vielmehr die Vielheit in ihrer Verschiedenheit, zu der es das Übergeordnete, die Rubrik und das Schema zu finden galt. „Man könnte in 8 Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt,“ schrieb Goethe, der überzeugte Neptunist, begeistert an den Weimarer Herzog nach einem Besuch Humboldts. Und er schreibt weiter: „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen aber von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen.“

Übergeordnete Zusammenhänge zu finden war die Maxime beider, weil alles Wechselwirkung sei. Oder mit den Worten des Berliner Naturwissenschaftlers: „Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“

Auf Distanz zur Naturphilosophie

Daher verwundert es kaum, das sich Humboldt, zwar ursprünglich von der Naturphilosophie und der darin waltenden Idee der „Lebenskraft“ angezogen fühlte und seinen experimentellen physiologischen Studien zugrunde legte, da auch er davon ausging, dass es eine Kraft gibt, die allen Organismen innewohne. Doch zunehmend wurde ihm diese abstrakte Naturphilosophie à la Schelling und Hegel, die von „Lebenskraft“ und von Natur sprachen, die sich in Geist verwandelt, fremd, obskur und widersprach in ihrem mystischen Absolut- und Geltungsanspruch einem Geist, der die Dinge sezierte, sei es in der Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Botanik Zoologie, Ozeanographie und Klimatologie. Letztendlich stellte sich Humboldt ganz wie Goethe auf die Seite der Naturwissenschaft, die alle Lebensäußerungen nach bekannten Naturgesetzen zu erklären habe. In Schillers Zeitschrift „Die Horen“ verabschiedete er sich dann in seiner einzigen literarischen Erzählung „Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius“ von „Disziplinen, die sich […] in Dunkelheit hüllen“ und eine „abenteuerlich-symbolische Sprache“ sprechen und prangerte einen Schematismus an, der enger gewesen sei „als ihn jemals das Mittelalter der Menschheit aufgezwungen hat.“

Wissenschaft als Leidenschaft

Wissenschaft als Leidenschaft – dafür steht Humboldt, der bescheiden als Bergassessor im Frankenwald und im Fichtelgebirge seine Karriere begann, der den Bergbau revolutionierte und die maroden Gruben in die Gewinnzone fuhr, der die Grubenlampe verbesserte und einen Voräufer der Atemschutzmaske erfand. Dieses Genie beschrieb nicht nur die Morphologie der kryptogamen Pflanzen, widmete sich der Mykologie, der Pflanzengeographie und der tierischen Elektrizität, bevor er – ausgestattet mit zahlreichen Messgeräten wie Sextant, Fernrohr, Teleskop, Längenuhr, Barometer und Thermometer gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland –Vulkane besteigen, den Amazonas, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Kuba und Mexiko durchqueren und später bis in Altai-Gebirge vordringen wird.

Als Ziel schwebte Alexander von Humboldt eine „physique du monde“ vor, eine Darstellung des gesamten physisch-geographischen Wissens der Zeit, zu dem er mit seinen Forschungsreisen selbst entscheidend beitragen wollte. Diese Vision wurde geronnene Wirklichkeit. Sein Werk „Kosmos“, das selbst Goethes „Faust“ aus der Bestsellerliste verdrängte, hatte den Anspruch eine Gesamtschau der wissenschaftlichen Welterforschung zu liefern. Er wollte dem Leser „die Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem Zusammenhange, die Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes,“ vermitteln. Die Bände erschienen 1845 bis 1862.

1834, fast 30 Jahre nach der Südamerika- und USA-Expedition, schrieb er an Varnhagen van Ense: „Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt.“ Diese lebendige Sprache, dieser Transformationsgedanke, Komplexes in Einfaches zu übertragen, hat Humboldt einen Nachruhm eingebracht, der sich sehen lassen kann. Jenseits aller Klassen, jenseits von seinem adligen Publikum, worunter der russisch Zar als auch Könige und Akademikern zählten, bleibt der Adressat seines Wissens das einfache Volk. Ihm zu helfen, davon war Humboldt, der Mensch mit einer „Gemütsverfassung moralischer Unruhe“, beseelt, denn „Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden“.

Beförderer der Humanität

Es ist die Liebe zur Ganzheit, die ihn motiviert, immer wieder in Todesnähe bringt, zu gewagten Abenteuern treibt. Der Tod ist dabei in aller Regelmäßigkeit sein Begleiter, ob beim Fast-Erstickungstod im Bergstollen, bei spektakulären Tierabenteuern oder beim Lawinenabgang während einer Bergbesteigung in den Anden.

Aber Humboldt geht es bei all seinen Expeditionen, Analysen, Berichten und Entdeckungen nicht nur um bloße Natur, sondern eben auch um die Krone der Schöpfung derselben – den Menschen. Wissenschaft, so sein Ziel, sei Dienst am Menschen, Beförderung der Humanität, die im Plädoyer für die Gleichheit aller kulminiert. „Zweifelsohne ist die Sklaverei das größte Übel, welche jemals die Menschheit betroffen“ hat schrieb er in einem vielbeachteten und beargwöhnten Essay über Kuba. Die Menschheit könne allein positiv in die Zukunft gehen, wenn der einzelne geadelt, die Freiheitsrechte gewahrt und die Unterjocher ihre Macht verlieren. Das war purer Sprengstoff, Dynamit in den Augen vieler, die ihren Reichtum auf Kosten der Sklaverei und des Unrechts legitimierten. Humboldt, den Ethiker und Sozialrevolutionär sah man mancherorts äußert kritisch, die DDR wird ihn später zum Verteidiger der Unterdrückten hochstilisieren.

Sein Kosmopolitismus samt ethischer Fundierung orientiert sich daher an den Interessen der gesamten Menschheit, er will eine übergreifende politische Verantwortlichkeit, eine Vision, die in Anbetracht der Abholzung der Regenwälder, der weltweiten CO2-Emmissionen heutzutage wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung anmutet.

Der Globalplayer

Humboldt als Globalplayer weiß, das alles mit allem zusammenhängt, das es eine Kausalität gibt, die ein spezifisches Verknüpfungswissen benötigt, um die Einzelwissenschaften in einen Dialog zu führen. Satt Wissen als statischen Besitz eines einzelnen zu verwalten, plädiert er für ein offenes Forschungs- und Diskussionsklima, für eine Forschungsdynamik, die Entdeckungen rasant und global verbreitet und den Wissensprozess so beschleunigt, damit jeder einzelne Wissenschaftler zum Teil universalisierten Wissens werde. Und auch hier erweist sich Humboldt bereits als Pionier der Ökologie, als Klimaforscher und Wissenschaftskommunikator, der heute gegen Klimawandel-Skeptiker und Fake News Populisten energisch rebellieren würde, weil sie über dem Detail den Blick auf das große und Ganze vergessen, die globale Ausbeutung der Ressourcen wäre ihm ein Gräuel. Denn: „Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Theile des Nationalreichthums, oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maaße ausgetheilt hat. Diejenigen Völker, welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande herabsinken. Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und industrielle Künste in regem Wechselverkehr mit einander stehen, wie in erneuerter Jugendkraft vorwärts schreiten.“

Die Vision sozialer Gerechtigkeit

Damit wird klar: Humboldt hatte eine Vision von globaler Gerechtigkeit lange vor der Menschenrechts-Charta. Die Sorge um das Ganze, um die Natur und den Menschen, um seine Ökologie, ist ihm vor über 200 Jahren zur Herzensangelegenheit geworden. Derartiges sozialistisches Gedankengut, sein Eintreten für die Schwachen und Entrechteten und sein Kampf gegen soziale Ungleichheit machten Humboldt verdächtig. Ein Verteidiger der Menschenrechte war schon damals schon eine Provokation. Doch für Anklagen, Gerichtsprozesse und Gefängnis war er zu wichtig, weltweit zu sehr geschätzt, zu gut vernetzt, ein Strippenzieher, ein moderner Netzwerker, der heute twittern würde, ein Olympier der Wissenschaft und Forschung förderte. Die guten Beziehungen zum preußischen Königshaus letztendlich verhinderten Anklage und Verfolgung.

Dabei hätte dem diplomatisch besonnenen Wissenschaftler eine glänzende Karriere am preußischen Hof offen gestanden. 1810 wollte Staatskanzler Hardenberg ihn sogar zum preußischen Kultusminister berufen und nichts weniger als preußischer Botschafter im geliebten Paris hätte er werden können. Doch Humboldt der besessene und feinsinnige Liebhaber der Natur schlug die Politikkarriere aus, um nicht von seinen selbstgesetzten Zielen abgelenkt zu werden. Gelohnt hat sich der Tausch allemal. Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Pariser Académie des Sciences, zudem als Preußischer Kammerherr sowie politischer Berater, kann eine verlorene politische Karriere als Randläufigkeit gezählt werden. Und die höchste Weihe erzielte der Naturforscher 1842 als der erste Kanzler des neu gegründeten und noch heute bestehenden Ordens „Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“. Die Wissenschaft hat dem Empiriker viel zu verdanken, ob Humboldtstrom, Humboldt-Pinguine, die Humboldt-Gesellschaft und Humboldt-Akademie oder das neue Humboldt-Form – sein Name bleibt über Generationen hinweg in aller Munde. Und das zurecht.

Die AfD verändert die politische Geographie

Am 1. September wird in Brandenburg und Sachsen gewählt. Die ermatteten Volksparteien bekommen ihre Quittung für eine Politik politischer Lethargie. Die AfD pflügt seit Wochen die politische Landschaft um, aber warum hat sie so eine Macht in Ostdeutschland?

Wer das Volk ignoriert, bekommt die Quittung

Nicht wenigen im deutschen Osten ist die repräsentative Demokratie verdächtig, weil sie repräsentativ ist. Dieses Bewusstsein, das aus der ehemalig-scheinbaren Demokratie des Ostens nicht nur überlebt hat, sondern nach ihrem Untergang erst richtig erblühte, versteht unter Demokratie nicht Republik und Minderheitenschutz, sondern die Herrschaft „des Volkes“, also derer die sich für das Volk halten. Und wer von Volk spricht muss auch Volk meinen. Wenn hingegen dieses vermeint auf der Strecke zu bleiben, sind Ressentiments vorprogrammiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die alte DDR-Parteidoktrin oder um eine liberale Wertegemeinschaft handelt, die über den Willen des Volkes hinwegspekuliert, diesen quasi ignoriert. Wer nicht auf basale Nöte, Interessen und Ängste reagiert, gebiert geradezu eine Partei wie die AfD, die in Sachsen und Brandenburg die etablierten Volksparteien wie ein wilder Orkan hinwegfegt.

Demokratie haben sich die Ostdeutschen anders vorgestellt

Die Demokratie haben sich die Ostler letztendlich anders vorgestellt. Die Euphorie von einem geeinten Land hat in den letzten Jahren ihren Glanz verloren; man wollte den Rechtsstaat und hat die Demokratie mit all ihren Unzulänglichkeiten bekommen. Doch demokratische Entscheidungen, die auf Mehrheitswillen basieren, werden mit einem großen Fragezeichen versehen. Der pure Mehrheitswille gilt im Osten zumindest als verpönt, weil man dahinter systemische Zwänge wittert, die nur den Schein des Demokratischen haben. Eine derartige Demokratieauffassung stößt daher im Osten zunehmend und auf die Jahre gesehen immer mehr auf Ressentiment.

Das Vertrauen in die Demokratie schwindet

Nach der Wiedervereinigung hatten die Deutschen zwischen Insel Rügen und Sonneberg den bundesdeutschen Rechtsstaat quasi idealisiert, weil er Freiheit und Gleichheit für alle garantierte. 30 Jahre danach ist anstelle von Euphorie Resignation getreten. Der westdeutsche Kapitalismus samt parlamentarischer Demokratie, freien Wahlen und einem starken Grundgesetz zeigt sich für viele Ostdeutsche keineswegs im Gewand eines liberalen Staates, der die Rechte seiner Bürger stärkt. Weder vertraut man den Institutionen noch der gleichgeschalteten Presse, die man aus vierzig Jahren her kannte. Daher verwundert es kaum, dass die Medien in Ostdeutschland geradezu katastrophal abschneiden: Gerade einmal 29 Prozent vertrauen Fernsehen, Radio und Zeitungen, noch weniger der Justiz.

Die Rechtsbrechung stand in der DDR auf der Tagesordnung, dass aber die westdeutsche Demokratie Recht wie im Flüchtlingsjahr 2015 bricht, bedeutete für die Ostdeutschen ein enorme Unglaublichkeit, die das Vertrauen in die Grundfesten des Rechtsstaates endgültig ins Wanken brachte und die AfD auf den Spielplan hat treten lassen. Das Ursprungsvertrauen in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist seit 2015 nicht mehr ins Bewusstsein vieler zurückgekehrt. Der Rechtsstaat ist nicht mehr alternativlos und der Glaube an die Staatsgewalt bis ins Mark hinein erschüttert.

Die Romantik von 1990 ist weg

Dabei prägte 1990 noch ein Grundvertrauen die neuen Bundesbürger; es herrschte nicht nur eine sozial-romantische Verklärung über die Zukunft Ostdeutschlands als wahrhaft sozialem Alternativkapitalismus, der die Werte des Sozialen mit dem Markt, Weltveränderung inklusive, versöhnt. Soziale Marktwirtschaft und menschlich umhegter Kapitalismus galten als neu gewonnener Garant freiheitlicher Selbstverwirklichung, die die alten Gängelbande von Betonkommunismus und Entmündigung endgültig aus den grauen Gassen verjagte.

Ein Generationenproblem?

Erschwerend kommt auch nach 30 Jahren hinzu, dass das DDR Regime viele Ostdeutsche auf Jahre hin verunsichert, verängstigt, entwurzelt und atomisiert hat. Sie suchen jetzt in der „Offenen Gesellschaft“ nach Orientierung. Der polnische Philosoph Jaroslaw Makowski hat die Stimmung treffend beschrieben: „Das Problem steckt jedoch in dem, was hinter diesem äußeren Vorhang geschieht. Dort tobt, wie in der Mitte eines Sees, ein wahrer Sturm. Von Zeit zu Zeit steckt jemand ganz allein, manchmal eine Gruppe, den Kopf aus dem Wasser, schreit Fragen hinaus, schwimmt weiter oder verschwindet ganz einfach in der Tiefe. Die Menschen schreien nicht so sehr aufgrund dessen, was sie sehen, sondern eher auf Grund dessen, was sie nicht sehen, in dem sie aber weiterhin tief versunken sind.“

Die Politik muss endlich handeln

Ängste zu nehmen, mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen, die tiefere Zuwendung zu denjenigen in der Gesellschaft, die abgehängt, notleidend und perspektivlos sind, könnte neue Hoffnung und Zutrauen schaffen. Doch das bleibt die Aufgabe der politisch Verantwortlichen in diesem Land. Sollten sie es nicht schaffen, werden die Bürger wieder auf die Barrikaden gehen und die AfD wird eine neue Heimat für Menschen schaffen, die eigentlich nur wahrgenommen und gehört werden wollen, weil sie mit dem Mauerfall ein Stück Identität, Biographie und Selbstbewusstsein verloren hatten. Soweit sollte es aber nicht kommen.

 

Warum sich Konservativ- und Liberal-Sein miteinander verbinden lassen

Ob in den Medien, in der Politik oder im Freundeskreis – wer auf Traditionelles setzt wird nicht selten und oft in die rechte Ecke geschoben und verdammt. Das Prinzip der Toleranz hat in Zeiten von Fake News, neuen Ideologien und einer bis ans Unerträgliche grenzenden neu umstellten Intoleranz ein Stück weit an Geltungskraft verloren. Und gerade in diesen Zeiten lohnt sich zumindest ein An-denken des Toleranzprinzips.

Die Aura des Konservativen umflankt was Mythisches, aber auch ein müdes Abgegriffensein, ein Denken und Verweilen im Gestern; der Konservative hängt am Vergangenen, glorifiziert es und ist dem zukunftsweisendem Blick hingegen unaufgeschlossen Doch derartige Stereotypen haben sich mit Blick auf den neuen Konservativen verändert. Gleiches gilt für den Liberalen. Während er für grenzenlose Offenheit stand, für die Weite des Raums, den Individualismus und für Laissez-faire in Wirtschaft und Politik, so hat der neue Liberale begriffen, dass er die Welt nur modernisieren kann, wenn er Altbewährtes bewahrt. Die alten sich ausschließenden Kampfbegriffe sind obsolet geworden. Sie verfangen in ihrer Einseitigkeit nicht mehr.

Toleranz gegenüber Andersdenkenden

Doch nach wie vor geht die Gesellschaft zum Konservativen auf Distanz – und mag er noch so liberal sein. Das Stigma haftet wie ein altes Eisen an seiner Existenz, zieht ihn in die Abgründe einer einsamen Existenz, schmiedet ihn in die Ketten der Verdammnis. Was fehlt ist Toleranz, ein gemeinsames Auf-einander-Zugehen, eine neue Debatten- und Diskussionskultur, die das alte Lagerdenken, das gerade heute in Zeiten der höchsten Aufklärung in Wissenschaft und Technik sich zumindest auf Seiten des politischen Diskurses immer wieder und weiter verengt, was dem alten Kulturkampf zwischen Bewahrern und Erneueren eine ungeheure negative Triebkraft verleiht, die an sich total unmodern ist und die Früchte der Aufklärung, die Deutschland die letzten zweihundert Jahre nach Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant geprägt haben, vernichtet. Toleranz hingegen scheint so das Zauberwort der Stunde – und statt Spaltung geht es um Versöhnung. Und das beides sich miteinander verbinden lässt, dafür steht letztendlich unter anderem Alt-Bundespräsident Joachim Gauck Sich selbst nennt er einen „linken, liberalen Konservativen“, einen „aufgeklärten Patrioten“, für den Freiheit nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine Liebhaberei ist, etwas, das angeht, das tief geht, das erstritten, erkämpft werden muss.

Auch Gauck moniert ein politisches Lagerdenken, das sich aufschaukelt, wenn es um die Meinungsfreiheit geht, wenn der Konservative deklassifiziert und der links-grüne Liberale zum Non plus Ultra, zur Tugendinstanz, zum Heilsretter und Weltbewahrer hochstilisiert wird. Es läuft etwas mächtig schief in unserem Land, wenn sich die Prioritäten des Denkens derart verschieben, wenn sie neue Grenzen der Intoleranz aufrichten.

In seinem neuen „Toleranzbuch“ heißt es dann auch: „Wogegen ich mich allerdings wehre, ist wenn politisch Korrekte ein Monopol ihrer Ansichten im öffentlichen Raum durchzusetzen versuchen. […] Moral wird hier ein Mittel der Nötigung, Intolerant ein inakzeptables Mittel zur Durchsetzung des angeblich Guten. So können aus liberalen Anhängern einer offenen Gesellschaft, illiberale Rechthaber werden, die Pluralität einschränken.“

Toleranz, so Gauck, der in einer intoleranten DDR-Gesellschaft sozialisiert wurde, wo das Konservativ-Sein als Makel galt, als Stigma des Ewig-Gestrigen begreift Toleranz damit auch nicht als Tugend allein, sondern als ein Gebot der politischen Vernunft, die er jeder Form des Extremismus als Korrektiv und Imperativ gegenüberstellt. Toleranz ja, aber bitte keine gegenüber Intoleranten. So wird für Gauck Toleranz zudem, was sie auch sein muss, zu einer Zumutung. Sie wieder zu erlernen, auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, gebiert die Vernunft, die durch die Extreme des dunklen 20. Jahrhunderts hindurchgegangen ist. Und wer diese Toleranz, auch gegenüber dem Konservativen, missbraucht, der stellt letztendlich auch die Demokratie in Frage, die derzeit nicht nur in einem nach rechts rückendem Europa, sondern auch in einem deutlich rechtslastigem Deutschland mehr denn je auf dem Spiel steht.

Persönliche Anmerkung

Als Ostdeutscher mit österreichisch-katholischem Hintergrund, als Priesterkind mit Flüchtlingseltern aus Böhmen und Oberschlesien, spielte der Begriff des Konservativen bereits in der DDR für mich eine Rolle. Man war entweder staatstreu oder bürgerlich-konservativ und damit per se verdächtig. Die allgegenwärtige Staatssicherheit setzte mich während des Abiturs an Nummer eins der besonders zu beobachtenden Schüler. Und spätestens dann galt ich wieder als konservativ, als ich in den Wirren der Nachwendezeit ins Priesterseminar einrückte, beseelt von der Idee eines christlichen Humanismus abendländischer Wertekultur, erweitert um die soziale Dimension des Humanen, eines toleranten Christentums also, das die Weite der Philosophie, auch Karl Marx, die utopischen Sozialisten und die englischen Aufklärer in sich aufgesogen hatte. Und dennoch habe ich die Freiheit nicht verleumdet, bin liberal und aufgeschlossen geblieben. Votiere für die Rettung des Klimas, was mich als Liberalen auszeichnet, will diese aber nicht durch eine Verbotskultur, was mich zum Konservativen macht. Ich votiere aus meiner in DDR-sozialisierten Erinnerungskultur für eine plurale, offene Gesellschaft, jedoch nicht um den Preis des Ausverkaufs der abendländischen Wertekultur zugunsten des Multikulturalismus, der Nation und Geistestradition aus den Geschichtsbüchern streicht und stattdessen die Sprache genderisiert, die Abtreibung legalisiert und die aktive Sterbehilfe als den letzten Akt der Mündigkeit glorifiziert. Und als ehemaliger alter und neuer Konservativer bin ich sogar links, wenn es darum geht, sich gegen die Ungerechtigkeit und eine schier aufklaffende Differenz zwischen arm und reich aufzurichten, gegen eine Welt der Extreme, die zu Lasten der Schwachen geht. Aus versehen links. Gerade diese explosive Mischung aus konservativ, liberal und links steht meines Erachtens für eine qualitative Erweiterung des Wissens, für ein Wissen der Weite, das verschiedene Denktraditionen miteinander synthetisiert und sich damit zu einem Geschichtsbild fügt, das für eine Erweiterung des Vernunftbegriffs plädiert, für einen Synkretismus, der Tradiertes kritisch prüft und die Puzzle zu einem neuen System oder Weltbild zusammenfügen will. Joseph Ratzinger, Papa Emeritus, hat es einmal in dem Text „Glaube zwischen Vernunft und Gefühl“ so formuliert: „Der Radius der Vernunft muss sich wieder weiten. Wir müssen aus dem selbstgebauten Gefängnis wieder herauskommen und andere Formen der Vergewisserung wieder erkennen, in denen der ganze Mensch im Spiel ist.“

Der liberal-konservative Denker verkörpert dies in persona; er ist Brückenbauer, der Konträres miteinander harmonisiert, dessen Blick offen nach hinten und vorn bleibt, der eine neue Qualität des Denkens kreiert, weil er die Welt in ihrer Verschiedenheit als harmonisches Ganzes betrachtet. Und genau das macht ihn für die Gesellschaft unverzichtbar.

Für eine neue Aufklärung in Zeiten der Unvernunft

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hat ein Buch über Toleranz geschrieben. In Zeiten von Fake News und Gegenaufklärung sieht er im toleranten Miteinander den einzigen Ausweg aus einer gespaltenen Gesellschaft.

Joachim Gauck ist so etwas wie der gefühlte Bundespräsident der Herzen – und dies über seine Amtszeit im Schloss Bellevue hinaus. Der im Osten sozialisierte Pastor war in der Reihe der deutschen Bundespräsidenten sicherlich einer, dem man mehr vertraute, dem man zuhörte, weil er anders als seine Vorgänger nicht Ökonom oder Jurist, sondern protestantischer Theologe war, also per Passion einer der Empathie hat, der Vertrauen stiftet, auf den man hört, dessen Stimme gewichtig ist.

Der Bundespräsident der Mitte

Der elfte Bundespräsident ist nie ein weichgespülter Bürokrat gewesen, erwuchs nicht der Parteielite, verbog sich nicht im Ränke- und Machtspiel, blieb eigenständig denkend, ein Mensch mit Gesundem Menschenverstand, der sich wie einst Thomas Paine die Menschenrechte auf die Charta geschrieben hat. Und es war immer wieder Gauck, der der eher taktisch und machtpolitisch agierenden Bundeskanzlerin Merkel Paroli bot. Gauck spricht aus, was er denkt – und er mischte sich immer wieder ein. Er verteufelte Thilo Sarrazin nicht als dieser verunglimpft wurde, er unterstützte Gerhard Schröders Agenda-Politik. Sich selbst nennt Gauck einen „linken, liberalen Konservativen“, einen „aufgeklärten Patrioten“, für den Freiheit nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine Liebhaberei ist, etwas, das angeht, das tief geht, das erstritten, erkämpft werden muss.

Im Unterschied zu einer Vielzahl seiner Politikkollegen war Gauck immer überparteilich, kein Nach- und Dampfplauderer. Worte, das weiß er, sind elementare Bausteine des Gewissens, moralischer Überzeugung und Strahlkraft. Und so hatte das Wort – wie in der ganzen Tradition des Protestantismus – bei ihm immer Gewicht. Worte sind in aller Bedächtigkeit zu wählen – das weiß keiner besser als Gauck. Aber wer offen spricht, läuft Gefahr missverstanden zu werden, droht schnell aus der Wohlfühlwärme des gesellschaftlichen Miteinanders in die Eiseskälte, Isoliertheit und Einsamkeit abgeschoben zu werden.

Statt Intoleranz mehr Toleranz

Diese Intoleranz, die Abstemplung, das perfide Unterjochen Andersdenkender bleibt ihm ein Gräuel – gerade in Zeiten von Fake News und in einer Gesellschaft, die sich immer mehr polarisiert, wo die Töne rauer, unverbindlicher und rigoroser geworden sind, wo die gegenaufklärerische Leugnung von Fakten zur Tagesordnung gehört, wo der politische Gegner nicht gehört, sondern nur allzu schnell mundtot gemacht wird, ja, wo die Dialogkultur zur Entfremdungskultur geworden ist. Wo der als Rassist oder rechtsradikal diskreditiert wird, der seine Meinung sagt, wenn er Diversität nicht als neue Leitkultur anerkennen will oder diese zumindest kritisch hinterfragt.

Diese neue Intoleranz, so der Befund, der unter dem Titel „Toleranz, Einfach schwer“ in Buchform nun vorliegt, treibt Gauck um. Sie ist es, die den Zeitgeist prägt, ihn versäuert und die den ehemaligen Bundespolitiker befremdet. Gauck dagegen setzt auf einen Diskurs in alle Schichten, auf einen vertikalen, der gerade denen eine Stimme gibt, die keine haben, den Wendeverlieren, denen, die kein Gehör finden, denen, die in Parallelgesellschaften vor sich hindümpeln, über die die Geschichte wie ein kalter Windstoß weht.

Der „Spiegel“ irrt

Unlängst titelte der Spiegel „Joachim Gauck will den Begriff rechts ‚entgiften’“ im Replik auf die Buchveröffentlichung. Doch diese Anklage aus dem divers-grünen Journalismus trifft Gauck keineswegs. Irritiert eher. Denn der ehemalige Bundespräsident ist keiner, der in einer auch nur denkbaren Form rechtsaußen steht. Vielmehr geht er in kritische Distanz zur AfD, straft den Rechtsextremismus als eine Kultur der Niveaulosen ab und sieht im perfiden politischen Rechtsfundamentalismus gerade das, was seiner eigenen demokratischen Idee zutiefst zuwiderläuft. Dennoch ergreift er Partei für jene, die dem grünen Zeitgeist diametral entgegenstehen, sucht nach den Ursachen des Ressentiments und findet diese nicht nur im Abgekoppeltsein.  Was Gauck konkret beklagt, ist eine neue Intoleranz, die all jene zu ihren Feinden erklärt, die nicht derselben Meinung sind.

Wir brauchen eine neue Kultur des Miteinanders

In seinem neuen Buch „Toleranz“ heißt es dann auch: „In unserer politischen Landschaft und in unserem politischen Diskurs ist es zu einer Unwucht gekommen. Als inakzeptabel rechts werden gemeinhin schon diejenigen apostrophiert, die nicht anderes wollen, als an dem festhalten, was ihnen vertraut und bekannt ist: Konservative, die Gesetze über Abtreibung und die ‚Ehe für Alle‘ am liebsten rückgängig machen würden und das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ablehnen. Menschen, die darauf verweisen, dass schwere Straftaten bei Teilen von Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sind. Als inakzeptabel rechts gilt häufig schon, wer zu seiner Heimat eine besondere Verbundenheit empfindet und am Nationalstaat hängt.“ Gauck verwehrt sich in aller Radikalität gegen einen derartigen politischen Diskurs, der die Gleichung von konservativ und rechtsradikal, rassistisch oder nationalsozialistisch aufmacht. Denn wer sich zu Heimat und Nationalstaat bekennt, bleibt einer, der im Unterschied zum Radikalen, sei es zum islamischen Fundamentalisten, Links- sowie Rechtsextremisten, die Extreme meidet. Sein Weltbild ist nicht manichäisch auf Spaltung und Polarisierung angelegt, er hinterfragt nur kritisch, ob der Multikulturalismus tatsächlich alternativlos sei, ob er nicht zu viel Naivität und Toleranz gegenüber Intoleranten trägt, ob man fremde Kulturen, Sitten und Religionen tatsächlich ein- und ausschließlich nur als bereichernd definieren vermag, ob durch einen zügellosen Fortschritt das Gute befördert und das Schlechte gemieden wird. Wer hier Geltungsansprüche präferiert, indem er das Eigene zugunsten des Fremden, oder auch umgekehrt, verabsolutiert, gerät in Schieflage. Aber genau dieser gilt es zu entkommen, sie verfängt allein ins Negative. Die Forderung nach mehr Toleranz, nicht nur als Tugend, sondern zugleich als Gebot der politischen Vernunft, ist das, was Gauck allen Radikalen, allen Rattenfängern des Extremismus entgegenzustellen sucht, eine Toleranz die kämpferisch agiert – und weil sie den anderen in seiner Andersheit aushalten, respektieren muss, eben auch eine Zumutung sein muss. Und genau diese Zumutung, so sein Credo, müssen wir wieder lernen, denn sonst spaltet sich unsere Gesellschaft noch mehr und die Demokratie steht mehr denn je auf dem Spiel. „Toleranz ist nicht, Toleranz wird.“ Toleranz ist lernbar, setzt aber die Meinungsfreiheit voraus, die nicht nur von rechts, sondern eben auch von links derzeit bedroht wird.

Gauck schreibt: „Wogegen ich mich allerdings wehre, ist wenn das politisch Korrekte ein Monopol ihrer Ansichten im öffentlichen Raum durchzusetzen versuchen. […] Moral wird hier ein Mittel der Nötigung, Intolerant ein inakzeptables Mittel zur Durchsetzung des angeblich Guten. So können aus liberalen Anhängern einer offenen Gesellschaft, illiberale Rechthaber werden, die Pluralität einschränken.“ Oder anders gesagt: Wer nicht politisch korrekt ist, ist eben inkorrekt, wie Dieter E. Zimmer einst schrieb. Doch gerade gegen diese politische Korrektheit richtet Gauck ein Warn- oder Stoppschild auf und fordert statt Denkverboten Meinungsfreiheit.

Der revolutionäre Retter des Seins

von Stefan Groß-Lobkowicz5.08.2019Gesellschaft & Kultur, Medien

Konservative Manifeste sind derzeit en vogue, ob von der WerteUnion oder von Publizisten aus dem konservativ-liberalen Lager. Ihnen allen gemein ist ein Gegenentwurf zum vorherrschenden Mainstream wie ihn deutsche Medien und die grüne Zeitgeistkultur zelebrieren. Gemein bleibt ihnen, dass sie allesamt weder den Geist des Antiliberalen, Reaktionären, des Ressentiments, des Nationalen samt seiner grauenhaften Maske aus Nationalismus und Antisemitismus wieder aufatmen lassen oder gar beschwören, sondern vielmehr im Gebot der Toleranz, sich „gegen linke und rechte Ideologien” manifestieren.

Die abendländische Kultur ist auch eine Geschichte von Manifesten, sei es in der Literatur oder in der Politik. Keines aber war weltverändernder als Marx’ und Engels „Manifest der Kommunistischen Partei“. Mit ihm schlug die Geburtsstunde des global fundierten Sozialismus als Sozialexperiment der Extraklasse – doch seine Engstirnigkeit kostete Millionen das Leben. Während im Reich der Mitte und in Nordkorea die alten Zöpfe aus vergangen Tagen noch zelebriert werden und für Massenverelendung und Zwangskollektivierung stehen, zeigt sich im Europa nach der Aufklärung und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein anderes Bild. Der berühmt-berüchtigte Marsch durch die Institutionen, der vor 50 Jahren seinen Siegeszug feierte, ist in die Jahre gekommen. Linke Ideologien haben an Wert verloren, zu tief sitzen die Wunden der sozialistischen Experimente, der inkludierten Beton-Ideologie, der Vergesellschaftung des Individuums und der Zwangskollektivierung. Selbst die Links-Ausrichtung der CDU unter der Merkel-Ära stößt zunehmend auf Ablehnung. Das temperierte Wohlfühlklima des Mitte-Kurses, der Wertverfall, der Kulturpessimismus, die Laissez-faire-Politik in der Migrationsfrage und die säkulare Verlagerung des Religiösen in den Bannkreis der reinen Vernunft bewirkt keinen Zauber mehr und hat jedwede Strahlkraft verloren.

Die neue Sehnsucht nach den alten Werten

Anstelle von Multi-Kulti, tugendloser Freizügigkeit, antiautoritärer Gesinnung und Gender-Irrsinn ist hingegen das Konservative auf dem Vormarsch, aber eben nicht als antiliberales, antidemokratisches und antiegalitäres, sondern als „konservative Revolution“ im Sinne von Hugo von Hofmannsthal. Der Literat träumte bereits 1927 in seiner Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ von einem Transformationsprozess, der die ganze Gesellschaft umgreift, mit dem Ziel, „eine neue deutsche Wirklichkeit” zu schaffen, an der die ganze Nation teilnehmen könne.“ Schon damals beklagte Hofmannsthal, dass die „produktiven Geisteskräfte“ in Deutschland zerrissen sind, der Begriff der geistigen Tradition kaum anerkannt sei. Und Thomas Mann betonte, bevor er sich von der „konservativen Revolution“ verabschiedete, weil er darin das Aufflammen des Nationalsozialismus sah: „Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in den ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘, nichts anderes als konservative Revolution.“

Was bedeutet konservativ?

Konservativ ist diese Revolution, weil sie die Moderne als krisenhaft empfindet und eine gesellschaftliche Modernisierung aus dem Geist der abendländischen Geistestradition sucht, nicht um die Moderne zu destruieren, sondern um diese mit alten Tugenden und Werten neu zu beleben. „Zukunft braucht Herkunft“ hatte Odo Marquard in einem berühmten Essay einst geschrieben. Und bereits im Jahr 1932 charakterisierte Edgar Julius Jung die konservative Revolution als die „Wiedereinsetzung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft.“ Dass die konservative Revolution nicht nur bewahren will, sondern konstruktiv und konstitutiv für eine Veränderung der Gesellschaft wirbt und anstatt nur auf Tradiertem vielmehr auf neue „lebendige Werte“ setzt, hatte Arthur Moeller van den Bruck herausgearbeitet. „Der konservative Mensch […] sucht heute wieder die Stelle, die Anfang ist. Er ist jetzt notwendiger Erhalter und Empörer zugleich. Er wirft die Frage auf: was ist erhaltenswert?“ Aber dieses zu Erhaltende ist nach Moeller van den Bruck erst noch zu schaffen, denn konservativ sei, „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt.“

Die neue Bürgerlichkeit

Dass der Geist des Konservativen keineswegs eine unzeitgemäße Betrachtung ist, zeigte ein Gastbeitrag von Alexander Dobrindt Anfang 2018. Dort bediente sich der CSU-Fraktionschef des Begriffes „konservative Revolution“ und forderte die Stärkung einer neuen Bürgerlichkeit. Obwohl es „keine linke Republik und keine linke Mehrheit in Deutschland“ mehr gebe, so kritisierte er, beherrschten die linken 68er immer noch die Debatte. Auf einen maroden Linksruck, „auf die linke Revolution der Eliten“, müsse nunmehr eine „konservative Revolution der Bürger“ folgen.

Joachim Gauck und das Prinzip Toleranz

So sieht es nicht nur Dobrindt, so sehen es viele, die erschöpft vom linken Kulturkampf sind – auch der der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. In seinem neuen Buch „Toleranz“ heißt es dann auch: „In unserer politischen Landschaft und in unserem politischen Diskurs ist es zu einer Unwucht gekommen. Als inakzeptabel rechts werden gemeinhin schon diejenigen apostrophiert, die nicht anderes wollen, als an dem festhalten, was ihnen vertraut und bekannt ist: Konservative, die Gesetze über Abtreibung und die ‚Ehe für Alle‘ am liebsten rückgängig machen würden und das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ablehnen. Menschen, die darauf verweisen, dass schwere Straftaten bei Teilen von Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sind. Als inakzeptabel rechts gilt häufig schon, wer zu seiner Heimat eine besondere Verbundenheit empfindet und am Nationalstaat hängt.“ Gauck verwehrt sich in aller Radikalität gegen einen derartigen politischen Diskurs, der die Gleichung von konservativ und rechtsradikal, rassistisch oder nationalsozialistisch aufmacht. Denn wer sich zu Heimat und Nationalstaat bekennt, der dezidiert Konservative also, bleibt einer, der im Unterschied zum Radikalen, sei es zum islamischen Fundamentalisten, Links- sowie Rechtsextremisten, die Extreme meidet. Sein Weltbild ist nicht manichäisch auf Spaltung und Polarisierung angelegt, er hinterfragt nur kritisch, ob der Multikulturalismus tatsächlich alternativlos sei, ob er nicht zu viel Naivität und Toleranz gegenüber Intoleranten trägt, ob man fremde Kulturen, Sitten und Religionen tatsächlich ein- und ausschließlich nur als bereichernd definieren vermag, ob durch einen zügellosen Fortschritt das Gute befördert und das Schlechte gemieden wird. Wer hier Geltungsansprüche präferiert, indem er das Eigene zugunsten des Fremden, oder auch umgekehrt, verabsolutiert, gerät in Schieflage. Während der konservative Patriot also abwägt, reflektiert, Tradiertes und Modernes, so, wie es Andreas Rödder fordert, in Einklang zu bringen sucht, um den Wandel verträglich zu gestalten, Bewährtes zu bewahren und Reformbedürftiges zu verbessern, der sucht nur nach dem besseren Argument, nach dem Maß wie einst Aristoteles forderte, oder wie es Robert Spaemann formulierte: dass der die Begründungspflicht trägt, der Tradiertes in Frage stellt.

Freiheit statt Nannystaat

Toleranz des Konservativen und umgekehrt gegenüber demselben bleibt so eine Zumutung, ein Korrektiv, das zu Versöhnung aufruft. In genau diesem Sinne votiert auch der Alt-Bundespräsident, dafür, dass es verantwortungslos sei, wenn Fortschrittsideologen den Konservativen, statt ihn als Verbündeten im Kampf gegen Rechtsextremismus zu sehen gleich mit zum Feind erklären. Genau dies widerspricht Gaucks Credo, Toleranz nicht nur als Tugend, sondern eben als Gebot der politisch-praktischen Vernunft zu begreifen. Gauck hält wie Norbert Bolz nichts vom Nannystaat samt Identitätspolitik, die statt zu versöhnen nur spaltet. Denn wem politische Korrektheit zur allumfassenden und absoluten Maxime politischer Verantwortlichkeit wird, errichtet eine neue Diktatur, sei es eine grüne „Tugendrepublik“ oder eben jenen modernen Paternalismus, der die Freiheit des Einzelnen aufs Spiel setzt, Erich Fromms „Furcht vor der Freiheit“ geradezu kultiviert. Denn durch diesen Bemutterungskomplex werden destruktive Kräfte freigesetzt, die nicht nur das Individuum, sondern auch die Freiheit als Ganze beschädigen. Aber diese Freiheit gilt es ja zu retten – auch gegen die Tyrannei der Mehrheit wie John Stuart Mill in „On Liberty“ deklarierte. Der liberal Konservative weiß: Die Freiheit bleibt das Maß aller Dinge und sie gilt es gegen ihre Verächter zu schützen. Und so wird er immer gegen Intoleranz, politische Eindimensionalität und Konformismus rebellieren. Er ist in Wahrheit kein Reaktionär, sondern ein Revolutionär.

Das Gute, Wahre und Schöne

Konservative Manifeste sind derzeit en vogue, ob von der WerteUnion oder von Publizisten wie Wolfram Weimer aus dem konservativ-liberalen Lager. Ihnen allen gemein ist ein Gegenentwurf zum vorherrschenden Mainstream wie ihn deutsche Medien und die grüne Zeitgeistkultur zelebrieren. Gemein bleibt ihnen, dass sie allesamt weder den Geist des Antiliberalen, Reaktionären, des Ressentiments, des Nationalen samt seiner grauenhaften Maske aus Nationalismus und Antisemitismus wieder aufatmen lassen oder gar beschwören, sondern vielmehr im Gebot der Toleranz, sich „gegen linke und rechte Ideologien” manifestieren. Der liberal-konservative Geist hat die Aufklärung eingeatmet, bekennt sich freimütig zu Verfassungstreue, Rechtsstaatlichkeit, zum Laizismus und zu den bürgerlichen Werten, die den Geist einer aufgeklärten Vernunft in sich tragen. Der wirkliche Patriot bleibt der heimatlichen Scholle treu, er ist dennoch Supranationalist, er fühlt sich der Heimat verbunden, ohne sein Vaterland zu glorifizieren und ohne andere Nationen herabzusetzen.

„Keine Zukunft ohne Herkunft“ hatte bereits Odo Marquard zur Maxime erklärt. Und genau diese Maxime gehört zum Existenzkanon der Konservativen, der dabei immer wieder auf den alten Tugendkanon, auf die geistige Renaissance von antiker Philosophie, römischem Rechtsglauben und christlicher Wehr- und Werthaftigkeit, auf die vorpolitischen Grundlagen des säkularisierten Rechtsstaates also setzt. Und so befeuert er die Quellen der abendländischen Zivilisation, wie sie ihre Blüte in Jerusalem, Athen und Rom entfalteten, in der Gottesebenbildlichkeit und der unveräußerlichen Menschenwürde als dem A und O des Politischen und Ethischen. Aus dem Geist des Christentums erwachsen, ist der wahre Konservative dabei ein energischer Streiter gegen jedweden Utilitarismus, der den Menschen auf seine bloße Materialität verkürzt und ihm dadurch die Ressource Sinn als Existential abspricht.

Wir brauchen wieder mehr Sinn und Religion

Mit wachem Auge sehen viele liberale Konservative, dass in einer Welt globaler Raserei Entschleunigungskräfte freigesetzt werden, die es wieder erlauben, ja dazu zwingen, erneut nach dem Sinn von Sein zu fragen, nach der Eigentlichkeit, die dem Menschen so wesensmäßig ist, und die zu vergessen, ihn auf einen puren Materialismus reduzierten. Genau gegen diesen gilt es zu streiten, um eine neue Sinnfülle aufzurichten, die existentielle Kategorien wie Identität, Geborgenheit und neoreligiöse Sehnsucht wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Der Konservative weiß, wenn Gott tot ist, bleibt allein der „letzte Mensch“ Nietzsches übrig. Und wenn das Anti-Religiöse seinen Siegeszug forttreibt, erobert sich das Säkulare Himmel und Erde weiter. Und genau vor diesem Hintergrund plädiert er für eine Renaissance des Religiösen, die nicht nur Nietzsches „Gott-ist-tot-Ideologie entgegentritt. In Zeiten von Anything Goes und Säkularisierung kann eine kulturelle Erneuerung nur mit einer Renaissance des Religiösen Hand in Hand gehen. Damit wird die christliche Religion zur „Wirkungsgrundlage“ der freiheitlichen Demokratie. Sie ist das kritische Korrektiv, eine Gegenmacht zugleich, die Ideologien zu Fall bringt. Und darum gilt es aus ihren Wassern neue Kraft und neuen Sinn zu schöpfen.

„Konservatismus ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt“, schrieb einst Antoine de Rivarol. Der wahre Konservative will nicht zurück in die Steinzeit, in Voraufklärung und Absolutismus, nicht ins Zurückgewandte und Ewig-Gestrige, sondern steht für eine Reform der Gesellschaft aus dem Geist der abendländischen Wertekultur. Er ist kein Modernisierungsverächter und Maschinenstürmer, sondern kultiviert vielmehr auch Retardierungsmomente, die in einer Kultur des Bewahrens münden. Er pflegt die Bande seiner Herkunft, verteidigt die Identität seines Kulturkreises und Europas und bleibt dennoch offen, für das, was kommt. Er ist Bewahrer und Hüter des Seins, aber auch ein „bekennender Neugieriger des Fortschritts, dem nicht nur die Natur des Menschen, die Ökologie wie Benedikt XVI. betonte, schützenswert ist, sondern der die Bewahrung der Schöpfung als „urkonservative Aufgabe begreift, wie unlängst, ein anderer Bayer, der Ministerpräsident des Freistaats, Markus Söder betonte.

Das Internet macht doch nicht unsterblich

Wer hofft nicht auf Unsterblichkeit, auf das ewige Leben? Es bleibt seit Menschheitsgedenken ein Traum.

Wer hofft nicht auf Unsterblichkeit, auf das ewige Leben? Es bleibt seit Menschheitsgedenken ein Traum. Seit dem Rauswurf aus dem Paradies hat sich der Mensch bei der Vermessung seiner zeitlichen Individualität diesen zur Signatur seiner Existenz gemacht. Platon sah die Unsterblichkeit der Seele als Katharsis von aller materiellen Endlichkeit und der Grieche Plotin die intellektuelle Ekstasis als ein Eins-mit-Gott-Werden. Ägyptische Pharaonen bauten gigantische Pyramiden als Zeichen ihrer Unendlichkeit und der erste chinesische Kaiser, Qin Shihuangdi, errichtete als Megaprojekt seiner Erinnerungskultur die chinesische Mauer. Alexander der Große gründete ein bis dahin nie gekanntes Weltreich und die Massenvernichtungsmaschine Adolf Hitler hatte mit seinem Architekten Speer den gigantischen Traum von der Welthauptstadt „Germania“. Selbst der französische Präsident François Mitterand hinterließ als futuristisches Erbe seine Megabauprojekte in Paris. Die Spuren mit Unendlichkeitsanspruch waren und sind vielfältiger Natur. Ob in der Kunst, auf dem Schlachtfeld oder in der Literatur – mit all seinen Kulturschöpfungen wollte der Mensch im Gedächtnis der Nachwelt bleiben, im Bewusstsein von Generationen verankert, weiterleben.

War es bei den Griechen die unsterbliche Seele, bei den Christen die Auferstehung samt Jüngstem Gericht oder bei vielen anderen Religionen der Gedanke der Reinkarnation – unsterblich wollten sie alle sein oder zumindest werden. Göttergleich wähnte sich der Mensch, wenngleich er, so lehrt es auch das GilgameschEpos, einsehen muss, dass Unsterblichkeit nur den Göttern gegeben ist. Doch an dieser Festung rüttelt der Mensch seit ihm die Vernunft die Gabe gegeben hat, Unendliches zu denken und die Möglichkeit, unendlich und ewig zu werden.

Der Wunsch das Leben zu verlängern, nährt seit Urzeiten das endliche Bewusstsein, ist Motor und zugleich Triebkraft unserer Zivilisation. Medizinischer und technischer Fortschritt bleiben probate Erfolgsgehilfen der Unsterblichkeitshoffnung, laborgetestete Wunderdrogen, Vitamine und Antioxidantien gelten als ultimative Lebensverlängerer.

Neue Formen der Unsterblichkeitshoffnung

Die Faszinationskraft der Unsterblichkeit hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrem Geltungsanspruch eingebüßt; mehr denn je scheint der Mensch im Machbarkeitswahn angekommen und arbeitet intensiver an seiner Unsterblichkeit. Ob Kryonik, die Kryokonservierung von Organismen oder einzelnen Organen, oder Transhumanismus, Cyborg oder Mind-Uploading, die neue Vision der Unsterblichkeit ist die Maschine, die das Leben zu verlängern, zu verbessern oder eben auf Unendlichkeitskurs zu bringen sucht. Die neue Identität dabei ist die digitale. Sei es Facebook, Twitter und Co, die virtuelle Unsterblichkeit scheint für jeden gewöhnlich Sterblichen mit Händen greifbar. Tote bleiben via Facebook lebendig, wenn ihre Accounts nicht abgeschaltet werden, digitale Bestatter wie Asset Lock, Deathswitch und Legacy Locker kümmern sich dann um das digitale Erbe. Die Plattform Stayalive.com ist sogar das Portal für digitale Unsterblichkeit und wirbt dafür, „sich oder Ihre verstorbenen Lieben digital unsterblich – auf dem Online Friedhof“ zu machen.

Der Futurologe Ian Pearson prophezeit für das Jahr 2050 bereits die digitale Unsterblichkeit, denn dann sei es möglich, „den Geist auf eine Maschine zu laden, sodass der körperliche Tod kein wirkliches Problem“ mehr ist.

Die mediale Inszenierung

War es früher allein der Elite gegeben, sich Nachruhm auf Jahrhunderte zu sichern, gehört im Zeitalter des Internets der digitale Fußabdruck zum universalen Erbe des Einzelnen. Das Internet wird zu Historie subjektiver Selbstinszenierung, hier hofft der gewöhnlich Sterbliche, unsterblich zu werden. Denn wer nicht durch Glück oder gar Anstand zu politischen Ehren gekommen ist, wer nicht mit 18 schon parteilich engagiert war, wem die große Stimme versagt, wer schauspielerisch nur mittelmäßig und wem das Schicksal nur eine durchschnittliche Intelligenz verliehen hat, dem stehen zumindest im Zeitalter des Internets die Tore der der medialen Unsterblichkeit weit offen.

Die Möglichkeiten der digitalen Selbstinszenierung sind gigantisch

Jenseits von Rampenlicht und Bühne, jenseits von Parteitag und Bundeskanzleramt kann sich der Einzelne medial entfalten und ins glänzende Licht stellen. Ob auf Instagram oder per Twitter, ob auf einer eigenen Webseite oder im Blog – die Möglichkeiten, einen Abdruck in der Geschichte zu hinterlassen, die digitale Unsterblichkeit zu erreichen, sind immens.

Doch so sehr Internet und Cloud zu Hoffnungsträgern der Unsterblichkeit mit fast religiösem Geltungsanspruch geworden sind, so gigantisch diese Welt mit Informationen gefüttert wird, so gilt doch umgekehrt: je mehr Menschen sich interaktiv verewigen zu suchen, je quantitativer die Menge von Informationen wird, die um die Erde schießen, bei all dieser Flut von Daten droht der Einzelne doch wieder im medialen Vergessen unterzugehen, wird zu einer bloßen Randnotiz der gigantischen Maschinerie. Dahin ist seine Unsterblichkeit, seine Selbstdefinition durch Likes und Google-Rankings, sein Stolz – gewachsen aus dem Egosurfing.

Das Internet frisst seine Kinder

Radiosendungen werden regelmäßig gelöscht, Zeitungen wie die HuffPost verschwinden und mit ihr alle Autoren und Inhalte, Verlage löschen ihre Bildarchive und Texte, weil die Datenmengen zu groß geworden sind, Webseiten ziehen um und verlieren damit ihre Relevanz für die Selbstinszenierung, anonyme Algorithmen bestimmen willkürlich die Suchauswahl und unliebsame Autoren und Kommentare werden dem Vergessen durch eine immer breiter wachsende Zensur preisgegeben und sogar nunmehr von Facebook den Justizbehörden gemeldet; das Internet verschlingt also die Identitäten wie es diese gezeugt hat; es ist aus Effizienzgründen eben nicht nur ein Identitätserzeuger, sondern ebenso ein Vernichter.

Das Internet als Klimakiller

Und auch um die Ökobilanz des Internets steht es nicht gut, es ist der Klimakiller schlechthin. Allein in Deutschland werden 33 Millionen Tonnen CO2-Emissionen jährlich durch das Web freigesetzt. So verbrauchen die Rechenzentren in Frankfurt mehr Energie als der Flughafen und mit 20 Google-Suchanfragen brennt eine Energiesparlampe mindestens eine Stunde lang. 2020 wird allein die Internet- und Telekommunikationstechnik in Deutschland ein Fünftel des gesamten Stromverbrauchs für sich vereinnahmen. Jenseits vom vielgescholtenen Diesel als Sündenbock und dem ebenso umweltunfreundlichen Batterie-Elektro-Auto ist das Internet zur Umweltfalle geworden und der Carbon footprint, der CO2-Fußabdruck, steigt ins Unermessliche. Doch ein Surfverbot gibt es bislang nicht.

Aber vielleicht wird, sollten die Grünen tatsächlich an die Macht kommen, einer der größten Umweltverschmutzer, das Internet, wieder abgeschaltet, limitiert, gar verboten – oder wie in China frisiert, um die Eindimensionalität der politischen Wahrheit nicht zu gefährden. Dann ist es endgültig dahin mit dem digitalen Fußabdruck. Was einzig bleibt, sind Bücher – und wer sein Leben nicht zwischen zwei Umschläge gepresst hat, verliert endgültig seine Identität. Wer also auf Nachhaltigkeit und mögliche Unsterblichkeit setzt, der sollte ein gutes Buch schreiben, aber selbst das ist kein Garant, Jahrhunderte zu überleben! Zur Unsterblichkeit trägt das Netz nichts bei, aber es frisst unsere Zeit, die wir lieber für unsere Mitmenschen, für Solidarität, Nächstenliebe und Miteinander investieren sollten, anstatt uns selbst zu wichtig zu nehmen.

Wenn Europa nicht endlich handelt, werden noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken

Die Seenotrettungsaktionen von NGOs wecken falsche Hoffnungen und bringen noch mehr Menschen in Gefahr, so Österreichs früherer Regierungschef Sebastian Kurz.

Der frühere österreichische Bundeskanzler ist ein Mann der klaren Worte. Sebastian Kurz spricht aus, was andere gern verschweigen, um ja nicht anzuecken. Ängste vor dem Öko-Mainstream und einem falschen Utilitarismus hat der bekennende ÖVP-Politiker nicht, er setzt eher auf Pragmatismus. In den letzten Jahren wurde er dafür – und  letztendlich für seine scharfen Ton bei der Migrationpolitik immer wieder von deutschen Medien kritisiert und wie ein bunter Hund durchs mediale Dorf getrieben, dem man Unmenschlichkeit, Härte und ein kaltes Herz unterstellte, gerade wenn es um die Migrationsfrage geht.

NGOs vergrößern die Not im Mittelmeer

Nun hat der Bald-wieder-Bundeskanzler, wenn es um die Wähler in Österreich geht, nachgehakt und NGOs wie jene der „Sea Watch“-Kapitänin Carola Rackete scharf kritisiert. Während die Kapitänin in Deutschland wie eine Jeanne d’Arc gefeiert wird, ihr Jubelkränze des Moralischen geflochten werden, Freilassungspetitionen das Netz überspülten, ja sich sogar der Bundespräsident Steinmeier für die Aktivistin nachhaltig einsetzte, hält Kurz wenig von dieser Pseudomoral. Zwar, so das Argument, vermögen dem ersten Anschein nach, derartige Aktionen wie von Rackete für das An-sich-Gute stehen, mögen Ausdruck eines glorreichen Willens zu moralischem Saubermanntum sein, letztendlich, und in zweiter Instanz, bewirken sie genau den gegenteiligen Effekt – und der ist überhaupt moralisch nicht mehr zu rechtfertigen. Solange NGOs sich daran beteiligen, Menschen illegal nach Europa zu bringen, werden, wie Kurz betont, „damit nur falsche Hoffnungen“ geweckt „und locken damit womöglich unabsichtlich noch mehr Menschen in Gefahr“. Denn, solange „die Rettung im Mittelmeer mit dem Ticket nach Mitteleuropa verbunden ist, machen sich immer mehr Menschen auf den Weg“ – und die Conclusio: es werden dadurch immer mehr ertrinken.

Mehr Schutz für die Außengrenzen

Kurz gilt in Sachen Flüchtlingspolitik als Mann der Fakten. Ohne ihn wäre 2015 die Balkanroute nicht geschlossen worden. Kurz hat also einen maßgeblichen Anteil an der Dezimierung einer unkontrollierten Migration in Europa, für die man ihm insbesondere in Deutschland eher dankbar sein sollte. Seitdem die Route dicht ist, lässt sich die Migration hierzulande deutlich besser koordinieren und steuern, Integrationsbemühungen wirken nicht mehr wie ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern fruchten langsam, selbst wenn es deutlich mehr sexuelle Übergriffe und Gewalttaten als vor 2015 gibt.

Seit Jahren, zuerst als Außenminister, dann als Bundeskanzler, forderte Kurz einen rigorosen Schutz der Außengrenzen. Doch die EU verschläft das seit Jahren. Bislang konnten sich die EU-Mitgliedsstaaten lediglich darauf einigen, die Grenzschutzagentur Frontex bis 2027 auf 10.000 Beamt aufzustocken. Deutlich zu wenig, wie die mahnende Stimme aus Österreich kritisiert.

Solange die EU nicht sicherstellt, dass jeder, der sich illegal auf den Weg nach Europa macht, in sein Herkunftsland oder in ein Transitland nicht zurückgebracht wird, werde das Ertrinken im Mittelmeer nicht enden – denn dann haben die Schlepperbanden weiterhin Konjunktur mit ihrem a-moralischen Verhalten.

Europa muss bei der illigalen Migration mehr Verantwortung übernehmen

Italiens Innenminister Matteo Salvini ließ in der vergangenen Woche die Häfen für Rettungsschiffe mit Flüchtlingen an Bord schließen. Die deutsche Kapitänin Rackete hatte italienisches Recht verletzt und war nach geltendem italienischem Recht festgenommen worden, weil ihr Schiff, die Sea Watch 3, trotz des Verbots im Hafen der Insel Lampedusa angelegt hatte. Für diese Maßnahme wurde Salvini, der zur rechtspopulistischen Lega Nord gehört, europaweit wegen Unmenschlichkeit angeklagt. Nun hat er mit Sebastian Kurz einen weiteren Fürsprecher, der Salvini bei dessen unpopulären, aber rechtskonformen Handlungen unterstützt. Carola Rackete und Co betreiben vielleicht einen qualitativen Utilitarismus im Sinne von John Stuart Mill, der die Rettung einzelner garantiert, der aber den vielen Flüchtlingen dieser Welt einen falschen Anreiz offeriert, der letztendlich dazu führt, das die Völkerwanderung nach Europa noch Tausenden mehr Menschen im Mittelmeer als Leben kosten wird. Erfolgsversprechender sei dagegen, die Fluchtursachen deutlicher zu bekämpfen; dafür hat Kurz während seiner Ratspräsidentschaft mit seiner Afrikapolitik geworben. Klar aber bleibt: Wenn Europa rigider in Sachen Migrationsstopp verfährt, werden viele „sich dann nicht mehr auf den Weg machen.“ Und das beende „die Überforderung in Europa und verhindert das Sterben am Weg.“

Joachim Herrmann oder Peter Tauber – beide könnten Verteidigungsminister

Ursula von der Leyen wechselt nach Brüssel. Deutschland braucht einen neuen Verteidigungsminister. Es wäre gut, wenn das Amt mit hoher Fachkompetenz besetzt wird. Zwei Kandidaten kommen infrage.

Mit dem überraschenden Wechsel der Verteidigungsministerrein Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission kommen zwei Nachfolger in Frage. CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer hatte den Posten bereits abgelehnt. Damit wird es wahrscheinlicher, dass sich mit Peter Tauber als neuem Verteidigungsminister die Führung der Bundeswehr deutlich verjüngt oder mit dem CSU-Sheriff und langjährigem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann ein erfahrener Sicherheitsexperte die Fäden in der Hand bekommt.

Die Bundeswehr ist derzeit in einem heiklen Zustand, Berateraffären, Gender-Mainstreaming-Debatten und die teure Gorch Fock mit 125 Millionen Sanierungsaufwand aus der Kasse der Steuerzahler haben die Berufsarmee in den letzten Jahren immer wieder in die Negativ-Schlagzeilen gebracht. Allein die bisherige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen konnte sich rettend ans Ufer einer Brüssler Spitzenposition möglicherweise heben. Mit der Gorch Fock nach Brüssel titeln schon einige Medien.

Peter Tauber stünde für eine Trendwende bei der Bundeswehr

Der Abgang von der Leyens in die EU könnte die Stunde des Peter Taubers sein. Der Ex-CDU-Generalsekretär und Verteidigungsstaatssekretär ist in der Truppe beliebt; er gilt als Allzweckwaffe der CDU, ist politisch erfahren, krisenerprobt und intelligent. Der promovierte Historiker, erst 45 Jahre alt, lässt sich nicht die Stimme verbieten, nimmt immer wieder Position bei kritischen Sachlagen und bezieht klare Position. Tauber – einer mit klarer Kante und Kontur. Und Tauber ist wertkonservativ und liberal zugleich, steht für die christlichen Werte der Union, sei es beim Schwangerschaftsabbruch oder bei der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe.

Und Peter Tauber könnte für einen kompletten Neuanfang der Bundeswehr stehen. Nach Jahren von Krisen steht der CDU-Parteisoldat wie eine unsichtbare Hand hinter der Truppe, dem nicht nur Insider zutrauen, der Bundeswehr ein neues Gesicht und Image zu geben. Die Aufgaben, die sich der gestandene Berufspolitiker stellt, sind dann auch groß: Digitalisierung und neue Kernkompetenzen jenseits von Nato-Einsätzen im Inneren stehen im Fokus einer Neuausrichtung à la Tauber. Dabei setzt der gebürtige Gelnhäuser auf eine verstärkte europäische Zusammenarbeit im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der studierte Historiker selbst spricht von einer Trendwende bei der Bundeswehr. Ermöglicht werde diese dank finanzieller Mittel aus dem Parlament. Und so könne aus der maroden Armee perspektivisch bald wieder eine schlagfertige Truppe werden, die im alten Glanz erstrahlt und die nicht nur beim Zapfenstreich eine gute Figur macht, sondern international auch wieder zu Ehren kommt.

Gerade in einer krisengeschüttelten Welt, in der sich die Europäische Union derzeit befinde, muss, wie Tauber unlängst in Berlin betonte, eine neue Sicherheitsarchitektur aufgerichtet werden, die eng mit der NATO abstimmt sei. Diese soll dann neben militärischen auch politische, diplomatische und wirtschaftliche Elemente miteinander bündeln – und das Ziel sei letztendlich die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion. Tauber, das wird hierbei ganz deutlich, will sich nicht im Kleinen verzetteln, er denkt, arbeitet und strukturiert europäisch – und er will damit sein Projekt Europa vorantreiben. Und dies am besten mit einer „Armee der Europäer“.

Die Herausforderungen sind gewaltig, doch der Mann hat, nach schwerer Krankheit, Energie zurückgewonnen und taucht wieder tief ins politische Fahrwasser ein.

Die Bundeswehr wächst und mir ihr auch die Herausforderungen an einen jungen Minister – gerade in Zeiten, wo neben Terrorismus, Migration und Klimawandel sich neue sicherheitspolitische Herausforderungen bislang unbekannten Maßes herauskristallisieren. Mit Tauber, der ein energischer Kritiker der AfD ist, der er die Polarisierung des Landes in rechte und linke Lager vorwirft und für den eine „klare Grenze nach rechts“ zu seinem politischen Credo zählt und der die europäische Idee fast glorifiziert, könnte an der Spitze der Bundeswehr Wunder bewirken, die Ursula von der Leyen eben nicht geglückt sind.

Joachim Herrmann wäre der erfahrene Sicherheitsexperte

Sicherheitspolitisch gesehen, ist der bayerische Innenminister so etwas wie das Urgestein der CSU. Seit Jahren regiert Herrmann mit harter aber weiser Hand den Freistaat. Herrmann, der passionierte Offizier der Reserve, zeigte gerade im Flüchtlingsjahr immer wieder Kante gegen die Offene-Tor-Politik der Kanzlerin. Während sich Deutschland in Besoffenheits-Rhetorik der Willkommenskultur feierte und im triefenden Gutmenschentum Angela Merkel als Welterlöserin feierte, klang die Tonlage damals aus Bayern ganz anders, schärfer, warnender. Denn so sehr Herrmann einerseits der liebenswerte Kuschelbär ist, so hat er eben auch eine scharfzüngige Seite, ist Polizist und Bewacher zugleich, sieht – ganz pragmatisch – auch die Nachteile einer ungefilterten Migration. Herrmann war damals, neben Horst Seehofer, der kritische Mahner schlechthin, wenn es um offene Grenzen und die Aushebelung von EU-Gesetzen ging. Und er machte aus seinem Verdruss über die politische Gleichgültigkeit auch keinen Hehl, äußerte Kritik und geriet im politischen Berlin unter Generalverdacht während er in Bayern zum „gefühlten Ministerpräsidenten“ avancierte.

Bereits 2015 war Herrmann, der seit Jahren auf dem Fastnacht in Franken mit ein und demselben Sheriff-Kostüm auftritt und sich so als Running Gag keine andere Kostümierung mehr auszudenken braucht, weitblickender als der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Tiefgründiger als de Maizière sah er, dass die unkontrollierte Massenzuwanderung von muslimischen Männern ein enormes Sicherheitsrisiko für die Republik darstellen würde. Und so wurde Herrmann zum „Taktgeber“ der deutschen Innenpolitik. Sein Name stand maßgebend für die Verschärfung des Asylrechts, für die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, für die Einführung der Grenzkontrolle nach Österreich und letztendlich für die berüchtigte Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen jährlich. „Es kann nicht sein, dass wir nicht wissen, wer sich in unserem Land aufhält”, war damals eines seiner geflügelten Worte. Herrmann forderte „den Einsatz der Bundeswehr zur Terrorbekämpfung sowie eine Verschärfung der Asylregeln für straffällig gewordene Migranten im Asylbewerberverfahren, denn das deutsche Recht stehe über dem Recht des Korans der der Scharia. Wenn das jemand anders sehe und dagegen verstosse, müsse schon auf niedrigerer Schwelle als bisher deutlich werden, dass er das Land wieder zu verlassen habe“.

Wenn Herrmann Verteidigungsminister würde, müsste Seehofer das Innenministerium räumen

Im Süden Deutschlands ist Herrmann eine feste Instanz, die Bayern lieben und vertrauen ihm. Und wäre der mächtige Horst Seehofer nicht 2008 als Ministerpräsident angetreten, so hätten sich viele den Juristen Herrmann gewünscht, der eben auch leise kann und nicht nur polternd, der eine Meinung hat und diese gegen den Mainstream vertritt und der nicht wankelmütig wird, wenn ihm das politische Establishment die Gefolgschaft versagt. „Je eher, desto Herrmann“, raunte es damals in Bayern. Wenn Herrmann nunmehr für ein Amt im Bund bereitsteht, würde das allerdings voraussetzen, das Horst Seehofer als Innenminister zurücktritt und die CDU das Innenministerium besetzt, während die CSU im Umkehrschluss das Verteidigungsministerium übernähme. Doch gleichwohl sich der einstige Gesundheits-, Ernährungsminister, Ministerpräsident und derzeitige Innenminister Seehofer auf dem politischen Rückzug befindet, wird das politische Stehaufmännchen seinen Platz nicht freiwillig räumen. Welche Macht er in Deutschland hat, zeigte die Eskalation im Asylstreit des Bayern mit der Bundeskanzlerin, die dieser unbeschadet überlebte, wo andere bitter in die Tiefe des Raumes gefallen wären.

Mit Peter Tauber einerseits und Joachim Herrmann andererseits stünden jedenfalls versierte Innen- und Sicherheitspolitiker in der Nachfolge von Ursula von der Leyen. Während Tauber für einen Neuaufbruch und eine Trendwende in der Bundeswehr stünde, würde mit Herrmann ein Stratege und Sicherheitspolitiker wachen Augen und Herzens die Truppe anführen. Beide wären jedenfalls bestens für das Amt geeignet, weil sie eben auch Kenner der Materie und kampferprobt in diesem schwierigen Ressort sind.

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Sind die Ostdeutschen nur unzufriedene Ignoranten?

Trabis in Berlin, Foto: Stefan Groß

Unzufriedene Ignoranten?

Haben die Ostdeutschen aus der Diktatur des DDR-Regimes so wenig gelernt, dass sie wieder für radikale Parteien anfällig sind? Müssten die Bewohner zwischen Insel Rügen und Erzgebirge, zwischen Eisenach und Görlitz nicht dankbar dafür sein, dass das marode Wirtschaftssystem des Sozialismus samt Repression, Überwachung und Kollektivierung endlich auf dem Müll der Geschichte gelandet ist, müssten sie sich nicht wenigstens darüber freuen, in einem Land zu leben, wo Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit herrschen und wo der Gang zur Wahlurne Ausdruck persönlicher Entscheidungsfreiheit bleibt?  Was gefällt ihnen nicht an der freiheitlichen Ordnung des liberalen Rechtstaates?

Vor fast 30 Jahren ist die Berliner Mauer gefallen. Das galt als der Sieg der Freiheit und das Ende des totalitären Sozialismus. Und es war das wohl positivste Ereignis im sonst so dunklen 20 Jahrhundert. Nach 40 Jahren DDR fiel der ungeliebte Staat und seine Bürger hatten das totalitäre Regime auf den Friedhof der Geschichte getragen und begraben. Eine nie bis dahin bekannte Solidarität wehte durch die Reihen der Protestierenden, ein bis dahin unbekannter Volkswille entzündete die Fackel der friedlichen Revolution. Und seit den Tagen des Oktobers 1989 hatte es in der Bundesrepublik nie wieder einen solchen Aufstand der Massen gegeben.

Der Osten als Protestkultur

Doch seit diesen Tagen gehört der Protest zur Kultur der neuen Länder. Deutschland ist zwar geographisch zusammengewachsen, die blühenden Landschaften von Helmut Kohl gibt es, doch die Mauer in den Köpfen zwischen West- und Ostdeutschen bleibt. Sie ist nach Chemnitz noch größer geworden. Die Schablone vom bösen Nazi-Ossi, der undankbar ist und für dessen antidemokratische Gesinnung die Bundesschatulle noch weit geöffnet wird, zieht weiterhin Kreise und stiftet böses Blut.

Der Osten war zu DDR-Zeiten eine Solidargemeinschaft, die sich durch feinsinnige Ironie, Sarkasmus und indirekte Provokation gegen das Regime am Leben hielt, eine nach Innen gepresste Versöhnungs- und Solidargemeinschaft mit Freiheitsspielräumen, die man geschickt inszenieren musste, um am repressiven Überwachungsstaat sich vorbei zu manövrieren. Die Mehrzahl der Ostdeutschen hatte sich dieses feine Gespür in den Jahren peu à peu angeeignet, Techniken entwickelt, wie der Überwachungsstaat auszutricksen ist. Und so war das Gros der Ostdeutschen keineswegs eine Schar von sozialismus-affinen Mitläufern, die das System goutierten, sondern private Widerständler, die sich ein Stück individuelle Freiheit eroberten und damit immer wieder der Parteien- und Machtclique Paroli boten. Wenn auch nach dreißig Jahren, gerade aus westdeutscher Sicht, Sachsen und Thüringen als intellektlose AfDler gebrandmarkt und deklassifiziert werden, so stimmt das für die große Bevölkerungsmehrheit nicht.

Viele Ostdeutsche waren Protestler, nichtreligiöse Protestanten sozusagen. Im Kernland des Protestantismus, wo einst Luther die Reformation entzündete, ist der Geist der Revolte geblieben. Nur eben nicht in Form des Protestantismus, weil der Osten die in Zeit geronnene Säkularisierung war, die das Religiöse zwar geduldet, es aber in den individuellen Lebensraum verabschiedete. Vielmehr hat umgekehrt eine Weltanschauung herausgebildet, die nicht im Religiösen, sondern in einem sozialen Humanismus ihren solidarischen Anker und zivilreligiösen Aspekt fand, der bis tief hinein in die existentielle Mitte des ostdeutschen Bürgertums reichte und der mit dem Mauerfall und der einbrechenden Marktwirtschaft über Nacht seine Geltungskraft und alle seine Haltseile verlor. Geblieben ist eine zerrüttete Nation, der neben dem Staat auch ihre Gemeinschaft verloren ging.

Man mag von einer ostdeutschen Depression sprechen, die auch nach 30 Jahren im Land grassiert. So zumindest hatte diese einst das intellektuelle Gewissen, der Chronist der innerdeutschen Geschichte, Arnulf Baring, beschrieben. Doch so sehr Baring von der Gespaltenheit der ostdeutschen Identität überzeugt war, von den desolaten Wirtschaftsstrukturen, individuellen Schicksalen, die unfähig zur Selbstbestimmung seien, weil sie Objekte reiner Bevormundung gewesen sind, so sah er dennoch im Osten den Geist der Revolte, das große Potential einer Protestkultur verankert.

Bürger auf die Barrikaden

In einem damals viel beachteten und diskutierten Beitrag in der „FAZ vom 19. 11 2002 mit dem Titel „Bürger, auf die Barrikaden“! hieß es dann auch: „Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen. Alle Deutschen sollten unsere Leipziger Landsleute als Vorbilder entdecken, sich ihre Parole des Herbstes vor dreizehn Jahren zu eigen machen: Wir sind das Volk!“ Und der jüngst verstorbene Ulrich Schacht titelte einst im „Cicero“: „Aus dem Osten kommt das Licht“. Was Schacht und Baring kritisierten war der lethargische Wohlstandswesten, der sich in seiner Behaglichkeit als Wohlstandskultur etablierte und dem der Sinn für die Revolte abhanden gekommen war. Und Baring forderte, dass das Parteiensystem selbst auf den Prüfstand müsse. „Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem. Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand“.

Nach 30 Jahren gilt dieser Satz umso mehr. Die Volksparteien verlieren an Stärke, sie wirken kraftlos, zermürbt und müde. Die Große Koalition ist ein Scherbenhaufen von Eitelkeiten, denen schiere Machtverwaltung  das Gebot der Stunde zu sein scheint. Anstatt zu regieren, herrscht eine unproduktive Schlaffheit, die in Personalaffären zu ersticken droht. Das Land bewegt sich so auf einen rasenden Stillstand zu und die kritischen Stimmen werden, ganz wie einst in der DDR, ignoriert. Wen verwundert es da, das die kampferprobten Ostdeutschen wieder auf die Barrikaden gehen und das System samt seinen Eliten abwählen wollen. Denn so hat sich der Osten die Demokratie nicht vorgestellt und die Rebellion ist nur die Antwort auf eine sich als unterdrückt verstandene Gemeinschaft, die sich von den Amtsträgern nicht repräsentiert sieht.

Interview mit Günther H. Oettinger

Der Beitritt der Türkei liegt im Eisfach

Am 26. Mai 2019 waren Europawahlen. “The European” traf den EU-Kommissar Günther Oettinger zum Gespräch. “Der Beitritt der Türkei zur EU liegt derzeit im Eisfach. Dort bleibt er auch – dort kann er rausgeholt werden, wenn sich die politischen Verhältnisse in der Türkei ändern”, betonte Oettinger gegenüber Stefan Groß.

Vor einem Monat waren Europawahlen. Die EVP hat nicht so gut abgeschnitten, aber ist immer noch die stärkste Kraft. Rechtsaußen Bündnisse sind stärker geworden – wie beurteilen Sie einen Monat danach die Lage?

Erfreulich ist, dass die Wahlbeteiligung deutlich nach oben ging. Wenn sie sehen, dass wir die ersten Direktwahlen 1979 hatten und die Wahlbeteiligung damals bei 61 % lag, so ging diese über die Jahre runter auf 41 % bis 51% zurück. Dies zeigt, dass die Bürger heute wieder erkennen, dass Europa für sie und ihr Leben und ihren Alltag wichtig ist. Derzeit haben wir, vor den Neonationalisten und Populisten, eine ganz klare proeuropäische Mehrheit im neuen Europäischen Parlament. Deswegen sind nun alle demokratischen Kräfte, als Sozialisten, als Liberale, als Abgeordnete der Macron-Bewegung, als Grüne oder als Christ-Demokraten aufgerufen, sich zusammen zu finden und eine handlungsfähige Mehrheit, gerade auch bei der Wahl von wichtigen Funktionen, herzustellen.

Boris Johnson will ein neues Brexit Abkommen. Was ist das Problem, wenn Großbritannien tatsächlich unkontrolliert aus der EU austritt?

Nun warten wir ab, wer Parteivorsitzender und Premierminister wird. Sollte es Boris Johnson sein, dann müssten wir das respektieren. Die Briten haben die freie Wahl und die Tories sind alleinentscheidend, was ihren Parteichef und dem daraus sich ergebenden Premierminister angeht. Und mit Sicherheit wird Jean-Claude Juncker die Gespräche mit dem neuen Premierminister aufnehmen und darüber nachdenken, welche Ideen Johnson bezüglich des Austritts des Königreichs hat. Aber das Abkommen wurde fair verhandelt, alle Fragen wurden geklärt wie man geordnet die Europäische Union verlassen kann – und deswegen finde ich Nachverhandlungen oder eine Erwartung, dass sich alles verändert, nicht für realistisch.

Die Türkei, Serbien, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Island, Bosnien-Herzegowina und der Kosovo streben in die EU. Manfred Weber ist gegen einen Beitritt der Türkei, Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür. Ist die Türkei nach der vergangenen Wahl des Bürgermeisters von Istanbul und dem damit einhergehenden Verlust von Erdogans AKP wieder näher im Fokus von Gesprächen? Was bedeutet es für die derzeit sehr uneinige EU, wenn neue Staaten zum gespaltenen Europa hinzukommen?

Wenn sie nun sehen, dass China 1,386 Milliarden Einwohner und Indien 1,339 Milliarden hat, da könnte die EU wachsen, wie sie will. Sie wird nie mehr als halb so groß wie die größten Länder. Wenn wir die Welt von Morgen ein wenig mitgestalten wollen, dann brauchen wir ein vereinigtes Europa. Und der West-Balkan gehört dazu. Serbien, Albanien, Nord-Mazedonien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Montenegro sind europäische Kernländer. Das ehemalige Jugoslawien zwischen Griechenland und Kroatien gelegen – und die anderen Länder, werden nicht in den nächsten drei Jahren beitreten, aber vor Ende des nächsten Jahrzehnts sollten sie soweit sein – und wir sollten bereit sein, sie aufzunehmen. Auch um die Region zu stabilisieren und nicht Moskau, Ankara oder den Chinesen einen zentralen Einfluss zu geben. Die Türkei, unter Erdogan wird nicht Mitglied. Aber es gibt eine junge Generation in der Türkei, die mit Mehrheit einen Bürgermeister in Istanbul gewählt hat, und diese sollten wir nicht verprellen. Deswegen glaube ich, dass die Türkei den Kandidatenstatus für den Beitritt behalten sollte. Aber es gibt derzeit keine Fortschritte, weder in der Demokratie noch in der Marktwirtschaft, noch in Sachen Rechtsstaatlichkeit, noch in Sachen Freiheit. Und deswegen ist der Beitritt der Türkei im Eisfach. Dort bleibt er auch – dort kann er rausgeholt werden, wenn sich die politischen Verhältnisse in der Türkei ändern. 

Das Spitzenkandidatenmodell steht derzeit wieder auf dem Prüfstand. Emmanuel Macron will es aushebeln und votierte nicht für EVP-Chef Weber. Letztendlich entscheiden die Regierungschef über diesen Posten. Was aber bedeutet dies für das Europäische Parlament, einen Gesichtsverlust?

Macron ist Präsident eines großen Landes und er stellt mit den Abgeordneten, die seiner Regierung angehören, und die eine beachtliche Kraft im neuen Parlament sind, eine Macht dar, die es bislang nicht gab. Wir müssen seine Linie und Strategie respektieren, aber er sollte sich nicht übernehmen. Wahlen leben von Personen. Deswegen will der Bürger vor der Wahl wissen, wer für das wichtigste Amt Europas, das Amt des Kommissionspräsidenten, in Frage kommt. Deswegen ist der Spitzenkandidat eine logische und gute Entwicklung, so wie bei der Bundestagswahl auch. Vor der Wahl muss klar sein: ist es Frau Merkel, ist es Herr Steinmeier? Wer tritt an – und dann kann der Wähler entscheiden, wem er vertraut.

Bundesbankchef Jens Weidmann wird für die Nachfolge von Mario Draghi gehandelt. Wie stehen seine Chancen?

Jens Weidmann ist ein hochbefähigter Notenbanker. Er spielt jetzt schon in der Europäischen Zentralbank eine wichtige Rolle, führt die Bundesbank sehr souverän. Er hat nach meiner Überzeugung eine klare und kluge Ordnungspolitik – und diese Aufgabe wird sicherlich im Zuge der Benennung der anderen Spitzenpositionen vergeben werden. Da kommt Jens Weidmann in Frage, aber es gibt eben auch andere Banker, in Frankreich, in Finnland, die genau so qualifiziert sind.

Europa braucht Visionäre. Was wünschen Sie sich von diesem Europa, das derzeit Zeit tief gespalten ist?

Ich wünsche mir eine weit stärkere europäische Union. Europa sollte nur die Fragen verantworten, die man besser europäisch löst. Ich träume von einer europäischen Armee, ich baue darauf, dass der West-Balkan im nächsten Jahrzehnt noch Mitglied wird – damit Europa vollendet wird. Ich traue Europa zu, durch gemeinsame Forschungsprojekte den Wettbewerb mit China zu bestehen. Europol sollte zum Europäischen FBI werden, um einen Europäischen Datenpool zu schaffen. Und auch der Klimaschutz geht nur europäisch. Nicht national.

 

Fragen: Stefan Groß

Interview mit Hans-Gert Pöttering

Wir brauchen wieder einen Dialog mit Russland

Mit dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlamentes und Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, sprach Stefan Groß über die Zukunft Europas, die Große Koalition, über eine SPD im Krisenmodus und warum die Grünen derzeit in den Umfragen so weit oben stehen.

Herr Pöttering, welche Bilanz würden Sie nach den Europawahlen ziehen?

 Alles in Allem ist die Bilanz positiv, insbesondere ist zu begrüßen, dass die Wahlbeteiligung EU weit um etwa 8 % angestiegen ist, in Deutschland sogar um 13 %. Die Wahlbeteiligung lag damit etwas höher als 50 % und das entspricht im Übrigen auch der Beteiligung an Wahlen zum amerikanischen Kongress oder bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Natürlich ist zu hoffen, dass die Wahlbeteiligung in fünf Jahren noch weiter ansteigt.

Die neuen Rechten haben ein neues Bündnis in Europa geschlossen, sehen Sie hierbei eine Gefahr für die Demokratie?

 Ich sehe in dieser Fraktion eine große Herausforderung. Allerdings begrüße ich sehr, dass die Rechte nicht so stark geworden ist, wie man es befürchtet hat. Im Übrigen empfehle ich, genau hinzuschauen, um welche Partei es sich handelt. Nicht alle Parteien die man als „Rechte“ bezeichnet sind Nationalisten. Deswegen ist es wichtig, zu differenzieren und auch mit denjenigen, die für Europa offen sind, das Gespräch zu suchen.

Der Streit um die Nachfrage von Jean-Claude Junker ist entflammt, Manfred Weber hat weniger Chancen als erwartet. Nun hat Emmanuel Macron die Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. Ist das realistisch?

 Leider sind die Chancen für Manfred Weber nach dem Europäischen Rat nicht so gut, wie ich es mir wünsche. Wenn Emmanuel Macron Bundeskanzlerin Angela Merkel als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen hat, so muss man das zur Kenntnis nehmen, aber ich halte das nicht für realistisch. Angela Merkel hat selbst erklärt, dass sie für eine europäische Aufgabe nicht zur Verfügung steht. Es würde nach meiner Beurteilung der Persönlichkeit von Angela Merkel total widersprechen, wenn sie sich das anders überlegen würde. Im Übrigen ist Manfred Weber in einem fairen und demokratischen Verfahren in geheimer Wahl, mit großer Mehrheit zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) gewählt worden. Das kann man nicht ignorieren. Die EVP ist im Europäischen Parlament die stärkste Fraktion. Damit ist Manfred Weber der vorrangige Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Das Europäische Parlament bleibt nur glaubwürdig, wenn es am Modell des Spitzenkandidaten festhält. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sollte das Prinzip der Spitzenkandidaten anerkennen und das Europäische Parlament ernst nehmen.

Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, doch der Kontinent steht nicht als einheitliches Sprachrohr zusammen – gerade wenn man in den Osten blickt. Wo sehen sie die eigentlichen Konflikte und was wären die Probleme die schnellstmöglich zu lösen wären?

Zunächst muss man unterscheiden zwischen Europäischer Union und Europa. Konzentrieren wir uns auf die Europäische Union. Es gibt in Bezug auf die Stabilität der Europäischen Währung Differenzen zwischen den nördlichen und südlichen Staaten Europas. Wir müssen darauf bestehen, dass wir die Vereinbarungen, wie sie sich aus dem Vertrag von Maastricht ergeben, auch einhalten. Als größte Herausforderung sehe ich eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu entwickeln. Das ist nicht nur eine Aufgabe für die unmittelbare Zukunft, sondern für Jahrzehnte, da die Herausforderung der Migration ja bleibt. Eine weitere Herausforderung ist, dass wir die wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, das ist ja die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union, wie sich aus dem Vertrag von Lissabon ergibt, stärken. Das bedeutet auch die Verwirklichung des digitalen Binnenmarktes. Hier brauchen wir deutliche gemeinsame Anstrengungen.

Als dringlich empfinde ich auch, dass wir die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik  stärken; dass wir im Bereich der Außenpolitik zu Mehrheitsentscheidungen kommen und dass wir offen sind – wie es ja auch Präsident Macron vorgeschlagen hat –, eine Europäische Armee oder eine Armee der Europäer zu schaffen. Nach dem Beschluss der NATO, die Verteidigungsausgaben sollten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen,  sollten diese für die Stärkung der europäischen Säule der NATO verwendet werden. Dies sind einige Herausforderungen, die ich für die Europäische Union sehe.

Wenn man an Europa insgesamt denkt, würde ich mir wünschen, dass wir zu mehr Partnerschaft mit Russland kommen, was allerdings bedeutet, dass Russland seine Intervention in der Ostukraine beendet und das Abkommen von Minsk einhält. Die Annexion der Krim dürfen wir nicht anerkennen.

 Immer wieder wird über den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa diskutiert. Doch würde ein derartiger Superstaat nicht die einzelnen Länder überfordern? Welche Rolle könnte in einem stärkeren Europa denn der Nationalstaat spielen?

 Den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ empfehle ich nicht zu verwenden, da er suggeriert, dass wir etwas nach dem Bilde der Vereinigten Staaten von Amerika anstreben. Die Europäische Union, die früher Europäische Gemeinschaft hieß, ist jetzt der Begriff für den Zusammenschluss der Europäischen Völker und ich empfehle, dabei zu bleiben. Einen Superstaat streben wir ausdrücklich nicht an, die Europäische Union ist etwas „sui generis“, etwas eigener Art und sie ist mit keinem Staatenbündnis oder Vereinigung von Staaten zu vergleichen. Wir haben verschiedene politische Identitäten. Das ist die Heimat, das ist der Nationalstaat und das ist die Europäische Union. Alle drei Identitäten gehören zusammen und die Reduzierung unserer politischen Identität auf den Nationalstaat würde den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht gerecht. Ich möchte es so ausdrücken: Wer nur seine Heimat sieht, wird sie nicht schützen. Wer seine eigene Nation über alle Nationen stellt, wird zum Nationalisten und Nationalismus führt zum Krieg. Und wer nur als Europäer und als Europäerin empfindet, der oder die hat keine Wurzeln. Also diese drei Identitäten gehören zusammen und ich glaube, jeder kann sich darin mit seiner eigenen Identität wiederfinden.

Die SPD ist in der Krise. Die Volksparteien verlieren deutlich in der Wählergunst – noch kann die CDU/CSU ihre Position halten, aber droht ihr als Volkspartei doch ein ähnliches Ende wie der SPD oder anders gefragt: Sind die Volksparteien noch ein Erfolgsmodell?

Die Volksparteien müssen wieder ein Erfolgsmodell werden, denn sie haben Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Freiheit, Demokratie und Recht gesichert, und sie haben vor allem die Bundesrepublik Deutschland zu einem verlässlichen und stabilen Partner in Europa und in der Welt gemacht. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, dass die Volksparteien eine Zukunft haben. Volkspartei bedeutet, dass in einer Partei das Gemeinwohl, das heißt, dass das Wohl aller Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund steht. Wenn wir zu einer Partikularisierung kommen, wenn nur noch Interessen einiger Gruppen durch Parteien vertreten werden, gibt es das Risiko einer Vielzahl von Parteien und es wird immer schwieriger, eine Regierung zu bilden. Deswegen entspricht es dem Interesse der Demokratie, dass die Volksparteien eine gute Zukunft haben und sie sollten alle Anstrengungen darauf konzentrieren, dass sie die gesamte Bevölkerung mit dem Gemeinwohl auch repräsentieren.

In drei neuen Bundesländern wird jetzt im Herbst gewählt, die AFD ist auf dem Vormarsch, was machen die Volksparteien falsch, was AFD und die Grünen richtig?

 Zunächst einmal muss man deutlich machen, dass wir die Wähler und Wählerinnen der AFD wiedergewinnen wollen. Wir sollten die Bürgerinnen und Bürger, die sich bei Wahlen für die AFD entschieden haben, nicht diffamieren, sondern sie ernst nehmen. Das bedeutet, dass wir die Probleme lösen und nicht nur über die Probleme sprechen.  Es entwickelt sich in einer Demokratie immer eine Situation, dass Parteien stärker oder auch wieder schwächer werden. Die bisherigen Volksparteien, also CDU/CSU und SPD, sollten gerade in der Großen Koalition den vereinbarten Vorhaben auch Lösungen zuführen. Und je mehr das gelingt und je mehr man mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber spricht, wird es auch möglich sein, dass die Volksparteien wieder an Gewicht gewinnen.

Die Grünen sind auf dem Vormarsch, haben sogar die CDU in Umfragen überholt. Es kann doch aber nicht nur das Klimathema sein, welches einen derartigen Höhenflug verleiht?

 Die Grünen sind auf Bundesebene nicht in der politischen Verantwortung, das macht es ihnen leichter, Themen zu vertreten, für die sie gar keine Verantwortung in der konkreten Politik haben. Wenn die Volksparteien einerseits den Umweltschutz und das Thema Klima ernst nehmen, ohne sich andererseits aber nur darauf zu beschränken, dann bin ich zuversichtlich, wird es auch wieder gelingen, Mehrheiten oder stärkere Zustimmung zu finden. Wir dürfen uns in der Politik nicht nur auf ein Thema konzentrieren, sondern wir brauchen ein breites Spektrum von Problemlösungen, dazu gehört auch die innere und äußere Sicherheit, wo ich nicht erkenne, wie die Grünen mit dieser wichtigen Problematik umgehen wollen.

Es wird gerade viel spekuliert, wie lange die Große Koalition in Deutschland noch hält und was passiert, wenn Neuwahlen kommen.

 Niemand ist ein Prophet und niemand kann vorhersagen, ob die Große Koalition zusammenhält. Das ist vor allem eine Frage, die die SPD beantworten muss.

Ich persönlich hoffe, dass die Koalition  ihre Arbeit fortsetzt.  Bedauerlicherweise ist es nach der letzten Bundestagswahl 2017 nicht zu einer Koalition von CDU/CSU, FDP und Grünen gekommen. In dieser Wahlperiode wird dies wohl auch nicht mehr möglich sein. Auch deswegen hoffe ich, dass die Koalition bis 2021 fortgesetzt werden kann. Die Regierungsparteien haben die Verantwortung, diese Koalition zu einem Erfolg zu führen.

 Herr Professor Pöttering, herzlichen Dank für dieses Gespräch

 

Fragen:  Stefan Groß

Interview mit Ursula Männle

Europa muss jetzt als geschlossene Einheit auftreten

 

“The European” sprach mit der Vorsitzenden der Hanns-Seidel-Stiftung, Ursula Männle, über den Mauerfall vor 30 Jahren, den Brexit und die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

*Frau Professor Männle, wenn Sie politisch in Ihrem Leben zurückblicken, was war das Ereignis, das Ihnen im Gedächtnis als Schlüsselerlebnis bleibt?*

Das Ereignis, das mich am meisten ergriffen hat, war die Öffnung der Mauer. Ich war damals Bundestagsabgeordnete und saß gerade im Haushaltsausschuss. Wir wurden ins Plenum gerufen, dem ehemaligen Wasserwerk in Bonn. Als wir dann dort angekommen waren, sangen alle, sogar die Grünen, die Nationalhymne. Der Gesang war stimmlich furchtbar, weil alle vor Rührung kaum singen konnten. Also für mich war das Anstimmen der Nationalhymne in dem kleinen Wasserwerk, das gerammelt voll war, das wohl beeindruckendste Ereignis meiner politischen Laufbahn. Später habe ich viele große Ereignisse erlebt, und es war immer spannend in der Politik, aber so spannend wie 1989 war es nicht mehr. Ich bin wirklich dankbar, dass ich den Mauerfall und die Wiedervereinigung erleben durfte. Aber nach wie vor, so scheint es mir, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist die Integration noch nicht wirklich gelungen. Aber mit Blick auf die Jubiläums-Tage im November freue ich mich auf die weiteren Anstrengungen zur Aufarbeitung dieses Teil der innerdeutschen Geschichte.

*Nun bedeutet Politik Veränderung, auch in der Demokratie. Vor welchen politisch-neuen Herausforderungen steht die Bundesrepublik im Jahr 2019?*

Ich sehe eine große Herausforderung im Aufkommen der neuen Rechten, auch der AFD. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich sein könnte, dass 70 Jahre nach der Einführung des Grundgesetzes, derartige populistische Gruppen wieder im Deutschen Bundestag vertreten sind. Und noch dazu so viele Anhänger und Akzeptanz haben. Um hier wieder mehr Demokratie zu wagen, müssen wir gut argumentieren und überzeugen. Nie war die Demokratie mehr herausgefordert als in diesen Tagen. Und das ist auch kein Vergleich beispielsweise zu den 1960er Jahren. Wir müssen wieder über die grundlegenden Werte unserer Demokratie aufklären. Auch in unserer Stiftung besteht daran ein nachhaltiges Interesse. Also wir müssen immer wieder erklären, was das Besondere unserer Demokratie ist, warum diese schützenswert ist. Und dies gilt es gerade vor den neuen Herausforderungen von Islamismus und Zuwanderung zu tun. Aus diesem Grund bemüht sich die Hanns-Seidel-Stiftung um nachhaltige Aufklärung in Zeiten, in denen die Menschen verunsichert sind und die demokratische Ordnung sogar in Frage stellen. Und dass an unserer Demokratie Interesse bei der Bevölkerung besteht, zeigt der Zulauf zu unseren Veranstaltungen, die sich genau mit diesen Demokratisierungsfragen beschäftigen. Die Hauptfrage bleibt aber die der Integration – nicht nur die Integration der Flüchtlinge aus Afrika, Afghanistan, dem Kongo oder Nigeria, sondern auch die der vielen Menschen, die bedingt durch die Freizügigkeit der EU zu uns kommen. Während die Integration sicherlich eine innenpolitische Hauptaufgabe bleibt, sind die außenpolitischen Herausforderungen ebenso sehr komplex. Wie gestaltet sich das Verhältnis der EU zu Amerika und China, wie geht es mit Russland weiter? Die Frage bleibt, wie sich Europa so aufstellen kann, um weiter handlungsfähig zu agieren. Früher war Deutschland ein Vorbild für viele Länder, die die Bundesrepublik nachahmten, heute ist es schwieriger, weil uns aus dem Ausland auch Misstrauen entgegengebracht wird. Frieden, Demokratie, Entwicklung – das hatte früher eine Anziehungskraft. Heute wird die Arbeit der Stiftung in einigen Ländern eher skeptisch als ausländische Einflussnahme betrachtet.

*Frau Professor Männle: Was halten Sie vom Brexit-Durcheinander? Macht es da wirklich Sinn, den Termin für den Austritt immer wieder zu verschieben?*

Die Volksabstimmung und der damit einhergehende Diskussionsprozess waren überflüssig. Ich bin da ratlos, weil ein geregelter Brexit bereits schlimm genug ist, ein ungeordneter noch schlimmer wäre. Diese ständigen Verschiebungen führen zu Politikverdrossenheit. Gerade in der Demokratie muss man immer die Fakten auf den Tisch legen und darf nicht zulassen, dass Brunnenvergiftung stattfindet. Ein seriöser Diskussionsprozess hat beim Brexit einfach nicht stattgefunden. Wenn man nur kurzfristig, populistisch und mit falschen Fakten hantiert wie das die Brexit-Befürworter getan haben, um die Abstimmung für sich zu entscheiden, aber die möglichen Folgen nicht bedenkt, ist dies einfach unverantwortlich. Und das Ergebnis sehen wir jetzt: Misstrauen überall. Anhand des Brexits sehen wir auf der anderen Seite doch allzu gut, was uns allen Europa bringt: Aus Feinden wurden Freunde. Europa muss jetzt als geschlossene Einheit auftreten, nicht nur um andere Austritte zu verhindern, sondern sich auch ganz entschlossen gegen die Populisten in Stellung zu bringen, die diese großartige europäische Idee vergiften wollen. Darin sehe ich auch eine große Chance am 26. Mai, wenn in Europa gewählt wird, das großartige europäische Projekt weiter nach vorn zu treiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich das europäische Parlament weiter zersplittert, deshalb müssen wir uns gegen die europafeindlichen Kräfte zusammenschließen. Ich hoffe, dass die EVP die Mehrheit bekommt und verspreche mir auch durch den besonnen, sehr argumentativen Kurs von Manfred Weber, dass er Kommissionspräsident werden kann. Aber dazu gehört auch wieder eine riesige Überzeugungsarbeit und Motivationskampagne, um die Menschen zu den Urnen zu bringen. In diesem Zusammenhang fand ich es sehr interessant, dass in München ansässige Generalkonsulate aus Ländern der Europäischen Union auf uns zugekommen sind und gefragt haben, ob wir nicht gemeinsam aufklären können, dass auch ihre jeweiligen Bürger, die in Deutschland leben, hier wählen dürfen und sollen.

*Warum haben es Frauen in einer demokratischen Gesellschaft weiterhin so schwer, in die richtigen, verantwortungsvollen Positionen zu bekommen? Sie kritisieren immer wieder, dass zu wenige Frauen in der Politik agieren. Wenn man derzeit in den Deutschen Bundestag blickt, liegt der Frauenanteil bei 32 Prozent. Das ist Ihnen aber immer noch zu wenig, oder?*

Der Prozentsatz war früher auch schon einmal höher. Wir haben erst seit hundert Jahren ein Frauenwahlrecht, da gilt es, noch vieles nachzuholen. In der Nachkriegszeit wurde die Rolle der Frau in der Gesellschaft anders definiert. Ein Grund für den geringen Anteil von Frauen in der Politik mag darin liegen, dass für viele Frauen der Beitritt zu einer politischen Partei nicht unbedingt Priorität genießt. Frauen wahren Distanz, Machtbewusstsein ist nicht prioritär. Hannah Arendt gab eine eigene, weibliche Definition von Macht: Es geht nicht darum, den eigenen Willen gegen den Willen anderer durchzusetzen, vielmehr gilt es, das für richtig Erkannte gemeinsam zu vertreten. Frauen sehen aber, dass Macht oft egoistische Maximen verfolgt. Es ist für viele Frauen schwierig, in Positionen einzutreten, die männlich besetzt sind. Jedoch hat sich seit dem Beginn meiner politischen Karriere gerade in den letzten Jahren sehr viel getan; früher war die Stellung der Frau in einer Männerdomäne viel schwieriger, denn es bedurfte viel Durchsetzungskraft. Nur mit einem unbedingten Gestaltungswillen, dem Willen der Veränderung, konnte man alte Strukturen durchbrechen. In den konservativen Parteien war es schwieriger, sich als Frau zu behaupten, aber auch hier hat sich vieles zum Guten verändert. In einer Partei wie der CSU, in der die Direktmandate bisher aller meistens in Wahlkreisen gewonnen wurden, hat man in diesen ungern Frauen kandidieren lassen. Nur wenn der Gewinn eines Mandats von vorneherein als überwiegend erfolglos eingestuft wurde, war das anders. Ansonsten verwies man die Frauen auf die Listen. Aber nur wenige Mandate wurden für die CSU über die Liste vergeben. Inzwischen hat die CSU-Parteispitze deutlich erkannt, wie wichtig Frauen in der Politik sind, an der Basis setzt sich dies aber nur langsam durch. Es wäre blauäugig zu sagen, wir regeln die Vertretung der Frauen in den Parlamenten über eine Quotierung. Es bedürfte eine Änderung des Aufstellungsverfahrens oder sogar des Wahlrechts, um Gleichstellung zu erreichen. Frauen müssen zuerst lernen, zu kämpfen, sich die Macht aktiv zu erobern.

*Nun haben wir Greta Thunberg und eine neue Klimabewegung. Was sagt die Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung dazu? Schulstreit in der Schulzeit korrekt?*

Rechtliche Regelungen werden schnell obsolet, wenn man sich nicht daranhält. Und die Schulpflicht gehört dazu. Ich finde die Diskussion ein bisschen scheinheilig, gleichwohl ich es gut finde, dass demonstriert wird und die Öffentlichkeit weiß, was die jungen Leute wollen. Doch es bleibt dabei, die Schulpflicht kann deswegen nicht ausgehebelt werden. Demonstrationen sind in Ordnung, aber nicht die Verletzung von Recht. Also wären Demonstrationen außerhalb der Schulzeit das Mittel der Wahl gewesen. Dann wäre aber wohl der mediale Hype nicht so groß gewesen.

*Die Hanns-Seidel-Stiftung berichtet seit vielen Jahren aus den verschiedensten Regionen der Welt, aber nicht unbedingt aus den Zentren, wo politisch etwas geschieht. Die Außensektionen sollen deshalb verändert werden! Was haben Sie vor?*

Bei der Hanns-Seidel-Stiftung haben wir den Umstrukturierungsprozess dahingehend begonnen, dass wir zum Beispiel die Betreuung der osteuropäischen EU-Länder aus unserem eigentlichen, großen und vorher zuständigen Bereich Entwicklungspolitik herausgenommen und eine eigene Abteilung für den Europäischen Dialog gegründet haben. Weil eine Arbeit heute in Ungarn, Rumänien, aber auch manchmal in der Ukraine oder Albanien einen anderen Stellenwert hat, andere Akzente setzen muss als eine Arbeit im Kongo oder in Indien. Das habe ich sehr forciert und in Gang gebracht, obwohl der Demokratisierungsprozess in diesen europäischen Ländern noch nicht abgeschlossen ist. Wir hatten in den vergangenen 30 Jahren unseren Fokus nach der Wende ja sehr stark nach Osteuropa gelegt, Westeuropa als „sichere Bank“ betrachtet. Das haben wir nun dahingehend geändert, dass wir auch in Westeuropa den Dialog verstärkt fördern. Natürlich sind wir in Brüssel, Washington und Moskau vertreten. Nun haben wir zusätzlich Frankreich und England im Fokus. Leider sind wir unter den Politischen Stiftungen eher eine kleine und verfügen daher nicht über große finanzielle Mittel, um überall schnell Verbindungsbüros zu eröffnen. Aber unser neuer Ansatz besteht darin, Ost- und Westeuropa näher zusammenzubringen. Und damit hoffen wir, die künftige Europäische Einigung und Einheit ein Stück weiter voranzubringen.

Fragen: Stefan Groß

Europa ist ein Friedensprojekt

Mit dem Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskammer Bayern, Frank Walthes, sprach The European über das Friedensprojekt Europa, über die Notwenwendigkeit einer Europäischen Armee und über die Aufgaben, die Europa dringend lösen muss.

Europa ist ein Friedensprojekt. Was ist Ihre Vision von einem gemeinsamen Europa?

Ja, Europa ist ein Friedensprojekt. Da bin ich einig mit Jean-Claude Juncker, dem diesjährigen Preisträger des „Freiheitspreises der Medien“: „Will man die Wirkung von Europa spüren, fühlen und sehen, muss man nur an die Soldatenfriedhöfe des ersten und zweiten Weltkriegs gehen.“ Damit so etwas nicht mehr passiert, lohnt alle Anstrengung für ein gemeinsames Europa.
Meine Vision ist, dass ein vereinigtes Europa im Sinne einer gemeinsamen Organisation entsteht. Ob Staatenbund, Bundesstaat oder vereinigte Staaten, wird der politische Diskurs zeigen. Wir sehen aktuell, dass Europa bereits heute nahezu unauflöslich miteinander verbunden und es schwierig ist aus diesem Staatenverbund – wie ihn die Europäische Union derzeit bildet, auszusteigen. Sonst würden sich die Engländer mit dem Brexit nicht so schwer tun.

Was macht einen überzeugten Europäer, wie Sie einer sind, aus?

Dass ich ein überzeugter Europäer bin, begründet sich zum einen durch meine familiäre Prägung, zum andern aus meinem gesellschaftspolitischen Engagement. Ich bin in Nordbayern, im ehemals bayerischen Zonenrandgebiet in Oberfranken, aufgewachsen und konnte die Folgen des zweiten Weltkrieges noch unmittelbar erleben. Mein Vater war noch Kriegsteilnehmer und u.a. auch in Frankreich im Einsatz. So habe ich mich während meines Studiums bewusst für längere Aufenthalte in Frankreich entschieden und ebenso entschied sich vor kurzem mein Sohn in Paris zu studieren. Was ich damit sagen möchte ist, dass mich das Thema Europa schon immer begleitet und ich durch die enge Bindung, in diesem Fall eben an Frankreich, die europäischen Ideen und deren Entwicklung zu schätzen weiß. Meine Mutter war während ihrer Schulzeit als eine Fullbright-Stipendiatin in den USA. Beide Elternteile haben mir Werte, wie Offenheit, Toleranz, Pluralismus und ein gutes Demokratieverständnis vermittelt. Folglich habe ich mich selbst bereits als Abiturient für die Europa Union und die Jungen Europäer engagiert und war stellvertretender Landesvorsitzender in Bayern. Ich habe an den Grenzen Europas zwischen Deutschland und Österreich oder zwischen Deutschland und Frankreich für freie Fahrt für freie Bürger demonstriert. Das alles hat dazu beigetragen, dass ich ein überzeugter Europäer bin. Ich habe vom Geldwechseln bis hin zu den Schwierigkeiten im europäischen Ausland ein Praktikum zu absolvieren oder zu studieren, das Meiste selbst erlebt hat. Das war noch vor den Verträgen von Maastricht und Lissabon sowie noch vor dem Bologna-Prozess der Anerkennung von Studienleistungen.

Die EU wird oft kritisiert, weil sie für zu viel Bürokratie steht. Stimmt das?

Grundsätzlich sehe ich das auch so und wer selbst davon betroffen ist, der ärgert sich auch darüber. Dennoch, die Einheit in der Vielfalt abzubilden ist auch eine große Herausforderung und dafür muss man auch ein gewisses Verständnis aufbringen. Ich meine, das richtige Maß ist noch nicht gefunden. Wenn ich mir die nicht enden wollenden Regularien für die Finanzindustrie ansehe, die stetig wachsende Kapazitäten in den Unternehmen binden, ohne dass ein Nutzen für das Unternehmen oder für unsere Kunden erkennbar ist. Hier halte ich nicht in jedem Punkt eine europäische Regelung für sinnvoll. Oft sind diese auf nationaler oder gar regionaler Ebene oft schlicht nicht umsetzbar ist. Auch verstehe ich überhaupt nicht, weshalb wir seit diesem Jahr bei grenzüberschreitenden Geschäftsreisen alle wieder A1-Formulare in Europa mitführen müssen. Das halte ich für deutlich überzogen. Aber es gibt natürlich eine Reihe von Themen, die einheitliche Normen und übergeordnete Regelungen erfordern, weil externe Effekte sich auf lokaler oder regionaler Ebene nicht integrieren lassen. Beispielsweise beim Klimaschutz. Auch die Sozialstandards, die mit dem freien Binnenmarkt für die Arbeitnehmerfreizügigkeit einhergehen, erfordern zentrale Regelungen seitens der europäischen Union.

Brauchen wir eine europäische Armee?

Das Thema einer europäischen Armee beschäftigt uns seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Durch die NATO und durch die bilaterale Zusammenarbeit der NATO-Staaten stand dann aber viel mehr die gemeinsame Entwicklung von Verteidigungssystemen, wie man das von Airbus oder Eurofighter kennt, im Vordergrund. Durch die von den USA jedoch zunehmend lauter werdende Kritik an der NATO, rückt die Frage einer europäischen Armee wieder stärker in den Fokus. Ich vertrete die Ansicht, dass wir eine europäische Armee brauchen. Wir müssen Europa militärisch und sicherheitspolitisch vernünftig ausstatten, nicht zuletzt um sein politisches Gewicht in der Welt und seine Unabhängigkeit zu stärken. Die deutsch-französischen Aktivitäten oder bilaterale Aktivitäten sind zu wenig, um einen verteidigungs- und einen sicherheitspolitischen Beitrag zu leisten. Deswegen glaube ich, dass die Europäische Verteidigungsgemeinschaft tatsächlich vor einer Renaissance steht.

Wo liegen die Grenzen Europas? Sollte man, bevor man weitere Länder in die EU aufnimmt, nicht erst dafür sorgen, dass die jetzigen Mitgliedsstaaten harmonisch agieren?

Europa ist ja nicht nur das Europa, das wir von der Landkarte kennen und auf Ländergrenzen beschränken können. Die Europäische Union ist, und war auch schon immer, eine bedeutende Wertegemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb gut funktioniert hat, weil, trotz aller Unterschiedlichkeit der Länder, eine Vielzahl gemeinschaftlicher Interessen verbunden wurden. Das waren Demokratieverständnis, Pluralismus und die Integration von politischen und ökonomischen Themen in das Gesellschaftliche. Es ging um eine Einheit bei bekannter Vielfalt. Mir liegt vor allen Dingen an dieser Wertegemeinschaft und weniger an der Frage, wer historisch gesehen welche Einflusssphären für sich in Anspruch nehmen kann. Die westlichen Länder, insbesondere wir Europäer, bekennen uns zu bestimmten Mechanismen der Meinungsbildung, der Mehrheitsbildung und der Daseinsvorsorge. Die Länder, die sich diesen Werten verschreiben und diesen auch folgen, haben die Chance, über viele verschiedene Stadien der Zugehörigkeit an Europa heranzurücken.

Welcher Europäer hat Sie am nachhaltigsten beeindruckt?

Das war vor allem Charles De Gaulle. Er hat mit Adenauer zusammen den deutsch französischen Freundschaftsvertrag auf den Weg gebracht. Charles De Gaulle war eine Person, die viele der zum Teil bis heute strittigen Themen angestoßen hat: Vom Europa der Vaterländer zum Bundesstaat Europa bis hin zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Es zeigt sich seither, dass Europa immer um den rechten Weg gerungen hat. Charles De Gaulle ist an dieser Stelle für mich immer einer der Initiatoren eines friedvollen Europas gewesen. Eines der bedeutendsten Beispiele einer friedvollen Revolution ist für mich die Wiedervereinigung innerhalb Deutschlands.

Welches Thema ist für Sie das Thema, das Europa dringend lösen muss?

Das eine Thema als solches gibt es nach meiner Einschätzung nicht. Es sind die festgeschriebenen vier Freiheiten der EU (freier Personenverkehr, freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr) an denen gleichermaßen stringent gearbeitet werden muss. Als Vorstandsvorsitzender des Konzerns Versicherungskammer, dem siebt größten Erstversicherer und größtem öffentlichen Versicherer in Deutschland, liegt mir natürlich in erster Linie an den Finanzmarktthemen. Finanzmarktstabilität muss das oberste Gebot sein. Die durch die Finanzmarktkrise 2008 eingeläutete und bis heute anhaltende Niedrigzinspolitik geht einher mit einer schleichenden Geldentwertung und einer Entmündigung sowie Enteignung der Sparer. Diese zwischenzeitlich als kritisch einzustufende Situation erfordert dringend wieder eine Normalität in der Geldpolitik. Das setzt stabile Staatshaushalte voraus und damit die Befolgung und Einhaltung der Mechanismen, um die Staatsschuldenkrise zu bekämpfen. Wir brauchen hier eine Politik der Austerität, d.h. eine restriktive Fiskal- und Sparpolitik, die Angela Merkel zu Beginn der Finanzmarktkrise in den Mittelpunkt gestellt hat.

Des Weiteren erachte ich das Thema der inneren Sicherheit für sehr wichtig. Wir haben die sozialen Standards auf der einen Seite, und das Bedürfnis nach Sicherheit und Rechtssicherheit auf der anderen. Dies in Einklang zu bringen, halte ich für eines der Ziele, die mit höchster Priorität verfolgt werden müssen. Zusammenfassend sind mir somit diese drei Themen wichtig: Finanzen, Soziales und innere Sicherheit.

Fragen: Stefan Groß

Sigmar Gabriel und Viktor Orbán wollen Merkel als Ratspräsidentin

von Stefan Groß-Lobkowicz20.06.2019Europa, Gesellschaft & Kultur, Medien

Europa könnte weiblicher werden. Die Zeiten, in denen in Brüssel und Straßburg Jean-Claude Juncker und Donald Tusk regierten sind vorbei. Wie aus unionsinternen Kreisen zu hören ist, könnte Bundeskanzlerin demnächst Ratspäsidentin werden. Merkel, die immer wieder darauf verwiesen hatte, dass sie nach ihrer Kanzlerschaft für kein politisches Amt mehr zu Verfügung steht, würde damit die Flankendeckung für ihre Ur-Vertraute Ursula von der Leyen übernehmen.

Wird mit der ehemaligen deutschen Kriegsministerin nach 50 Jahren erstmals eine Deutsche nach Walter Hallstein an die Spitze der EU treten, könnte das Führungsduo nun eindeutig noch deutscher werden. Von der Leyen hatte zuletzt in Deutschland für Aufsehen gesorgt, die Bundeswehr in einem, um es positiv zu sagen, nicht gerade glänzendem Zustand hinterlassen und war mit hohen Berateraffären immer wieder in der Kritik geraten. Von der Leyen und die Bundeswehr – wohl eher eine Leidens- als eine Vorzeigegeschichte.

Von der Leyen – die Menschenfängerin

Doch so sehr die in Brüssel sozialisierte von der Leyen immer wieder in der Kritik stand, wie sehr man ihre Selbstinszenierung, ihr aufgesetztes Kokettieren nicht leiden mag, Leyen kann versöhnlich, sie vermag zu binden, ist eine Menschenfängerin und damit letztendlich für das Amt der Kommissionspräsidentin ebenso geeignet wie der aufgeschlossene und gutherzige Juncker, der das Schiff Europa durch schwere, vielleicht die schwersten Zeiten manövrieren musste. Bei aller Kritik, die über dem Luxemburger wie ein Teerfass ausgeschüttet wurde, ohne seine bindenden, versöhnlichen und kommunikativen Fähigkeiten stände es noch viel schlechter um Europa. Juncker hatte beherzt verbunden.

Donald Tusk – der Europavisionär

Mit Donald Tusk betrat vor sieben Jahren ein Politiker europäischen Boden, der wie Angela Merkel im Osten sozialisiert wurde; der Pole war Anhänger von Lech Walesa und Solidarnosc-Mitglied. Tusk weiß aus eigener Vita wie hart Demokratie zu erkämpfen ist und welche Mühen der Ebene zu durchschreiten sind. Als glühender Verteidiger europäischer Werte bekämpfte er leidenschaftlich gleichermaßen Despoten wie Putin und Brexitbefürworter. Vieles von dem, was sich Tusk von Europa versprach, ist mittlerweile Realität, doch viele seiner ambitionierten Projekte, so der noch brüchige Frieden in der Ukraine, stehen nach wie vor ungelöst im offenen Raum.

Merkels Gabe der Versöhnung

Tusk, den Barack Obama damals als das frische Gesicht Europas glühende Begeisterungsstürme entgegenbrachte, hätte in Angela Merkel eine würdige Nachfolgerin. Das Mädchen Kohls, das nicht nur gegen den übermächtigen Parteichef in der Spendenaffäre rebellierte, die einst unbedarfte Pastorentochter aus dem Norden, die oft immer zögerliche Naturwissenschaftlerin, hatte es die letzten Jahre in Deutschland nicht leicht. Ihr Mittekurs, ihr Auf-Sicht-Fahren, ihr zögerliches Abwarten einerseits oder Schnellsprünge wie beim Atomausstieg, der Migrationskrise und dem Kohlsausstieg andererseits haben Merkels Sympathiewerte immer wieder buchstäblich in den Keller fahren lassen. Doch die eiserne Kanzlerin hat mit stoischer Gelassenheit die Widrigkeiten des Politischen wie Seifenschaum einfach abgewaschen. Merkel, und das scheint eine Gabe zu sein, die ihr jetzt auf der europäischen Bühne wie eine magische Zauberkraft zugute käme, vermag zu schlichten, zu versöhnen. Statt männlichem Hahnenkampf und Selbstinszenierung weiblicher Weitblick und Harmonie. Merkel kann – gerade weil sie so viel Mitte ist – Kommunikation dort stiften, wo männliches Alphagehabe jedweden Diskurs zerstört. Und mit dieser ihrer versöhnenden Art wird sie vielleicht in die Geschichte eingehen. Das sehen viele ihrer Weggefährten mittlerweile so, auch viele Kritiker, die Merkel in den letzten Jahren immer wieder an den Pranger stellten. Die gefühlte ewige Bundeskanzlerin stand und steht für Stabilität in wilder See, gilt als Rettungsanker und glänzt auf dem internationalen Parkett vielleicht mehr als auf dem Boden der Berliner Republik.

Das US-Magazin „Forbes“ Magazin kürte Merkel zum achten Mal in Folge zur wichtigsten Frau der Welt. Im Ausland wird sie wie ein Popstar verehrt, gilt das Macherin, Strippenzieherin, ja als „Anführerin Europas“. Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, bezeichnete die Bundeskanzlerin rückblickend als seine außenpolitisch wichtigste Partnerin.

Die Europa-Vision der Kanzlerin

Auf europäischem Boden folgt Merkel Mitterand und Kohl. Europa ist ihr eine Herzensangelegenheit. Und das ihr Europa gut steht, offenbarte sich in ihrer Grundsatzrede im Europaparlament 2018. Was Merkel geradezu heraufbeschwört, ist die Einheit der EU, der alte identitätsstiftende Gedanke von der Einheit in der Vielheit. Europa soll für Merkel eine funktionierende Rechtgemeinschaft sein, was aber eben nur gelingt, wenn alle an einem Stick ziehen. Jenseits von Trumps „Amerika First“ plädiert sie für eine europäische Armee, für ein autonomes und stabiles Europa, das sich in Zeiten internationaler Unsicherheiten mehr auf sein eigene Identität konzentrieren muss, denn die „Zeiten, wo wir uns auf andere verlassen konnten, die sind eben vorbei. Wir müssen unser Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen, wenn wir überleben wollen.“

Und Merkel will europäisch mehr Demokratie wagen, was jedoch nur funktioniere, wenn Alphatiere, von denen es im europäischen Rat genügend gibt, nicht spröde und machtversessen auf ihre Nationalstaatlichkeit pochen, den Rechtsstaat aushöhlen, die Presse intrinsisch manipulieren oder die Zivilgesellschaft einschüchtern. Anstelle von autokratischen Tendenzen geht es Merkel als Europäerin um das Große und Ganze, um den allgemeinen Willen und darum „nationale Egoismen zu überwinden“. „Respekt für andere und die Wahrung eigener Interessen sind kein Gegensatz – im Gegenteil“. Denn nur als eine, die eine Sprache spricht, könne sich die EU auf der Weltbühne behaupten. „Einheit und Geschlossenheit sind für die Zukunft Europas unverzichtbar“. Merkel plädiert daher auch für einen europäischen Sicherheitsrat“, denn Nationalismus und Egoismus, so ihr Credo, dürfen in Europa nie wieder eine Chance bekommen. Möglich wäre dies, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Realität würden und die „Kommission eines Tages so etwas wie eine europäische Regierung ist“.

Die Europäerin

Wie kaum ein anderer europäischer Politiker hat Merkel Europa buchstäblich inkarniert, wie kein anderer kann sie schlichten und doch interessengesteuert agieren. Als Ratsvorsitzende hätte Merkel alle Fäden der zurückgebliebenen 27 Staatschefs in der Hand, könnte diese entweder als Dompteurin zähmen, sie im politischen Kampf aber auch zu Marionetten und egozentrischen Statisten werden lassen kann und in ihre farblose Geschichtslosigkeit zurückschicken.

Brückenbauerin – Made in Germany

Eigentlich sind es schon lange nicht Tusk und Juncker, die Europa führen, sondern die deutsche Kanzlerin ist – zumindest in der Welt schon lange – das Gesicht des Kontinents. Mit dem Posten der Ratspräsidentin hätte sie formal nur einen, den sie schon lange nebenbei wahrnimmt, wenn sie auf dem europäischen Parkett ihre politischen Fäden zieht, die Kleindespoten aus Ungarn, Polen oder Italien immer wieder in die Realität zurückholt, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf Abstand und Nähe zugleich hält und dem amerikanischen US-Präsidenten Donald Trump die gerunzelte Stirn entgegenwirft.

Wenn es ihr spätestens nach der Flüchtlingskrise in Deutschland innenpolitisch nicht mehr gelungen ist, Brücken zu bauen, gelang ihr das in Europa und der Welt immer besser. Merkel ist mit Sicherheit eine bessere Außenpolitikerin als -innenpolitikerin und Außenminister wie Heiko Maas wirken gegenüber der Kanzlerin wie farblose Schultaschenträger denen Merkel Lichtjahre voraus ist, was Geschick, Auftritt und politischen Gestaltungs- und -durchsetzungswillen betrifft. Nicht umsonst plädierten der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel und der ungarische unbezähmbare Löwe Viktor Orbán jetzt für Merkel als Ratspräsidentin.

Gut gemacht Herr Kurz!

Für viele seiner Kritiker ist er ein Hardliner und Machtpolitiker. Doch mit seiner Entscheidung, Neuwahlen in Österreich auszurufen, hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz einmal mehr bewiesen, dass er ein Mann mit Weitblick ist.

© Stefan Groß

Nach dem Skandal-Video um FPÖ-Chef Hans-Christian Strache liegt Österreich im Wachkoma. Das westliche Ausland feiert den gigantischen Fauxpas des besoffenen Straches schon als Sieg der Demokratie über die verhassten Rechtspopulisten und sieht darin gleich ein globales Niedergangsphänomen. Gerade vor der Europawahl und einem neuen Rechtsbündnis unter Matteo Salvini, Jörg Meuthen, Marie Le Pen und Co kommt der Schicksalsschlag der Rechten wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk einher.

Kurz: „Die FPÖ schadet unserem Land“

Fakt ist: Die rechte FPÖ des einstigen Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider hat sich politisch ins Aus geschossen. Im sogenannten Ibiza-Video, das taktisch klug vor den EU-Wahlen in den Fokus des öffentlichen Diskurses rückte, hatte Hans-Christian Strache für eine eindimensionale Medienlandschaft nach dem Vorbild von Viktor Orbán in Ungarn geworben, wollte Österreichs Aushängeschild, die „Kronen Zeitung“, gar an russische Oligarchen verkaufen, um die kritische Presse mundtot zu machen und die Freiheitlichen durch russisches Oligarchengeld protegieren lassen. Sauberer Wahlkampf geht anders. Damit hat sich Strache disqualifiziert und seine ganze Partei gleich mit in den Abgrund gerissen; ein Dilemma für die rechtsaußen Blauen, die in den letzten Jahren kontinuierlich an Einfluss gewonnen hatte. Straches Abgang von der politischen Bühne war jedoch die einzige und notwendige Konsequenz – auch um Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht weiter zu belasten.

Kurz setzt sein Amt aufs Spiel

Während das politische Beben Österreich erschüttert und die Gräben im Land noch vertieft, hatte sich hingegen der österreichische Bundeskanzler als genialer Jongleur im Tigerkäfig erwiesen. Kurz, der in Deutschland und Frankreich gern als Enfant terrible ob seiner radikalen Migrationspolitik gesehen und gleich mit in die rechte Ecke der FPÖ geschoben wird, brillierte gestern wieder einmal mehr und bestätigte zugleich damit sein Genie als Ausnahmepolitiker. Kurz ist eben mehr als ein smarter Politiker, der weichgespülte Thesen in den Raum knallt, der um den heißen Brei lange redet, um letztendlich nichts zu sagen. Er hat seine Wahlversprechen – auch und gegen die FPÖ – eingelöst. Kurz ist eben kein deutscher Bundespolitiker, sondern ein Mann, der im Ausnahmefall, die richtige Entscheidung zu treffen vermag. Und die hat er jetzt getroffen, denn, so Kurz, die „FPÖ schadet unserem Land“. Der 32-Jährige hätte eine Minderheitsregierung ausrufen können, die zweite in der Geschichte Österreichs nach dem SPÖ-Kabinett Kreisky I im April 1970. So hätte er sich zumindest den Posten des Kanzlers gerettet. Doch ganz so machtpolitisch denkt Kurz dann auch wieder nicht, wenn er jetzt Neuwahlen fordert. Denn damit wirft der Allrounder sein politisches Amt selbst in den Ring und kann nur hoffen, dass ihm die Wiederwahl gelingt.

Mit der SPÖ will er nicht

Den Status des Saubermanns musste sich Kurz in der kurzen Koalition mit der FPÖ immer wieder erarbeiten. Sein Kurs, ausgerechnet die rechtskonservative Haiderpartei zu adeln und sie in der Wiener Republik hoffähig zu machen, hatte seine Sympathiewerte gerade im westeuropäischen Ausland purzeln lassen. Allzu gern hätte man ihn als „Baby-Hitler“ abserviert und ins politische Nirwana geschossen. Doch Kurz fährt eben nicht auf Sicht, sondern denkt taktisch weiter, schmiedet schon Pläne für eine starke ÖVP, die nach den Neuwahlen politisch das Ruder an sich reißen kann, ohne dabei von einem Koalitionspartner dauernd erpresst zu werden. Sei dieser nun die sich selbst demokratisch geoutete FPÖ oder die SPÖ unter der jungen, aber uncharismatischen Pamela Rendi-Wagner, die Kurz gleich nach Straches Rücktritt ein politisches Fehlversagen konstatierte und ihren Machtanspruch formulierte. Statt politisch, die Entscheidung für Neuwahlen zu goutieren, wieder nur Lamento und Kritik der Sozialisten aus allen Kanonenrohren.

Selbst im Augenblick des Neuanfangs erweist sich Rendi-Wagner als Miesepeter; sie hätte die Macht sicherlich nicht so schnell aus der Hand gegeben. Und damit zeigt sich bereits jetzt: Rendi-Wagner ist Kurz nicht gewachsen, weder als Persönlichkeit noch als Politikerin, sie ist zu verspielt, zu vordergründig ehrgeizig, von einer ganz durchschaubaren Art machtbesessen, eine Katharina Schulze der Sozialdemokraten eben. Inhaltlich passen SPÖ und ÖVP derzeit auch gar nicht zusammen, das hat Kurz klar und deutlich formuliert und einer derartigen Koalitionsgemeinschaft a priori eine Absage erteilt.

Keine deutschen Verhältnisse in Österreich

Was Sebastian Kurz mit allem Nachdruck verhindern will, ist das Comeback einer Großen Koalition nach dem Vorbild Deutschlands oder der Vorgängerregierung unter Christian Kern (SPÖ), wo statt Bewegung und Aufbruch nur Stillstand und Streit regieren. Und mitten im Ausnahmezustand wirbt der Optimist Kurz schon wieder für seinen Kurs und für einen weiteren Aufbruch des Alpenlandes unter seiner Regentschaft. „Ich möchte gerne für unser wunderschönes Land arbeiten und zwar mit meinem politischen Zugang, mit meinem Kurs und auch mit der Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Aber ganz ohne Einzelfälle, Zwischenfälle und sonstige Skandale. Ich glaube, dass das derzeit mit niemandem möglich ist. Die FPÖ kann es nicht, die Sozialdemokratie teilt meine inhaltlichen Zugänge nicht, und die kleinen Parteien sind zu klein, um wirklich Unterstützung sein zu können.“

Kurz bleibt es zu wünschen, und Österreich auch, dass die ÖVP beim Poker um die Macht letztendlich eine Mehrheit einfährt, hoffentlich auch mit vielen Stimmen, die früher an die FPÖ verloren wurden. Denn: Kurz hat als Kanzler für Österreich eine gute Politik gemacht und seine Wahlversprechen gehalten – und er hatte bei aller Schmach, die ihm auch persönlich durch die FPÖ erwachsen ist – zumindest die Größe, sich für die gemeinsame Regierungsarbeit zu bedanken. Eine große Geste in diesem rasanten Zeiten. Aber es zeigt auch: Kurz ist ein Gentleman, der nicht, wie bei solch politischen Katastrophen und geheimdienstlichem Schmierentheater durchaus üblich, den einstigen Partner bis ins Blut hinein verteufelt. Das weiß sein Wahlvolk auch und wird es ihm zugute halten.

Wird Bundeskanzlerin Angela Merkel neue EU-Kommissionspräsidentin oder Ratspräsidentin?

Die Spekulationen um die politische Karriere von Angela Merkel gehen weiter. Ist das Kanzleramt doch noch nicht die letzte Station der Bundeskanzlerin? Sie könnte möglicherweise das Amt des Ratspräsidenten oder des EU-Kommissionspräsidenten für sich beanspruchen.

Für viele hierzulande ist Angela Merkel die ewige Kanzlerin. Und für viele ist sie die Negativfolie von Flüchtlingskrise, Deutschlandspaltung und letztendlich dem Aufschlag der AfD auf der politischen Bühne. Wäre Merkel 2015 mit ihrer Politik der offenen Tore etwas dezenter verfahren, hätte sie innenpolitisch ihren Bonus nicht so schnell verspielt. Aber auch die potentielle Nachfolgerin im Amt, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer gilt innenpolitisch nicht als unbeschriebenes Blatt, nach der Europawahl, so wird gemunkelt, könnte sie den Staffelstab von Merkel übernehmen und zur neuen Hürdenläuferin im angespannten Deutschland werden. Ihr Manko allerdings, so zumindest hört man es aus internen CDU-Kreisen, ist der neue politisch-konservative Kurs. Anstatt ewiger Mitte wie in der Merkel-Ära will Kramp-Karrenbauer die Pole verschieben und der CDU jene Ursprünglichkeit und Unvertretbarkeit zurückgeben, die einst in der Nachfolge von Konrad Adenauer den Christdemokraten zu einem ungeahnten Höhenflug verhalf.

Kanzleramtsübergabe an Annegret Kramp-Karrenbauer

Die CDU ist mit Merkel und trotz Kramp-Karrenbauer politisch angeschlagen, die Volkspartei schrumpft, die AfD vor Kraft strotzt und die Grünen sind auf der Überholspur. Die drei anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden zum Gradmesser und Seismographen der CDU: Schlägt er zu weit rechts oder links aus, werden Köpfe rollen.

Kramp-Karrenbauer als neue Bundeskanzlerin könnte sich dann im politischen Sturm erste politische Meriten verdienen und die innenpolitisch angeschlagene Kanzlerin aus der Schusslinie nehmen. Nach der Europawahl und nach der Landtagswahl in Sachsen bieten sich also gute Gelegenheiten für eine vorzeitige Kanzleramtsübergabe an Annegret Kramp-Karrenbauer.

Doch es nicht so sehr die Alternative für Deutschland, die derzeit an den Grundfesten der Union rüttelt und ihr die Wähler massenweise abjagt, sondern die Grünen um Annalena Baerbock und Robert Habeck. In Personalunion könnte der komentenhafte Aufstieg der Grünen dem Erfolgsmodell der Union den Rang ablaufen.

Die grünen Revolutionäre

Die grünen Revolutionäre kommen nicht mehr mit Vollbart und Müsli um die Ecke, sondern sind Ausdruck einer bürgerlichen Elite, Kinder des Bürgertums, die sich Klima und Freiheit auf die Fahnen geschrieben haben. Aber auch bei den Grünen gilt: Wer sich politisch wie jüngst Jung-Sozi Kevin Kühnert zu extrem positioniert und mit seiner Sozialismus-Utopia-Idee einen ganzen Staat in die Raserei bringt, hat schlechte Karten. Robert Habeck sollte sich das hinter die Ohren schreiben, wenn auch er für Enteignungen plädiert und allzu forsch die kritische Kapitalismuskeule schwingt.

Während die Jungen bei den Grünen und der SPD also den Aufstand proben, segelte die Kanzlerin lange Zeit in einem politischen Fahrwasser auf Sicht. Merkel war die kluge Taktikerin, die weniger durch originelle Ideen auffiel als mit einem Gefühl für das, was der Fall ist. Und Merkel machte Politik nicht mit Weitsicht, sondern eben aus dem Kalkül heraus, was dem Mehrheitswillen entsprach. Damit konnte sie immer wieder punkten, das war quasi ihr Geheimrezept der Macht – und damit hatte sie mit einem 180-Grad-Kurwechsel immer wieder das Ruder an sich reißen können.

Merkel wird keine Lobbyistin

Taktisch klug auch ihr Rückzug auf Raten, denn Merkel war für viele nach 2015 zum Streit- und Hassobjekt geworden, zu einer Verwalterin ihrer eigenen Macht, zum Auslauf-Ego-Modell. Um überhaupt noch die Kanzlerschaft in Deutschland zu wahren, hatte sie vor einigen Monaten taktisch clever ihren Rückzug angekündigt und damit die Wählergunst wieder gewonnen. Denn nun war klar: Merkel geht, aber sie kann ihre Nachfolge noch bewusst klären.

Merkel, die viel für Deutschland und noch mehr für die Versöhnungskultur in Europa getan hat, könnte politisch abdanken und wie SPD-Kanzler Schröder oder Joschka Fischer Lobbyist werden und Millionen in ihre Pensionskasse spülen. Doch derart gepolt ist die nüchterne Frau mit protestantischem Pfarrershintergrund eben nicht. Merkel wird nicht ihr politisches Schwergewicht zugunsten eines Lobbyposten bei Gazprom oder einer dubiösen Putinfirma aufs Spiel setzten, das passt einfach nicht zu ihrem politischen Credo. Viel wahrscheinlicher ist es, dass Merkel die Berliner Republik verlässt und an der Schaltstelle der Macht, im Brüsseler Apparat, erneut Karriere macht. Merkel in Brüssel, Merkel als Nachfolgerin von Donald Tusk – das sind Denk-und Planspielspiele, die nicht von der Hand zu weisen sind und die selbst in Brüssel auf der Wunschliste stehen.

Jean-Claude Juncker votiert für Merkel

So hält es der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für wünschenswert, dass die Bundeskanzlerin eine Rolle auf europäischer Ebene übernimmt. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Angela Merkel in der Versenkung verschwindet.“ „Sie ist nicht nur eine Respektsperson, sondern ein liebenswertes Gesamtkunstwerk,“ so Juncker. Als versierte und kampferprobe Außenpolitikerin, die federführend die Regierungschefs wie kleine Marionetten nach ihrem Gusto tanzen lässt, die nicht nur Donald Trump Paroli bietet, die immer wieder die desperaten europäischen Politiker zur Harmonie zwingt und auf Kurs bringt, steht Sie für einen Pragmatismus mit eiserner Hand, wie man diesen nur noch von Margaret Thatcher, der englischen Eisernen Lady kennt. Derartige Durchschlagskraft wäre in einem Europa mit dem Brexit als Damoklesschwert eine sichere Bank dafür, dass die EU-Länder nicht noch weiter auseinander diffundieren. Juncker zumindest ist sich sicher: Merkel wäre für ein mögliches EU-Amt hochqualifiziert.

Chef von Davos wünscht sich Bundeskanzlerin

Zwar wollte Merkel nach ihrer Amtszeit als deutsche Regierungschefin keine politischen Ämter mehr übernehmen, doch vielleicht will sie einfach nur darum gebeten werden. Und dies weiß Stratege Juncker selbstredend und will keinesfalls, dass seine Kanzlerin in der Bodenlosigkeit verschwindet. Dies sei, so Juncker, dessen Amtszeit am 31. Oktober endet, auch für ihn die denkbar beste Alternative. Nach der Europawahl wird nicht nur die Stelle des EU-Kommissionspräsidenten vakant, sondern auch die von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Aber nicht nur Juncker könnte sich Merkel an der Schaltstelle in der Brüsseler Machtzentrale vorstellen, auch für den Chef und Gründer des Weltwirtschaftsforums von Davos, Claus Schwab, wäre die deutsche Protestantin eine Traumbesetzung. „Ich sehe niemanden außer ihr, der das könnte“. Und er legt nach: Europa brauche Reformen, aber vor allem eine starke, staatsmännische Führung, um die EU zusammenzuhalten. „Ich sehe niemanden außer ihr, der das könnte“.

Manfred Weber

Doch im politischen Karussell um die Nachfolge des EU-Kommissionspräsidenten schickt die EVP ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber ins Rennen. Weber ist ein Mann der Mitte, ein Brückenbauer, dem eine tiefe Aversion gegen Anti-Demokraten im Blut liegt. Putin, Orban und Erdogan spielen auf der Klaviatur seines Europas keine Rolle. Der Niederbayer gilt als umsichtig, ist den Mühen der Ebene entsprungen, erobert sich aber nicht leichtfertig das politische Parkett. Selbst wenn er als erfahrener Europolitiker gilt, der sich seine Meriten im Europäischen Parlament errungen hat, wirkt er doch zu gewollt, ein wenig zu harmoniesüchtig und letztendlich doch, wenn es um andere Meinungen geht, als Hardliner, der die kritischen Stimmen Europas nicht einzufangen vermag, sondern die Gräben noch vertiefen könnte. Rhetorisch brilliert er nicht, sein Plädoyer für Europa klingt wie ein einstudierter Singsang, der ewig die gleichen Floskeln beschwört und im Tenor „Alles wird gut“ meistens endet. Weber hatte nie Regierungsverantwortung und damit scheint Merkel doch die bessere Alternative. Zumal Merkel mit Weber nicht nur in Sachen Türkeikurs oder bei Nordstream 2 übereinstimmt, sondern bei diesem heiklen Themen ohnehin die bessere Vermittlerin beim Diskurs mit den Autokraten wäre.

Franz Timmermanns

Für mehr politisches Charisma steht der niederländische SPD-Politiker Franz Timmermans. Der 57-jährige, der sieben Sprachen perfekt spricht, ist ein politisches Urtier, war Erster Vizepräsident und EU-Kommissar für Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtecharta in die EU-Kommission. Der humorvolle und stets um Ausgleich bemühte Timmermans war sowohl für die Eröffnung des Verfahrens gegenüber Polen sowie für die EU-Klage gegen Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof verantwortlich.

Und Timmermanns ist Patriot und Europäer zugleich ein „patriotischer Europäer“ eben, der seine Bewerbung als SPE-Spitzenkandidat nicht in Brüssel, sondern in einer Kneipe in seiner Heimatstadt Heerlen bekannt gab.

„Super-Franz“ kennt keine Starallüren, ist der heimatlichen Scholle ebenso verbunden wie der weiten Welt Europas. Als erfahrener Außenpolitiker wird er nicht nur in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie geschätzt, nicht zuletzt für seinen Kampf um die Arbeiterrechte.

Doch sehr Timmermanns als Persönlichkeitsmodell überzeugt, die Sozialdemokraten haben derzeit auch in Europa schlechte Karten, denn die christdemokratische EVP führt derzeit in den Umfragen und damit steigen auch die Chancen für die Bundeskanzlerin.

Nach einer Umfrage vor den Europawahlen haben Konservative und Sozialdemokraten derzeit keine Mehrheit innerhalb der EU-Volksvertretung. Derzeit käme die EVP auf 188 Sitze, die Sozialdemokraten auf 142 und die Liberalen auf 72, die Grünen auf 51, die Linken auf 49 und die rechtsgerichtete EU-kritische Allianz aus ENF, ECR und EFDD käme mit 144 Mandaten gar auf Platz 2 hinter der EVP. Kurzum: EVP und SPE bräuchten die Unterstützung anderer Fraktionen. Und die dann als Mehrheitsbeschaffer infrage kommenden Liberalen und Grünen könnten als Gegenleistung auf einen anderen Kandidaten als Weber bestehen. Zum Beispiel auf die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager.

Doch die engagierte dänische Pastorentocher und Politikerin der sozialliberalen Partei Radikale Venstre (RV) und derzeitige EU-Kommissarin für Wettbewerb, die Giganten wie Google, Amazon und Facebook zum Wanken bringt und Konzerne wie Fiat-Chrysler und Starbucks auf 30 Mio. Euro Steuernachzahlung verklagt, die Frau, die Apple und Google hassen, hat noch ein wenig Zeit, sich politisch Meriten zu verdienen.

Bleibt also noch Donald Tusk und das Amt des EU-Ratspräsidenten.

Nachfolgerin von Tusk?

Für Merkel politisch interessant wäre auch der Posten des EU-Ratspräsidenten, der seit 2014 in der Hand des Polen Donald Tusk liegt. Der Pole, der sieben Jahre als Ministerpräsident seines Landes regierte und dessen Amtszeit im November endet, war Anhänger von Lech Walesa und seiner Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc; er schlug sich als Bauarbeiter und Brotverkäufer durch. Er kennt es also das Leben in den Mühen der Ebene. Auch Tusk gilt als überzeugter Europäer, als einer, der das Herz auf der Zunge trägt, der manchmal ungelenk und unumwunden, sein politisches Credo verkündet. Tusk ist Europapolitiker und Geopolitiker in einem, verkörpert die transatlantische Idee, kämpft für das Erstarken Osteuropas und plädiert für die westlichen Werte ohne Despoten wie Putin, der ihm als Antiliberaler und Despot gilt.

Tusk gilt seit 2014 als das frische Gesicht Europas, der sogar Barack Obama damals begeisterte. In der Nachfolge von Herman von Rompuy brachte er frischen Wind nach Brüssel. Und er war alles in Personalunion: ein leidenschaftlicher Politiker, Demokrat und ein Träumer Europas. Legendär seine Wutrede auf die Brexitbefürworter, wo sich Tusk ausmalte, wie der spezielle Platz in der Hölle für diejenigen aussehen könnte, die den Brexit wollten, ohne auch nur eine Idee davon zu haben, wie sich das sicher erreichen lässt.

Doch auch am Ende seiner Amtszeit bleiben seine großen Projekte offen. Noch gibt es keinen endgültigen Frieden in der Ukraine – eine Bitterkeit für einen, der immer wieder für Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit stritt.

Dennoch Tusk hat die letzten Jahre Europa entscheidend mitgeprägt und sein Nachfolger muss diese großen Fußstapfen erst ausfüllen. Das wäre immerhin eine Chance für die versierte Europapolitikerin Merkel.

Wenn Merkel tatsächlich am 1. Dezember die Nachfolge von Tusk antritt, müsste sie sich auch nicht vom Europäischen Parlament bestätigten, denn sie könnte sich von den Staats- und Regierungschefs wählen lassen. Für ihre Wahl wäre eine qualifizierte Mehrheit ausreichend, Gegenstimmen aus Italien, Ungarn, Österreich, Polen, Tschechien und Estland nicht hinreichend.

Die schwarzen Schafe der EU

 

Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Das muss die EVP mit der Fidesz-Partei leidlich erfahren. Doch auch die Sozialisten haben genug Probleme in den eigenen Reihen. Nur im Unterschied zur EVP werden die schwarzen Schafe bei der SPE nicht suspendiert. Am 26. Mai wird in Europa gewählt, da lohnt sich ein Blick auf die Parteienlandschaft und die “lupenreinen” Demokratien in der EU.

© Foto: Stefan Groß

Viktor Orbán und die Europäischen Volkspartei

Viktor Orbán ist so etwas wie eine personifizierte No-Go-Area. Ungarns Regent gilt als eigenwillig, restriktiv – ein Hardliner durch und durch. Doch so sehr sein Eigenwille im Westen Europas geschmäht, sein Name unbeirrbar mit der Legitimation einer „illiberalen Demokratie“ in Verbindung gebracht und er immer wieder als nicht lupenreiner Demokrat mit weißer Weste markiert in die Putinecke gestellt wird – die Ungarn lieben ihn.

Auch die CSU liebte ihn einst, vergötterte ihn nach der Flüchtlingskrise buchstäblich und huldigte Orbán wie einen Messias. Doch in der neuen Führungsriege ist für den Chef der Fidesz-Partei kein Platz. Und im Lager der konservativen Europagruppe auch nicht, denn in den Reihen der Europäischen Volkspartei (EVP) hat Orbán schlechte Karten. In Brüssel und Straßburg sieht man den Löwen aus Ungarn, der nur zu gern die Revolte gegen den europäischen Einheitsbrei probt, unbeirrbar auf Nationalkurs fährt und den Aufstand gegen Georges Soros als persönliches Anti-Thema immer wieder inszeniert, am liebsten von hinten oder gar nicht. Und in der Tat geht Orbán immer auf Konfrontation und zerschlägt das Porzellan der Brüsseler Bürokratie. Die hatte zuletzt die Reißleine gezogen und den Aufwiegler samt seiner Partei im Europaparlament erst einmal suspendiert. Doch Orbán, im eigenen Land wie ein Nationalheld gefeiert, gerade weil er Volk, Vaterland, Nation und das Christentum verteidigt, zündelt weiter. Ungarn bleibt, von den Visegrád-Gruppe abgesehen, die im Orchester der Europäischen Union immer wieder für Misstöne sorgen und das Gesamtkunstwerk mit Disharmonie anstatt mit durchgepeitschter Harmonie erfüllen, das Stiefkind des europäischen Einigungsprozesses – zumindest auf der schwarzen Liste der EVP-Fraktion. Doch wer nun glaubt, dass die konservative EVP die einzige ist, die schwarze Schafe in ihrem Bündnis trägt, der irrt.

Denn ganz so lupenrein geht es weder bei der SPD noch der FDP – zumindest in Europa – zu. Unter den 750 Parlamentariern, die zur „Freude“ der Steuerzahler zwei Parlamente, eins in Straßburg, eins in Brüssel, mit hohem Kostenaufwand bespielen, finden sich in den Reihen der europäischen SPE-Fraktion gleich mehrere schwarze Schafe. Den Vorwurf, nichtdemokratische, antiliberale Elemente innerhalb der Parteienfamilie mitzuführen, muss sich somit auch die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) gefallen lassen. Auch wenn man dies in den Reihen von Ex-Präsident Martin Schulz ungern hört. Auch hier ist es wieder der Ostblock, der immer wieder für Schlagzeilen mit seinen unartigen Kindern wie Rumänien, Bulgarien und der Slowakei sorgt.

Die rumänische Regierungspartei „Partidul Social Demokrat“

In der Top-Liste der Illiberalität kommt der rumänischen Regierungspartei „Partidul Social Demokrat“ (Sozialdemokratische Partei, PSD) ein prädestinierter Platz zu. Die PSD unter Parteichef Liviu Dragnea trieft vor Korruption, plündert das Land aus und schaufelt sich das Geld in die eigenen Taschen. Federführend beim korrupten Poker um die Macht ist Parlamentspräsident Dragnea höchst selber. Selbst wegen Wahlfälschung 2016 mehrfach angeklagt, scheint er die Inkarnationen des Bösen in Personalunion. Nicht nur mit seiner Cliquenwirtschaft schadet er dem ohnehin armen Land, sondern mit seinem Versuch, die unabhängige Justiz für sich zu vereinnahmen, gerät er immer wieder in die Schlagzeilen. Auch der kritische Journalismus kann in Rumänien keinen Frühling feiern, die Presse wird drangsaliert und erlebt Repressalien. So verwundert es kaum, dass der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission in Sachen unabhängiger Justiz und Rechtsstaat entsprechend miserabel ausfiel – zumal das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung Liviu Dragnea Unterschlagung von EU-Mitteln vorwirft.

Die bulgarische „Bulgarska Sotsialisticheska Partiya

Nicht besser steht es um die bulgarische „Bulgarska Sotsialisticheska Partiya“ (Bulgarische Sozialistische Partei, BSP) um Sergej Stanischew. Der ehemalige Ministerpräsident und derzeitige Vorsitzende der SPD, als Kind eines hohen kommunistischen Parteifunktionärs in der Sowjetunion geboren, ist in Sachen Korruption kein unbeschriebenes Blatt. Zahlreiche Korruptionsfälle unter seiner Ägide hatten kurz nach dem Beitritt der Bulgaren dazu geführt, dass die EU dem Land die EU-Mittel gestrichen wurden. Doch damit nicht genug: Sergej Stanischew ist tief in mafiöse und illegale Geschäfte verwickelt und versucht gar Mafiastrukturen innerhalb des Inlandgeheimdienstes zu installieren. Doch Bulgariens Verbindungen in die kriminelle Unterwelt gehören bis heute zu den – auch von Seiten der deutschen SPD – nicht kritisierten Machenschaften.

Die slowakische Smer

Auch die slowakische Smer gehört nicht unbedingt in den Kanon dessen, was man unter einer demokratischen Partei versteht. Vor 10 Jahren wurde sie aufgrund ideologischen Abweichlertums aus der SPE ausgeschlossen – der Grund damals – eine Koalition mit den Rechtsextremen. 2018 kam die Partei des Gründers und ehemaligen Ministerpräsident Robert Fico wieder ins Gerede. Nach der Ermordung des Investigativ-Journalisten Ján Kuciak führte die Spur obskurer Hintermänner bis in die Regierungsebene hinein.

In Sachen Einwanderung fährt Smer, ähnlich wie Fidesz, auf einem antieuropäischen Kurs. In der Slowakei ist die Angst vor den Muslimen riesengroß, da man sie überhaupt nicht für integrationsfällig hält. Nach den Terroranschlägen in Paris forderte Fico sogar, jeden einzelnen Muslim im Land überwachen zu lassen. Die Smer, die mal links- mal nationalistisch politisch auf Kurs ist, schürt selbst immer wieder die Angst vor Überfremdung in das Sozialsystem, warnt vor Parallelgesellschaften und lehnt die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen als Einwanderern ab. Und dies ganz getreu der Maxime: Ohne muslimische Zuwanderung wären Köln und Paris nie geschehen.

Kurzum: Nicht nur die EVP hat schwarze Schafe in den eigenen Reihen, die in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einiges zu wünschen übrig lassen. Ach die SPE kann sich daher nicht weit hinauslehnen, wenn man bedenkt, wer in ihren Reihen politisch am Ruder ist.

Wir müssen in die Digitalisierung investieren

Die Digitalisierun ist eine große Herausforderung, sagt der Geschäftsführer Geschäftskunden Telekom Deutschland, Hagen Rickmann, im Gespräch mit dem The European. „Wir müssen aufhören, nur über die Risiken zu diskutieren. Sonst schaffen andere Fakten. Die deutsche und europäische Wirtschaft hat alle Trümpfe in der Hand, so Rickmann.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Digitalisierung für Unternehmen, gerade für die Telekom?

Die digitale Transformation ist eine große Herausforderung. Für jedes Unternehmen, auch für die Telekom. Für mich ist entscheidend:, dass der Chef sich darum kümmert. Ich komme aus dem Norden, der Kapitän muss steuern, die Richtung vorgeben. Dann weiß die Crew, was zu tun ist. Ich kann nur empfehlen, sich erreichbare Ziele zu stecken. Sich in Etappen, in Schritten dem großen Ziel zu nähern. Ausprobieren, Fehler machen, gegensteuern. Bis die Einzelteile langsam ein Bild ergeben. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht. Fehler zulassen ist für die wenigsten Unternehmen selbstverständlich. Wenn die Unternehmenskultur dafür nicht offen ist, nutzt der beste Plan nichts. Das gilt für die Telekom wie für ein Kleinunternehmen. Zuerst geht es darum, Angst zu nehmen. Wer Fehler zulässt, schafft das notwendige Vertrauen. Das ist die Basis. Natürlich muss ein Unternehmen auch die erforderliche Kompetenz aufbauen. Gelingt es darüber hinaus, eine 360-Grad-Sicht auf den Kunden zu bekommen, dem Kunden das richtige Erlebnis zu vermitteln, stehen die Chancen auf Erfolg gut. Nachhaltigkeit gibt es nur, wenn man immer wieder die Perspektive wechselt, hinterfragt, Dinge neu denkt.

Nun reden alle von Digitalisierung, aber gerade im ländlichen Raum ist Deutschland, was Geschwindigkeit und Verfügbarkeit betrifft, kein Vorzeigeland. Einige Länder in Afrika und in Osteuropa sind in Sachen Internet Deutschland weit voraus! Was machen wir falsch?

Solche Vergleiche genieße ich mit Vorsicht. Land ist nicht gleich Land. Deutschland steht so schlecht nicht da. Aber es stimmt, flächendeckender Breitbandausbau ist eine Herausforderung. Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Für den notwendigen Tiefbau setzen wir schon Mensch und Material aus dem Ausland ein, weil die Kapazitäten hierzulande erschöpft sind. Jedes Jahr investiert die Telekom fünf Milliarden Euro. Davon fließt der Löwenanteil in den Breitbandausbau. Im Festnetz bauen wir das bestehende Glasfasernetz von über 500.000 Kilometer 2019 um weitere rund 60.000 Kilometer aus. Und nicht nur in Großstädten und Ballungsgebieten, sondern auch auf dem Land. Wir wollen 3.000 Gewerbegebiete mit Glasfaser versorgen. Das sind dann bis zu 80 Prozent der Unternehmensstandorte in den Gewerbegebieten mit ca. 400.000 Unternehmen und mit Millionen Arbeitnehmern.

Und was erwarten Sie sich von 5G? 

5G ist nicht einfach ein weiteres Netz. Unternehmen brauchen 5G für die Wertschöpfung ihrer Produkte. Wir brauchen 5G für das Internet der Dinge, die Steuerung von autonomen Maschinen oder Smart Cities. 5G wird extrem hohe Datenraten ermöglichen. Damit können Unternehmen zum Beispiel hochauflösende Bilder von Anlagen und Geräten ihren Wartungstechnikern vor Ort bereitstellen – auch wenn sich viele weitere Nutzer das Netz teilen. Was für die Industrie besonders wichtig ist, sind die verlässlich geringen Latenzzeiten von 5G. Also die Reaktion des Netzes quasi in Echtzeit. Diese Eigenschaften sind für künftige Schlüsseltechnologien nötig – etwa für Industrie 4.0, autonomes Fahren und virtuelle Realitäten. Ein aktuelles Beispiel auf dem Weg dahin ist das Campus-Netz von Osram. Der Kunde baut mit uns ein eigenes Netz auf seinem Werksgelände in Schwabmünden auf. Im gemeinsamen Projekt kombinieren wir ein öffentliches und ein privates LTE-Netzwerk zu einer gemeinsamen Infrastruktur. Dies garantiert eine optimale Versorgung mit Mobilfunk nach außen und innen. Das private LTE-Netz nutzt OSRAM für sich allein. Künstliche Intelligenz ergänzt das Campus-Netz. Um Material verzögerungsfrei in die oder und aus der Produktion zu transportieren, nutzt OSRAM fahrerlose Transportsysteme. Bisher mussten Mitarbeiter dafür durch eine Schleuse mit zusätzlicher Quarantäne. In der dafür notwendigen Zeit ist der Roboter schon wieder auf dem Rückweg. Sobald 5G zur Verfügung steht, wird es noch interessanter, weil noch schneller.

Warum tut sich der Mittelstand mit der Digitalisierung zu schwer? Und warum setzen Sie gerade auf den Mittelstand als künftigen Motor der Digitalisierung? 

Studien von Bitkom kommen da zu einem ganz anderen Ergebnis: 78 Prozent der mittelständischen Unternehmen verfolgen bereits eine konkrete Digitalisierungsstrategie. Sie haben die Investitionen für digitale Lösungen deutlich gesteigert. Der Mittelstand digitalisiert also. Er ist für Deutschland und für uns so wichtig, da der Mittelstand 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Mittelstand erwirtschaftet. Deshalb heißt es auch: Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.

Sie sprechen im Zusammenhang von Digitalisierung auch davon, dass wir die Wertediskussion mit beachten müssen. Aber wie vertragen sich Werte mit Wirtschaft?

Wir als Deutsche Telekom sind einer der Treiber in der Digitalisierung. Wir wollen für unsere Kunden der beste Partner sein. Deshalb übernehmen wir auch digitale Verantwortung. Alle Facetten haben wir heute dazu noch gar nicht umrissen und haben daher noch keine abschließende Antwort. Es kann zum Beispiel die Verantwortung für den vertraulichen Umgang mit den Daten der Kunden sein. Oder wie wir mit künstlicher Intelligenz umgehen wollen. Die Telekom ist das erste Unternehmen im DAX mit ethischen Grundsätzen für KI. Nach diesen Grundsätzen wollen wir unsere Produkte und Services auf Basis von künstlicher Intelligenz künftig entwickeln. Das schafft Transparenz und damit Vertrauen.

Sie sprechen von digitaler Kultur, was ist darunter zu verstehen? Wie kann man den Menschen die Angst vor dem Digitalen nehmen? Schafft die Digitalisierung nicht den Menschen ab?

Digitale Lösungen ersetzen nicht nur Arbeitsplätze, sie schaffen auch neue. So war es in der industriellen Revolution mit der Dampfmaschine und der Elektrizität. Und so verhält es sich auch in der heutigen digitalen Revolution. Natürlich lassen sich einzelne Tätigkeiten in Berufen automatisieren, aber eben nicht alle. Menschliche Fähigkeiten können Maschinen nicht so einfach übernehmen. Die Mitarbeiter der Zukunft müssen flexibel, lernbereit und vor allem sehr gut qualifiziert sein. Sie werden nicht konkurrieren, wo Maschinen besser sind. Aber es gibt Bereiche, da können Maschinen nur schwer konkurrieren. So setzen wir Künstliche Intelligenz schon im Kundenservice ein, stoßen bei Empathie aber immer wieder an Grenzen. Unsere Kunden ziehen den Menschen hier der Maschine vor. Unternehmen nehmen den Mitarbeitern die Angst vor Technik, wenn sie aufzeigen, wo die Reise hingeht, wie sie aussieht und wie der oder die Einzelne auf die Reise mitgenommen wird. Und genau dieses „Skill Management“ haben wir fest in unserer Unternehmensstrategie verankert.

In Ihren Vorträgen fällt oft der Name des österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter. Welche Bedeutung hat sein Denken für die Digitalisierung? Was verstehen Sie hier unter schöpferischer Zerstörung?

Sehr vereinfacht dargestellt, ist für Schumpeter Innovationskraft immer Auslöser einer kreativen Zerstörung. Das bedeutet, etwas Altes, Bestehendes muss weichen, um etwas Neuen Platz zu machen. Wir haben das in vielen Teilen unseres Lebens schon gesehen: von der Schallplatte über Kassetten und CD zur Playlist auf dem Handy. Oder bei Netflix: Das Unternehmen startete vor 20 Jahren als Videothek und verschickte seine damals 925 Filme per Post. Heute ist es der weltweit führende Streaming-Dienst. Digitalisierung macht aus etwas Gegenständlichen Software. So entstehen völlig neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten. Oft werden dabei die anfallenden Daten wertvoller als das eigentliche Produkt. Das Betriebssystem Android gibt’s kostenlos. Geld erwirtschaftet Google mit Werbung und den anfallenden Daten. Nur noch wenige wollen Rechnung am Bankschalter bezahlen. Deshalb gibt es weniger Filialen, dafür mehr Beratung per Telefon oder Internet.

Sie haben gesagt: „Wer sich nicht um die Digitalisierung kümmert, kommt morgen gar nicht mehr vor“. Was haben wir darunter zu verstehen?

Das klingt sehr hart, das habe ich aber durchaus so gemeint. Wer nicht digitalisiert, ist weg vom Fenster. Schauen Sie sich die so genannten Millennials an. Ist ein Unternehmen nicht über Website und Soziale Medien erreichbar, existiert es für diese Gruppe nicht. So verliert man sie als mögliche Bewerber- oder Käufergruppe. Und nur mit mit einem Online—Auftritt ist es nicht getan. Die Prozesse dahinter müssen durchgängig digital sein. Selbst bei so erfolgreichen Unternehmen wie Apple ist der Druck immens. Wir alle kennen die Erfolgsgeschichte des iPhones und die damit verbundene digitale Revolution in fast allen Lebensbereichen. Aber ausruhen, kann sich auch Apple nicht. Es gilt für die großen wie die kleinen Unternehmen: Wer sich nicht immer wieder neu erfindet, verschwindet.

Welche Rolle spielt China beim Prozess der Digitalisierung?

Chinas Rolle ist enorm. Ein ehemals rückständiges Land überspringt durch Digitalisierung einige Entwicklungsschritte und katapultiert sich neben den USA an die Spitze der Bewegung. Die USA haben Google, Amazon und Facebook. In China heißen die Pendants Baidu, Alibaba und Tencent. Die Nutzerbasis der chinesischen Anbieter ist im eigenen Land um ein Vielfaches höher, als das ihrer Pendants in den USA. Allein durch die schiere Größe der Bevölkerung. Im Sommer 2017 stellte die chinesische Regierung ein Programm für Künstliche Intelligenz vor. Um für genügend Fachkräfte zu sorgen, steht ein Jahr danach in einigen Schulen KI auf dem Stundenplan. Das Land pumpt unglaubliche Summen in die Digitalisierung. Das befeuert die digitale Transformation in einer Weise, von der wir hier nur träumen können.

Immer wieder ist Amerika Vorreiter bei der Digitalisierung, Europa und Deutschland scheinen hier einen Trend verpasst zu haben! Können wir, und wie, noch aufschließen?

Im Privatkundengeschäft haben die USA Europa abgehängt. Unsere Chance – und damit meine ich Europa und Deutschland – ist die Digitalisierung der Industrie. Da können wir noch etwas bewegen. Im industriellen Umfeld stellt Deutschland viele Weltmarktführer, viele so genannte „hidden champions“. Und viele von denen gehen das Thema Digitalisierung – teils von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt – auch beherzt an. Die USA dominieren im Konsumentengeschäft. Ihnen helfen ihr Optimismus und Fortschrittsglaube. China setzt digitale Ökonomie autokratisch durch – ohne lange zu fackeln. Europa und Deutschland haben die besten Chancen im industriellen Umfeld. Gerade beim Business-to-Business sehe ich noch viel Potenzial. Hier gibt es große Wachstumsraten im Markt: bei IT und Cloud von rund 20 Prozent bis 2022. Oder beim Internet der Dinge mit bis zu 23 Prozent in den nächsten vier Jahren. Und natürlich auch die Chancen, die sich für Unternehmen aus 5G ergeben.

Kurzum: Digitalisierung – Chance oder Risiko?

Eindeutig Chance. Wir müssen aufhören, nur über die Risiken zu diskutieren. Sonst schaffen andere Fakten. Die deutsche und europäische Wirtschaft hat alle Trümpfe in der Hand. Wir haben eine starke Industrie, viele Weltmarktführer im Mittelstand. Und genau hier findet die zweite Hälfte der Digitalisierung statt. Ich bin sehr optimistisch, dass Europa und Deutschland ihre Stärken nutzen werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch

Fragen: Stefan Groß

In der Großen Koalition setzt die SPD entscheidende Impulse

The European traf die bekannte SPD-Politikerin und Prefessorin Gesine Schwan zum Interview und sprach mit ihr über den Brexit, die Zukunft der SPD, über die AfD und das Phänomen Greta Thunberg.

Frau Prof. Schwan: Was halten Sie vom britischen Durcheinander und was wünschen Sie sich perspektivisch für die Briten?

Das ist zu allererst natürlich eine große Herausforderung für Großbritannien selbst, aber auch für die Europäische Union und es zeigt wie verantwortungslose Politik, und zwar auf der Seite der Konservativen Partei, seit Jahren sowohl in materieller als auch geistiger Hinsicht wahnsinnige Schäden anrichten kann, die dem kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft schaden. Die Labor Party handelt nicht entschieden und konstruktiv genug, weil ihre Haltung gegenüber der EU ja etwas ambivalent ist. Das kann man alles argumentativ nachvollziehen. Aber insgesamt hat dieses Durcheinander schon sehr hohe psychische und materielle Kosten verursacht. Perspektivisch wünsche ich mir eine bessere Verständigung innerhalb der britischen Gesellschaft. Vielleicht ist ein neues Referendum nötg.

Laut Umfrage hat bei der Europawahl schwarz-grün derzeit die Nase vorn? Was erwarten Sie für den 26. Mai für ein Ergebnis?

So lange vor der Wahl kann man das nicht genau sagen. Manfred Weber hat sicher sehr viel Erfahrung, nicht nur im politischen Diskurs sondern auch in Europa. Allerdings glaube ich, dass die Union gegenwärtig eine sehr auf eigene z.T. parteitaktische Interessen verengte Europapolitik vertritt, die ich nicht für gut heiße, sondern dass diese Europapolitik sowohl innerhalb Europa die Gräben zwischen Nord und Süd und Ost und West vertiefen würde, also auch insgesamt die Zerrissenheit.

In drei Bundesländern im Osten wird gewählt, die AfD hat gute Chancen, hier wieder Punkte zu sammeln. Was bedeutet das für die Demokratie?

Eine große Herausforderung; aber das Problem ist weniger die AFD selbst, sondern die Versuchung der Demokraten und auch der Pro-Europäischen Parteien, sich im Diskurs, in den Redewendungen und bei den Themen an die AfD anzupassen, anstatt die Ursachen für die Empfänglichkeit ihrer Unterstützer anzugehen, die ich stärker im sozioökonomischen Bereich als im kulturellen sehe.

Die SPD verliert – im Gegensatz zu den vergangenen Jahren in der Wählergunst –, obwohl sie für ein neues Rentenkonzept und für eine gerechtere Gesellschaft eintritt. Was läuft derzeit schief in der Partei. Warum kommt sie nicht aus dem Umfragetief und warum sind die Grünen derart im Aufwind?

Erstens ist die SPD im Aufwärtstrend. Sie war bei 15%, und ist jetzt bei 17%. Das ist immer noch sehr wenig, aber von Abwärtstrend kann man da nicht sprechen. Und zu diesem Aufwärtstrend hat unter anderem das Rentenkonzept beigetragen. Aber die SPD steht vor der großen Herausforderung, weil ihre Anhänger und Unterstützer eben auch durch ihre frühere Politik benachteiligt worden sind. Die Grünen profitieren einmal von dem sehr kommunikationsfähigen Spitzenduo. Frau Baerbock und Herrn Habeck. Außerdem profitieren sie davon, dass der aktuelle eher konservativ rechte Kurs, den Frau Kramp Karrenbauer aus innerparteilichen Gründen eingeschlagen hat, liberale Christdemokraten eher zu den Grünen bringt. Und die müssen aktuell auch ihre Vorschläge nicht unter Beweis stellen in Bundesregierungsverantwortung. Aber sie stehen für etwas, das die Menschen interessiert, sie wollen den Klimawandel verhindern. Die Herausforderung der SPD sehe ich darin, dass sie nicht nur die Umweltnachhaltigkeit angehen muss, sondern auch die soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit. Und das ist bei den Wählern der Grünen nicht sehr von Bedeutung. Deren Wähler sind nicht Arbeitnehmer*innen, sondern Wähler aus dem bürgerlichen Lager, und da spielen die konkreten Arbeitsplatzprobleme, die durch den Wirtschaftsstrukturwandel natürlich hervorgerufen wurden, auch wenn sich das statistisch wieder ausgleicht, keine so große Rolle. Insofern sind da die Grünen aktuell taktisch und strategisch im Vorteil. Sie haben zudem eine intelligente Spitze.

Die SPD vertritt die Interessen der „kleinen“ Bürger: Warum sind Sie gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Weil dieses bedingungslose Grundeinkommen diverse Probleme aufwirft. Dass alle Menschen ein gleiches Recht und gleiche konkrete Chancen auf ein Leben in Würde und Freiheit führen, kann das Grundeinkommen gar nicht gewährleisten. Die Probleme, die diese Inklusion verhindern sind sehr vielfältig. Das sind Gesundheitsfragen, das sind psychologische Fragen, das sind materielle Fragen. Die sind aber nicht einfach alle mit einem Pfund Geld zu überwinden. Und es ist auch nicht zufällig, dass die Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens gut ausgebildete Leute sind, die wenig Geld verdienen. Die stellen sich dann vor, mit diesem Grundeinkommen einfach ihren Interessen nachugehen zu können. Das bedenkt aber nicht die vielfältigen die Probleme und die Herausforderungen, die ein gut ausgebauter Sozialstaat bedienen muss. Dazu gehört Kompetenz von Verwaltung, dazu gehört Hilfsfähigkeit auf den verschiedensten Gebieten, das kann nicht einfach mit Geld abgegolten werden.

Die Große Koalition regiert seit einem Jahr, wie beurteilen Sie den Output?

Ich finde, dass sie eine ganze Menge geschafft hat. Die Große Koalition steht unter sehr kritischer Beobachtung. Vieles, was im Koalitionsvertrag abgearbeitet wurde geht auf Vorschläge aus der SPD zurück. Hier wurde viel geleistet, die einzelnen Sozialmaßnahmen sind enorm. Wenn die SPD jetzt nicht in der Regierungsverantwortung wäre, würden alle diese Dinge wegfallen . Der SPD gelingt es, eine gute Balance herzustellen, dergestalt, dass sie eine verlässliche Regierungspartei ist und dennoch das eigene Profil zeigt und die Ziele deutlich werden, die sie über die Koalition hinaus vertritt. Insofern bin ich da jetzt nicht grundsätzlich kritisch. Wenn man mal schaut, was die Union inhaltlich in diese Koalition einbringt, dann liegt der Akzent insbesondere beim Innensenator beim Abschieben von Flüchtlingen, also bei der Exklusion. Frau Kramp Karrenbauer betont eine lückenlose Sicherung der europäischen Außengrenzen, wie man das durch ein Mittelmeer hindurchmachen kann, weiß ich nicht. Im übrigen, sterben davor in der Sahara mehr Menschen als im Mittelmeer. Das ist also alles ein sehr inhumanes Verhalten gegenüber den Migranten. .

In vielen Ihrer Publikationen steht das Thema „Demokratie“ im Mittelpunkt? Sie organisieren einen Trialog in Berlin für Demokratie unter dem Motto: Wer trägt Verantwortung für die Demokratie?“ Was läuft denn ihrer Meinung nach falsch in der Demokratie?

Die Demokratie wie wir sie kennen, ist nationalstaatlich orientiert als repräsentative Demokratie und ich finde, dass das auch nach wie vor der richtige Ansatz ist. Aber, zum einen deckt sich die Reichweite der nationalstaatlichen Politik schon geographisch und bereichsmäßig nicht mehr mit den Herausforderungen, die wir durch Politik bestehen müssen. Die Menschen merken das auch, werfen das aber einfach der nationalstaatlichen Politik als Versagen vor. Aber diese kann weder di Steuerpolitik noch Klimapolitik national gestalten, noch kann sie Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik für sich allein machen. Das sind alles Aufgaben, die vor 40 / 50 Jahren vom Nationalstaat angegangen werden konnten, aber das geht heute nicht mehr. Die Menschen merken das und sind mit den Lösungen nicht mehr zufrieden. Außerdem haben sich überall in den Gesellschaften der letzten 30, 35 Jahre die Gegensätze angehäuft – und das ist eben auch nicht von der repräsentativen Demokratie, die wir jetzt haben, zu bewältigen. Ich glaube aber nicht, dass sie abgeschafft werden soll, ich glaube auch nicht, dass sie dauernd durch Volksentscheide ergänzt werden soll, weil das auch sehr problematische Folgen haben kann . Ich meine aber, dass sie durch sehr viel mehr Partizipation der Menschen ergänzt, gestützt und untermauert werden muss. Ich plädiere dafür, dass vor allem auf der kommunalen Ebene allgemein Beiräte oder beratende Räte gebildet werden, die sich zusammensetzen aus den Bürgermeistern und der Verwaltung zum einen, dann aus den Unternehmensvertretern und Unternehmen, der organisierten Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Kirchen Bürgerinitaitiven) und schließlich wenn möglich von Wissenschaftlern, die die Entwicklungen des der Gemeinde und des Lebensumfelds gemeinsam beraten und mitgestalten. Damit wächst auch die Chance, dass Bürgerinnen und Bürger mehr von ihren Interessen und Kompetenzen einbringen können, was schließlich dazu führt, das durch diese Identifizierung das Interesse an demokratischen Prozessen wieder gestärkt wird. Wer sich engagiert, der wählt auch, und der ist nicht so negativ wie Jemand, der aus verschiedenen Gründen sowieso nichts mehr mit der Politik zu tun haben will. Darum sollte die repräsentative Demokratie ergänzt werden – und zwar beherzt und zielstrebig. Und dafür besteht noch nicht genügend Bereitschaft bei den sich nationalstaatlich orientierenden Parteien. Auch Bürgermeister sind vielleicht nicht immer begeistert, wenn sie meinen, da kommt noch ein Beirat. Ich glaube aber, die Bürger müssen mehr handfeste mitgestaltende Möglichkeiten bekommen.

Was sagen Sie als langjährige Professorin und Universitätsrektorin zu den „Fridays for Future“. Schulschwänzen für den Klimawandel?

Schulschwänzen ist prinzipiell nicht in Ordnung. Es ist aber kein Verbrechen, sondern eine Ordnungswidrigkeit und sozusagen auch eine Art von zivilem Ungehorsam. Aber auf Dauer kann das einfach nicht zur Regel werden. Auf der anderen Seite ist es dringend notwendig, dass ein Bewusstseinswandel in Bezug auf die Dringlichkeit der Bedrohung durch den Klimawandel erfolgt, und wenn das jetzt erstmal ein Ansporn ist, dass Politik da noch entschiedener arbeitet, zum Beispiel in der Bundesregierung mit dem Klimakabinett, dann ist das gut. Ich denke auf längere Sicht wird man einen Weg finden müssen, dass nicht jeder Freitag der Schulunterricht ausfällt, weil das einfach nicht machbar ist, wenn man die Aufgaben der Schule auch bedenkt.

Frau Professor Schwan, Sie sind Philosophin, aber derzeit hat man eher den Verdacht, dass die Philosophie als Leitdisziplin den Diskursen hinterherhinkt. Hat die Philosophie ausgedient?

Nein. Aber ich glaube, dass die Philosophie zu wenig, außer bei einigen, die sie im öffentlichen Geschäft und in den Medien verankert haben, im öffentlichen Bewusstsein ist. Im Gegenteil: Alles das, was die Reflexion von Grundsätzen, nach den wir handeln und leben, verstärkt, und zwar nicht nur durch irgendwelche Vorträge von oben, sondern durch Diskussion, durch Erörterung, ist notwendig und findet übrigens auch zunehmend in der Gesellschaft wieder Interesse und Zuspruch. Bei der sehr klassischen Frage nach dem Sinn des Lebens, der eben durch Geld und Macht nicht befriedigt wird, sehen wir das. Darüber hinaus wäre es wichtig, dass auch in den Schulcurricula Philosophie eine noch sehr viel größere Rolle spielt, aber auch in den Universitätscurricula zum Beispiel in der Politikwissenschaft, wo die politische Ideen-Geschichte und Philosophie in den letzten Jahrzehnten sehr zurückgedrängt worden ist zugunsten empirischer Forschung, die ich nicht abwerten möchte, die aber letztlich keine Orientierung bietet. Was uns fehlt, ist eine eigenverantwortliche, manchmal auch von anderen Menschen aufgenommene, reflektierte Orientierung für das Individuelle und auch für das gemeinsame Handeln. Und das ist das Terrain der Philosophie und auch zumTeil der Theologie.

Fragen: Stefan Groß

Die Volksparteien werden eine andere Rolle als bislang spielen – Interview mit Ursula Münch

Die Volksparteien werden in Zukunft keine so große Rolle mehr spielen, sagt die Direktorin der politischen Akademie Tutzing im Gespräch mit “The European”.

Gibt es denn die Volksparteien noch in 20 Jahren?

Ursula Münch: Das ist natürlich eine ganz zentrale Frage. In der Politikwissenschaft gehen wir davon aus, dass es die Volkspartei weiterhin geben wird. Volkspartei bedeutet ja nicht, dass alle jetzt nur noch diese Parteien wählen, Volkspartei meint vielmehr, dass der Anspruch einer Partei besteht, das gesamte Volk anzusprechen und nicht nur einzelne Klientelgruppen. Die Grünen werden sich jenseits der Großstädte meines Erachtens auch in Zukunft schwer tun, sich als Volkspartei zu etablieren. Die AFD würde zu gern eine werden, müsste sich dazu aber von ihren extremen Mitgliedern und Funktionären trennen. Die Volksparteien der Zukunft werden wohl keine Volksparteien wie in den 1960ern oder 1970er Jahren im Westen der Republik mit einem Stimmenanteil von gemeinsam mehr als 90 % der Stimmberechtigten mehr sein. Damit werden wir uns abfinden müssen. Wer es als Wähler für sinnvoll hält, kleine Parteien zu wählen, was jedem natürlich unbenommen ist, der darf sich aber hinterher nicht wundern, wenn die Regierungsbildung schwierig wird. Und wenn man sich dafür entscheidet, lieber die kleineren Parteien zu wählen, muss man in Kauf nehmen, dass bald nur noch Dreier- oder Vierer-Koalitionen möglich sein werden und man damit zwangsläufig Abstriche mit Blick auf die Effizienz des Regierens machen muss.

Werden in unserer Gesellschaft mehr politische Bewegungen à la Macron oder Sahra Wagenknechts „Aufstehen“ eine große Rolle spielen?

Ursula Münch: Also ehrlich gesagt ich sehe das in unserem Parteiensystem nicht, weil wir nach wie vor diese ganz starke Orientierung haben, dass man eben als Partei bei einer Wahl antritt und dass man, wenn man mehrfach bei einer Wahl antritt, automatisch eine Partei ist. Also fast automatisch, egal ob man sich jetzt Bewegung nennt oder nicht. Dieser Bewegungsgedanke ist der Versuch, ein bisschen neuen Wind rein zu bringen und es geht natürlich um eine ganz starke Personalisierung. Diesen Fokus auf die Person wird es in Zukunft immer mehr geben. Das beobachten wir ja auch bei den Grünen. Man braucht Spitzenpersonal, das den Leuten interessant erscheint.

Welche Rolle spielt die Akademie für Politische Bildung in Tutzing für den politischen Diskurs? Was sind für Schwerpunkte in der Akademie?

Ursula Münch: Wir spiegeln alle Themen, die gesellschaftlich relevant sind. Und das machen wir nach dem Akademiegesetz autonom, überparteilich und unabhängig. Der freie Diskurs ist uns bei allen Veranstaltungen wichtig. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Breite des Gespräches bzw. der Gesprächsteilnehmer, denn wir wollen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die sonst nicht unbedingt miteinander reden, miteinander verknüpfen. Inhaltlich legen wir Schwerpunkte beispielsweise auf die Entwicklung des Parteiensystems, die Entwicklung der europäischen Integration in den extremen Spannungsverhältnissen von Pro-Europäern, die mehr europäische Integration wollen und von denjenigen die sagen, wir wollen lieber weniger europäische Integration und mehr Nationalstaat. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der digitalen Kommunikation auf die Meinungsbildung und analysieren natürlich auch die Gefahren, die sich daraus ergeben können, dass sich das Informationsverhalten von Teilen der Bevölkerung dramatisch verändert hat. Aber der Blick richtet sich auch und immer wieder auf die internationalen Akteure wie die USA, Russland und die Volksrepublik China. Wie also wirken sich politische Veränderungen bei den Global Playern auf die bundesdeutsche Wirtschaft aus, wie beeinflusst Trump die Politik und die Gesellschaft in Europa und insbesondere in Deutschland? Die Akademie will aufklären – und zwar dezidiert im Interesse der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie, denn für diese lohnt es sich zu kämpfen. Demokratie ist mit Sicherheit anstrengender als Populismus und die Freiheit der Meinungsäußerung ein wichtiges Grundrecht. Dass die Bürger diese Freiheit innerhalb des öffentlichen Diskurses wahrnehmen können, dazu versuchen wird als Akademie einen gewissen Beitrag zu leisten.

Warum jetzt Muttis Pornos drehen

Die Engländer sind schon skurril. Für den Sender Channel 4 wurden Mütter zu Pornoregisseurinnen. Das ambitionierte Ziel dahinter: Sie wollten Pornos mit realistischem Anspruch drehen, um die Kids zu sensibilisieren.

Willkommen im Zeitalter des Exhibitionismus. Die mediale Entblößung des Körpers feiert Konjunktur. Was einst die Scham wohlbehütet verbarg, tritt immer mehr in den öffentlichen Raum. Porno ist auf dem Vormarsch, ja Porno, YouPorn, ist überall. Man genießt es wie Leitungswasser samt Häppchen auf der Bettcouch, mehr noch: man lädt die Welt zum interaktiven Sex ins Wohnzimmer mit ein.
Die sexuelle Freizügigkeit scheint heute zumindest jedes wohlgebotene Maß verschoben zu haben und die neue Triebkultur mit Öffentlichkeitspostulat feiert nicht nur bei Tinder und anderen Datingapps den schnellen und anonymen Sex als Fetisch der neuen Körperlichkeit und unkonventioneller Freiheit.

Die neue Porno-Kultur: Warum Mütter wieder Pornos drehen: Mum makes Porn

Anders als in Zeiten der Aufklärung hat der Trieb, die ungehemmte Sinnlichkeit und Lust, die Immanuel Kant als unteres und damit nicht zuträgliches „Begehrungsvermögen“ kritisierte, den Menschen, so scheint es jedenfalls, vom Kopf auf die Füße gestellt. Ja, die Ausstellung der eigenen Sexualität, des Sexualaktes an sich, gilt nicht mehr als Tabu oder heiliger Ort der Scheu und der Scham, sondern wird als neue Form des Individualismus und damit der Selbstbehauptungssehnsucht buchstäblich durchexerziert. In keiner Zeit war die Hemmschwelle der verobjektivierten Freizügigkeit größer, immer mehr Menschen wagen den Schritt vor die Kamera und geben ihre Intimität vor der breiten Masse der User preis. Und immer weniger haben ein Problem damit, sich beim Sex ungeniert in Szene zu setzen. Hauptsache die mediale Verbreitung wird garantiert. Gerade der „Amateur-Porno-Markt“ hat ausufernde Maße angenommen, weil er den ungestellten, „natürlichen Sex zelebriert und damit für die etablierte Pornoindustrie die größte Herausforderung darstellt.

30.000 Pornoclips werden pro Sekunde weltweit aufgerufen

Die Zeiten als die Pornokultur an den Rändern der Gesellschaft sich etablierte sind endgültig vorbei. Aus dunklen Kinosälen auf der Reeperbahn, obskuren Videotheken mit Schmuddelambiente, aus abendlichen Soft-Porno-Filmchen der privaten Sendeanstalten Anfang der 90er Jahre hat sich der Porno lange verabschiedet. 30.000 Pornoclips werden pro Sekunde weltweit aufgerufen und der Pornokonsum ist längst zu einer lukrativ- prosperierenden Industrie im Netz geworden, die mehr als 5 Milliarden Dollar weltweit einspielt. Dank Internet gibt es geradezu eine Pornorenaissance. Und mit bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel, der einstige Konventionen und altbackene Moralvorstellungen samt Deutungshoheit und Zeigefinger in die moralinsaure Ecke verbannt, ist der Porno zum Megaphänomen des 21. Jahrhunderts erwachsen.

Im Angesicht dessen was Kids als Pornos konsumieren ist „50 Shades of Gray“ eine Hauspostille mit mittlerem Erregungsgrad. Für viele Jugendliche ist Porno Alltagskultur, gehört dazu wie Frühstück, Schulbesuch und Zuckertüte. Die Welt ist zunehmend durchsexualisiert, der Porno Gebrauchskultur. Denn immerhin besteht ein Drittel des gesamten Internetverkehrs aus Hardcore-Pornos, die sich regelrecht wie Tsunamis ins abendliche Schlafzimmer der Kids ergießen.

„Mums Make Porn“ – Wie englische Mütter die Pornoindustrie sensibilisieren wollen

Doch damit nicht genug. Eine Gruppe von fünf britischen Müttern tritt nun couragiert gegen den Pornokonsum ihrer Kids an. Nun waren die Briten immer schon ein wenig skurril, doch das Sozialexperiment der couragierten Mütter schlug Wellen, schaffte es bis in „The Daily Telegraph“ und geistert gegenwärtig durch Großbritannien und spaltet die Briten erneut. Im Land, in dem gerade der Brexit die Massen verwirrt, die Regierung handlungs- und entscheidungsunfähig ist, werden nun britische Mütter selbst zu Pornoregisseurinnen – nicht vor, aber zumindest hinter der Kamera. Möglich wird dies durch eine mehrteilige TV-Show auf Channel 4: „Mums Make Porn“. Getreu dem Motto: „Mami weiß am besten, welcher XXX-Content für den Nachwuchs gut ist“, fühlen sich die agilen Mütter geradezu dazu berufen, dem Porno sein dreckiges Gesicht zu nehmen.

Das Ziel, das sich die in Sachen Porno sonst unerfahrenen ambitionierten Damen stellen, ist hoch. Denn es geht um nichts anderes, als Pornos mit einer positiven Botschaft zu drehen, realistisch und mit dem Anspruch die positive Einstellung zum Sex zu fördern. Doch die Feldforschung an Originalschauplätzen irritierte die Mütter zunächst, die Rallye durch die populärsten Internet-Sex-Clips von Hate- bin hin zu Rape-Porn, der Besuch am Set, wo statt Erotik strenger Körpergeruch regierte, die Delinquentinnen wie reine Sexsklavinnen devot und menschenunwürdig agierten, wurde selbst für die engagierten Engländerinnen zur emotionalen Belastungsprobe, Brechreiz und Nervenzusammenbruch inklusive. „Wenn mein Sohn eine Frau so behandeln würde, würde ich seinen Arsch aus dem Königreich treten,“ so eine der dann doch empfindsamen Mütter.

Das Fernsehen verdummt seine Zuschauer

Die Regieführung made by mum hat aber letzten Ende vor allem eins ausgelöst: Die Kommentare im Internet zeigten wenig Verständnis für die neue Sex-Propaganda geschweige denn für den moralischen Aspekt, der dahinter stehen sollte. Kaum verwunderlich. Derartige Staffeln – und mögen sie auch Quote bringen – untermauern doch letztendlich eins. Das Fernsehen verdummt seine Zuschauer – und das mit jedem Mittel und jenseits des guten Geschmacks. Weder werden dadurch die Kitz von ihrer Pornomanie ablassen noch wird die positive Einstellung zum Sex einen Paradigmawechsel erleben. Was es dagegen auslöst, ist mehr Porno und die Sehnsucht nach Milfs hinter – und am besten vor der Kamera. Channel 4 ist sich mit Sicherheit keinen Gefallen getan, Milfsex Pornos werden sich dagegen freuen!